Fried, Johannes, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, 2. Aufl. Beck, München 2009. 606 S., 70 Abb. Besprochen von Gudrun Pischke. ZRG GA 129 (2012) 20

 

Inhärentes Anliegen des Verfassers ist es, das Mittelalter von dem Finsteren, das seit dem 18. Jahrhundert nachwirkend bis in die Gegenwart verunglimpfend damit verbunden wird (S. 537f.), zu befreien und dabei die in eben diesem Mittelalter begründeten Anfänge der Moderne aufzuzeigen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die heute geläufige und weltweit übernommene Jahreszählung nach Christi Geburt. Johannes Frieds Betrachtungen umfassen zeitlich ein Jahrtausend, die Zeitspanne von etwa 500 bis etwa 1500 (S. 8), und räumlich das Abendland (S. 34). Er hat Europa mit seinen nationalen Entwicklungen im Blick wie auch Einwirken und Einflüsse darauf aus Kontakten mit Juden, (Nord)Afrika, Byzanz, Arabern oder Asien (Hunnen, Mongolen, China) – und dies im Sinne einer frühen Globalisierung, die im Widerstreit stand mit den Dogmen der Kirche. Deren Papsttum ist durchgängig präsent. Sein Einfluss ist allein durch die Wahl etlicher Kapitelüberschriften (2. „Gregor der Große und die neue Macht der Franken“, 6. „Der wahre Kaiser ist der Papst“, 7. „Das lange Jahrhundert der Papstschismen“, 8. „Der Stellvertreter Gottes“; 5. „Die Endzeit rückt bedrohlich nahe“, 12. „Erwartung des Jüngsten Gerichts und Wiedergeburt“) als mittelalterlich-weltbestimmend ausgewiesen.

 

„Menschen aus Fleisch und Blut“ sollen im Mittelpunkt stehen, „nicht bloß Trends und Strukturen“ (S. 8). Die Menschen, die Johannes Fried präsentiert, gehören zu einer Elite. Es sind überwiegend Herrscher/Könige und Denker/Geistliche, kaum hingegen die Bevölkerung schlechthin und ihre sich im Laufe des Jahrtausend wandelnden Lebensbedingungen. Soziale Strukturen werden kaum tangiert, denn: „Das einfache Volk fand selten Erwähnung, nur gelegentlich, wenn es von Seuchen oder Hunger heimgesucht oder Unterdrückung und Ausbeutung zu entkommen suchte, streiften die Geschichtsschreiber auch seine Belange“ (S. 119). Ähnliches gilt für technische Errungenschaften, die statt aus Schriftquellen aus archäologischen Zeugnissen bekannt werden (zum Beispiel S. 116) und wirtschaftliche Strukturen, die angedeutet werden. Geschuldet dem Mangel an Quellen wie der striktesten, notgedrungen subjektiven Auswahl durch den Autor (s. S. 8).

 

Wesentlicher Bestandteil der Darstellung sind die grundlegenden geistigen Strömungen und Entwicklungen und nach dessen fast totalem Verlust die Wiederentdeckung – besonders der Schriften des Aristoteles –, Rezeption und Weiterentwicklung durch nationale Denker zu internationalem Wissen, die zu Neuerungen wie der Scholastik, „deren Kind der Westen war“ (S. 357), und auch in Kunst und Kultur (hier die Renaissance nicht erst als Kind der Neuzeit, s. S. 542) führten. Auch die geographischen Kenntnisse erweiterten sich und fanden ihren Niederschlag in der Kartografie, wie es einige der 70 Abbildungen zeigen. Zwischen den letzten Jahrzehnten des 11. und denen des 12. Jahrhunderts war Europa „buchstäblich auf die Straße“ gegangen – „nicht bloß zu Wanderpredigt, zu Wallfahrt und Kreuzzug, vielmehr zu Landflucht, Rodung, Kolonisation und Fernhandel; das Abendland sprengte seine bisherigen Grenzen“ (S. 186); im ausgehenden 13. Jahrhundert war die Erkundung der ganzen Welt im Plan (S. 400) und im 15. Jahrhundert setzte die gezielte Exploration mit der Einrichtung von Stützpunkten an den Küsten Afrikas auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien ein (S. 404, 474f.).

 

Vermittlung und Verbreitung von Wissen erfolgte über Fürstenhöfe; impulsgebend waren, bereits seit den Zeiten Karls des Großen, Königshöfe; Könige, Fürsten und auch Städte gründeten Universitäten. Dass umfangreiches Wissen auch in der königsfernen, sächsischen Provinz geläufig war, belegt die im 13. Jahrhundert entstandene Ebstorfer Weltkarte, die Fried wohl nicht erwähnt. Bereits an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert kam es zur Besinnung auf die Vernunft und damit verbunden zur Mehrung der Kenntnisse und Erkenntnisse, darunter, dass Freiheit nicht nur das Freisein vom Bösen, sondern frei sein an Willen bedeutete (s. S. 149f.). Das führte nicht nur zur Infragestellung der noch lange legitimierten geburtständischen Unfreiheit, sondern zog letztendlich eine „Auflehnung gegen die Vormacht des Geistlichen über die menschliche Vernunft“ (S. 408) nach sich. Auch die Grundlagen moderner Begriffe wie Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt sind begründet in der im Mittelalter erfolgten Trennung von Regnum, nun eigenständige Größe von Land, Volk und König, und König (s. S. 152). Früh vollzogen wurde dies in England und Frankreich, wo auch die Abwesenheit des Königs seine Herrschaft – zum Beispiel auf dem Kreuzzug oder, lange den englischen König betreffend, auf dem Festland (oder auch auf der Insel) – nicht schwächte. Nicht so im Reich. Hier zog die Abwesenheit des Königs und Kaisers – lange in Italien, dann in den Hausmachtbereichen und auch in anderen Ländern (Sigismund als König von Ungarn) – die Schwächung des Königtums nach sich. Anders als zum Beispiel in England mit dem Domesday-Bock und dem Exchequer entstanden im Reich keine zentralen Erfassungen und keine zentralen Institutionen wie auch in Frankreich das Königsgericht; es gab auch keine Hauptstadt wie Paris und London. Diese Einrichtungen hielten dort „den ‚König‘ ideell gegenwärtig, auch wenn er körperlich fern war“ und schufen mit der Rechtsperson der Krone „eine erste Figur abstrakter Staatlichkeit“ (s. S. 211).

 

Die Auswahl für eingehendere Betrachtungen fiel zum Beispiel auf Chlodwig, Karl den Großen, Friedrich I. Barbarossa, Friedrich II. oder Karl IV.; die beiden Karle sind im großen und ganzen positiv bewertet worden, die beiden Friedriche hingegen durchweg negativ. Fast alle römisch-deutschen Könige werden abgehandelt, nicht so die Herrscher anderer Länder. Breiten Raum nimmt das Reich ein. Frankreich, England, Spanien, Polen, Ungarn werden in die Betrachtungen weniger ausführlich einbezogen, weitere Länder gelegentlich gestreift. Frankreich hatte nach den Karolinger nur eine einzige Königsdynastie (mit Seitenlinien); überall sonst gab es Dynastiewechsel und Thronstreitigkeiten; in England wurden Könige ermordet und die Mörder bestiegen den Königsthron; einzigartig in der europäischen Geschichte waren die Königsdoppelwahlen im Reich. Das Reich, emporgestrebt zum Heiligen Römischen Reich, verkam – in der Mitte Europas gelegen und zerfallen in Interregnum und Fürstenstreit – mit dem Zusatz ‚Deutscher Nation‘ zu einer Art provinziellen Monstrum (S. 338, 555, 556), während sich die europäischen Königreiche festigten und als nationale Verbände konstituierten (S. 335).

 

Im Vergleich Deutschland-Frankreich-England werden die Schwäche des ersteren und die Stärken der beiden anderen aufgezeigt. Römisch-deutsche König mussten sich mehr als andere Könige mit Fürstenoppositionen auseinandersetzen. Bischöfe und Äbte im Reich waren auch weltliche Fürsten. Hier entstanden „Fürstkirchen“, in England und Frankreich hingegen Landeskirchen. Als ursächlich an der Schwäche des deutschen Königtums hebt Fried die „unselige Italienpolitik“ ihrer Könige und Kaiser seit Heinrich V. hervor (S. 125). Besonders Friedrich Barbarossa „schlug eine Politik ein, die zuletzt, nachdem sein Sohn und Enkel die gewiesene Bahn nicht mehr verließen, das Reich an den Rand des Untergangs brachte und die deutsche Kleinstaaterei besiegelte“ (S. 239). Überhaupt jagte „dieser Kaiser Friedrich“ „überholten Idealen nach; er ist historisch gescheitert. Dabei verwehrte keine Verkettung unglücklicher Umstände seinen Erfolg, vielmehr seiner und seiner engsten Ratgeber Fehlplanungen und Fehlentscheidungen“ (S. 243). Hinsichtlich der Schwächung des deutschen Königtums kommt auch sein Enkel Friedrich II., dem ein Unterkapitel gewidmet ist, nicht gut weg: „Friedrich war „kein Kaiser, der dem deutschen Königtum nutzte. Im Gegenteil, wissend trieb er es in den Niedergang.“

 

Wie der Verfasser streng auswählte, so ist auch an dieser Stelle lediglich eine Auswahl an Aspekten aus dem vorgelegten Buches angerissen worden. Leider ist es nur über ein Personenregister zu erschließen, gerade hinsichtlich der These zur frühen Globalisierung wäre ein Orts- oder sogar geografisches Register nützlich. Hilfreich wären auch die Beifügung von Karten gewesen, die Veränderungen der Herrschafts- und Einflussbereiche im Abendland vor Augen führen. Dies, um der Gefahr vorzubeugen, in modernes Staatsgrenzendenken zu verfallen: Denn ob jeder Leser und Nutzer des Buches zum Beispiel bei der Erwähnung Frankreichs im Laufe des abgehandelten Jahrtausends es stets in seinem jeweiligen Umfang vor Augen hat?

 

Bovenden                                                                                           Gudrun Pischke