Epkenhans, Michael/Groß, Gerhard P./Köster, Burkard, Preußen. Aufstieg und Fall einer Großmacht. Theiss, Stuttgart 2011. 216 S., zahlr. Abb. und Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wer an Hand des Titels der zu besprechenden Publikation auf eine wissenschaftliche Monographie oder einen den letzten Forschungsstand darlegenden Sammelband schließt, irrt; das Buch vor Augen, findet sich der Leser in Gesellschaft eines großformatigen Überblickswerks in der Tradition gut gemachter Bildbände, dessen begleitender Text Konturen und Facetten des jeweiligen Themas herausarbeitet und den Leser zum genussvollen Flanieren durch die sorgfältig illustrierten Seiten einlädt.

 

Die kompetenten Väter dieser bibliophilen Freude wirken am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Potsdam; neben den Forschungsbereichsleitern Gerhard P. Groß und Burkhard Köster verfügt besonders Michael Epkenhans nicht nur als Vorstand der Abteilung Forschung des MGFA, sondern vor allem auch als langjähriger Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung über vertiefte quellennahe Einsichten in die Entwicklung des preußischen Staatswesens, die dem Band zugute kommen.

 

Ihr Panorama preußischer Geschichte entfalten die Verfasser in zwei Schwerpunkten. Die erste, „Entwicklungen und Ereignisse“ überschriebene Hälfte des Buches stellt die politische und militärische Entwicklung Preußens von seinen mittelalterlichen Anfängen als „Streusandbüchse des Reiches“ bis zum alliierten Kontrollratsbeschluss Nr. 46 vom 25. Februar 1947, seiner endgültigen juristischen Tilgung von der Landkarte, in den Mittelpunkt der Betrachtung. In eigenen Kapiteln begegnen dem Leser die großen, oft tragischen Persönlichkeiten, natürlich Friedrich der Große, Otto von Bismarck, Wilhelm I., Wilhelm II. und Paul von Hindenburg, aber auch „Der Alte Dessauer“ Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau, Königin Luise, Henning von Tresckow und – obwohl besser in den kulturgeschichtlich orientierten zweiten Abschnitt passend – Theodor Fontane; ungefragt auch die berühmten, politische Weichen stellenden, gewonnenen und verlorenen Schlachten von Leuthen 1757, Jena und Auerstedt 1806, Königgrätz 1866 oder Tannenberg 1914. In einem weiten Bogen erstreckt sich der politische Werdegang Preußens vom Aufstieg zur Macht im 16. und 17. Jahrhundert über den Kampf um Gleichberechtigung im 18. Jahrhundert, die Expansion nach Osten, das Ende des alten Preußen durch Napoleon, die Reformen von oben, Befreiung und Wiederaufstieg, die Auswirkungen der Revolution von 1848, die kleindeutsche Lösung, den Weg von „Junkerstaat“ zum „Roten Preußen“ 1914 bis 1933, den „Preußenschlag“ und den „Tag von Potsdam“ 1932/33, die Konferenz von Potsdam 1945 bis zum Erlöschen des Staatswesens 1947.

 

Die zweite Hälfte des Bandes widmet sich den „Lebenswelten – Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur“. Wiederum verdichten sich die Strömungen der Zeit exemplarisch in Leben und Wirken bedeutender Persönlichkeiten: des „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, der Philosophen Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der Literaten Bettina von Arnim, August Wilhelm Iffland und Heinrich von Kleist, des prototypischen Junkers Friedrich August Ludwig von der Marwitz, des Unternehmers Johann Carl Friedrich Borsig, des Arztes Rudolf Virchow, des jüdischstämmigen republikanischen Politikers Walter Rathenau und der „letzten Preußin“ Marion Gräfin Dönhoff. Religiöse Toleranz und pragmatische Politik, Aufklärung, Romantik, das Junkertum, der Schritt vom Agrarland zum Industriestaat, Universitäten und Wissenschaft werden ebenso thematisiert wie die unvermeidlichen preußischen Tugenden und der sich unter anderem in besonderen Ordensstiftungen (Pour le Mérite, Eisernes Kreuz) manifestierende, verhängnisvolle preußische Militarismus, dessen Geschichte in der Präsentation mehrerer Generationen der Offiziersfamilie Moltke – Helmuth von Moltke der Ältere, Sieger von Königgrätz 1866 und Sedan 1870, Kosmopolit, Humanist und Gelehrter; sein esoterisch geneigter Neffe Helmuth von Moltke der Jüngere, der 1914 die Niederlage an der Marne vor Paris verschuldet; dessen Großneffe Helmuth James Graf von Moltke, aktiver Gegner und Opfer des Nationalsozialismus – seine besondere Prägung erfährt.

 

Rechtsgeschichtlich interessierte Nutzer wird freuen, dass die Verfasser auch dem Allgemeinen Landrecht von 1794 ein eigenes Kapitel widmen; hierin erfährt man, dass Friedrich II. 1780 die Ausarbeitung eines „nachlesbaren“ Gesetzeswerks angeordnet hat, um die Willkür der Gerichte einzudämmen. Unter den über 19.000 Vorschriften befinden sich Bestimmungen, die „den Eindruck erwecken, als ob sie die bestehende Ständeordnung infrage stellen wollten“, andere Abschnitte hingegen „bestätigten vielmehr die überlieferte Ordnung der Stände“, weshalb das Werk „zu Recht […] als Ausdruck jener preußischen Janusköpfigkeit“ zu bezeichnen sei, „die Tradition und Moderne miteinander verbindet“. Hervorzuheben sei auch die manchmal zu wenig beachtete, gegen das Reich gerichtete Spitze: „Indem der preußische König sein eigenes Gesetzbuch in Auftrag gab, erklärte er zugleich das überlieferte Reichsrecht für nichtig“ (S. 137). Eine zusammenfassende Darstellung der Verfassungs- und Wahlrechtsentwicklung in Preußen bietet das Kapitel „Abgeordnetenhaus und Herrenhaus – Anachronismen beim Aufbruch in die Moderne?“ (S. 184ff.).

 

Gleichgültig, welche Seite der Leser aufschlägt, überall begleiten den Text hochwertige und sorgfältig ausgesuchte, bisweilen ganzseitige Illustrationen und machen das Schmökern vor allem auch zum optischen Vergnügen. Säuberlich – man ist geneigt zu sagen: preußisch – geordnet finden sich im Anhang eine zehnseitige Zeittafel, umfassend den Zeitraum der Jahre von 1134 bis 1947, acht jeweils halbseitige Landkarten, dokumentierend die territoriale Entwicklung Brandenburg-Preußens von 1415 bis 1918, ein das wichtigste Schrifttum auflistendes, in chronologische Abschnitte unterteiltes, eine Doppelseite umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie eine „Namen- und Sachregister“ betitelte Aufstellung, in der man allerdings - hierin ganz unpreußisch - vergeblich nach Sachhinweisen fahnden wird. Dies alles macht diesen Sachbildband, dessen Schutzumschlag auf der Vorderseite den Großen Friedrich vor einem Panorama der Königgrätzer Schlacht skeptisch auf den Leser blicken lässt, während die Rückseite mit geradezu winzigen Bildern von Immanuel Kant und – kaum erkennbar – Robert Koch aufwartet, und der trotz der unleugbar deutlichen Präsenz des Themas und der militärischen Affinität seiner Verfasser nicht der Gefahr erlegen ist, Preußen auf seinen Militarismus zu reduzieren, sondern die Vielfalt der preußischen Lebenswelt aufzeigt und zugleich den „Mythos Preußen“ kritisch hinterfragt, nicht nur zu einem schönen Stück in der eigenen Bibliothek, sondern auch zu einem wertvollen und geschätzten Geschenk für gute Freunde.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic