Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen, hg. v. Alvermann, Dirk/Garbe, Irmfried (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Pommern, Reihe V, Forschungen zur pommerschen Geschichte 46). Böhlau, Köln 2011. 386 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Lieder mit patriotischem Pathos und dem Potential zum Volkslied - wie jenes vom „Gott, der Eisen wachsen ließ“, oder jenes, das die Frage aufwirft „Was ist des Deutschen Vaterland?“ - brachten den streitbaren Publizisten gegen Napoleon und für die Einigung Deutschlands einst in aller Munde. Heute ist der Name Ernst Moritz Arndts einer breiteren Öffentlichkeit kaum mehr ein Begriff; aufmerksame Beobachter mögen gerade noch die mehrjährigen, von Christian Peplow im vorliegenden Band (S. 371ff.) aus studentischer Perspektive knapp resümierten, antisemitische und antifranzösische Ressentiments thematisierenden Querelen um eine Namensänderung der nach Arndt benannten Greifswalder Universität, die sich dann doch am 17. März 2010 im Senat mehrheitlich für den Namenserhalt ausgesprochen hat, registriert haben. Dass es trotz einer bereits zu Lebzeiten verengten Wahrnehmung seines breiten publizistischen Schaffens Perioden einer besseren Arndt-Konjunktur gab, vermitteln unter anderem die hier versammelten Beiträge, welche die Essenz einer am 28./29. Mai 2010 von der Historischen Kommission für Pommern zu seinem 150. Todestag veranstalteten wissenschaftlichen Tagung vorstellen.
Drei Aufsätze behandeln wenig bekannte „Anstöße“ der geistigen Welt des am 26. Dezember 1769 zu Groß Schoritz auf Rügen (damals Schwedisch-Pommern) gebürtigen und nach einem langen und erfüllten Leben am 29. Januar 1860 in Bonn am Rhein verschiedenen Jubilars. Zunächst rückt Reiner Preul die in den „Fragmente(n) über Menschenbildung“ niedergelegte, kaum rezipierte Bildungslehre Arndts ins Licht, „die den derzeit gängigen Vorstellungen und Diskursen über Bildung völlig entgegengesetzt“ (S. 28) sei und gerade deshalb Anstoß für kritische Fragen zum gegenwärtigen Stellenwert der Menschenbildung und der Rolle der Familie sein könnte. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass Preuls knappe Hinweise tatsächlich eine Renaissance oder auch nur eine verstärkte Wahrnehmung dieser bisher wenig beachteten Schriften, die „mehr als eine kritische ideenvermittelnde Utopie gelesen werden sollten“ (S. 30) denn als eine systematische, praktisch umsetzbare Konzeption, zu initiieren vermögen. Dirk Alvermann fragt nach schwedischen Einflüssen im Denken Arndts und findet sie in Gestalt und Werk der Philosophen Thomas Thorild (eigentlich Thorén, 1759-1808) und Karl August Ehrensvärd (1745-1800), deren gesellschafts- und kunsttheoretische Gedanken „im Frühwerk Arndts in einer Art präsent“ seien, „die sie zum einen als offensichtlich vorbildhaft und prägend für Arndts grundlegende Art der Weltbetrachtung in den Jahren bis 1810 qualifizieren und zum anderen ein zähes Nachleben in demselben vermuten lassen“ (S. 47). Angelehnt an Thorilds Schrift Rätt eller alla samhällens eviga lag (= „Recht oder jeder Gesellschaft ewiges Gesetz“, bei Thorild das Wohl aller; W.A.) formuliert Arndt in „Germanien und Europa“ zur Gesetzgebung im idealen Staat: „Die Weisesten geben die Gesetze durch das Volk. […] ‚durch das Volk‘ heißt mir ‚durch die Idee des Volks‘, indem sie nicht vergessen, was diese größere Menschenmasse eigentlich wollte, als sie mit mancher Aufopferung in den Staat trat. Dem Volke werden diese Gesetze vorgehalten, indem die Gesetzgeber sie ihm an dem Zweck des Staates beleuchtet zeigen. Erkennt das Volk sie an als diesen Zweck sichernd und befördernd, so sind sie durch und für das Volk gegeben; dann kennt und erkennt es sie; anders soll das Volk als Masse nie gesetzgebend seyn; aber nicht gesetzgebend soll ein Volk nie seyn“ (S. 40). Nicht die republikanische, sondern die Herrschaftsidee der konstitutionellen Monarchie stand hier zweifellos Pate. Von Ehrensvärd übernimmt Arndt vor allem dessen klimatheoretische und völkerpsychologische Spekulationen. Wenn Reinhard Bach anschließend Elemente der zeitgenössischen politischen Theorie in Frankreich im Werk Arndts wiedererkennt, kann dies bei der politischen Umtriebigkeit des Proponenten nicht überraschen; den Nachweis des konkreten Übertragungsweges bleibt Bach leider schuldig, sodass sich fast zwangsläufig im Allgemeinen verharrende, wenig aufschlussreiche Folgerungen ergeben, wie jene, dass es „die in der Aufklärung geborenen Ideale einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft, der Befreiung des Menschen aus feudaler Knechtschaft und Bevormundung (sind), die ihn umtreiben, wenn er deren Verfälschung durch eine ganz anders geartete politische Entwicklung angreift“ (S. 67).
Weitere drei Beiträge widmen sich den „Wirkungen“, also der Rezeption Ernst Moritz Arndts, wobei Ralf Klausnitzer zunächst den Bezug Arndts zu den geschichtsphilosophischen Ideen der Romantik aufgreift und die zwiespältige Wahrnehmung durch den Nationalsozialismus in drei wesentlichen Komplexen identifiziert: „(a) eine literatur- und geistesgeschichtliche Behandlung in der universitären Lehre und Forschung; (b) eine ideologisch konforme Thematisierung und Aktualisierung seiner anthropologisch grundierten Geschichtsphilosophie und ‚vergleichenden Völkergeschichte‘ […]; (c) eine Instrumentalisierung für die Legitimation und autoritative Begründung einer ‚biozentrischen Lebenswissenschaft deutscher Art‘ und des Kampfes gegen den ‚Geistesidealismus‘“ (S. 105). Sodann versucht der Theologe Reinhart Staats, die selektive Positionierung Arndts in der politischen Propaganda des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Wenig überraschend trachtete der Nationalsozialismus den Nationalisten Arndt, der Kommunismus den Revolutionär Arndt zu vereinnahmen, Probleme warfen hingegen sein protestantisches Christentum und sein demokratisches Engagement als Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche auf. Staats meint allgemein „bei vorsichtigem Vergleichen […] Gemeinsames in deutschem Nationalsozialismus und deutschem Kommunismus beobachten“ zu können, wofür ihm „der Nachweis einer positiven Arndt-Tradition sowohl bei der extremen Linken als auch bei der extremen Rechten“, ergänzt um Arndts Christentum als tertium comparationis, ein zielführendes Forschungsthema zu sein scheint (S. 140) - aus der Sicht des Rezensenten jedoch ein in seiner Konzeption nicht stringentes, mehr spekulatives und eine oberflächliche utilitaristische Indienstnahme überinterpretierendes Unterfangen ohne wirklichen Erkenntniswert. Einen solchen wird man hingegen Irmfried Garbes Beitrag zu Arndts Bild in den Nachrufen von 1860 zusprechen, deren genaue Untersuchung zeigt, dass bereits „mit seinem Tod […] ein Kampf um die Deutungshoheit seines Bildes ein(setzte)“, der „bis heute“ währt: So ließen sich idealtypisch „neben dem konfessionellen und dem entschieden politischen Arndt-Nekrolog […] der biographisch-literaturkundliche, der zeitkritisch-reflektierende, der glorifizierende und der monumentalistisch-ideologische Nekrolog“ unterscheiden (S. 144f.), gegossen in unterschiedliche Textsorten wie Meldungen, Berichte oder Trauergedichte (Epicedia). Die angeschlossene, 200 Seiten starke Auswahledition umfasst insgesamt 43 Textdokumente und ist eine Fundgrube für jedermann, der sich ein differenziertes, von Unmittelbarkeit bestimmtes Bild zu Arndts Leben und Wirken machen will.
Dennoch bleibt zu fragen, ob der nur mit einem Personenregister recht bescheiden aufgeschlossene Band in seiner Gesamtheit diese Persönlichkeit wieder einem breiten Publikum näherbringen wird; die Impulse werden wohl eher einen engen Kreis von Fachhistorikern erreichen und im günstigen Fall die eine oder andere Diplom- oder Doktorarbeit anregen.
Kapfenberg Werner Augustinovic