Enzyklopädie der Neuzeit, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern, hg. v. Jaeger, Friedrich. Bd. 11 Renaissance–Signatur, Bd. 12 Silber–Subsidien. Metzler, Stuttgart 2010. XXIII, 1192 Spalten, XXI, 1212 Spalten. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Dem Unternehmen einer Enzyklopädie wird man sich mit Ehrfurcht zu nähern haben. Zu kühn erscheint ein derartiges Unterfangen in Anbetracht der Schwindel erregenden Vermehrung unseres Wissens in immer kürzeren zeitlichen Einheiten, übermächtig die Konkurrenz online verfügbaren, jedermann zugänglichen Wissens. Die von Diderot und d‘Alembert erarbeitete Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts  et des métiers (17 Textbände und 11 Bildtafelbände) und Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste (64 Bände, 2 Supplementbände) markieren im 18. Jahrhundert den Schritt hin zum modernen lemmatisierten enzyklopädischen Sammelwerk mit universalem Anspruch, alphabetischer Ordnung  und einem Verweissystem.

 

Was dem Wissensdurstigen heute für die Altertumskunde der „Neue Pauly“ und für die Mediävistik das „Lexikon des Mittelalters“ bieten, will die Enzyklopädie der Neuzeit für die 400 Jahre von 1450 bis 1850 leisten, nur in der Konzeption moderner, im Auftritt anspruchsvoller. Selbstverständlich markiert der – gelegentlich kritisch diskutierte – zeitliche Rahmen keine strikten Grenzlinien im Denken, sodass sich die Beiträge sowohl zurück in die Vergangenheit als auch in die Zukunft hin öffnen. Interdisziplinarität und das Bewusstsein des Wandels sind die tragenden Maximen des von Friedrich Jaeger als Geschäftsführendem Herausgeber im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen gemanagten Großunternehmens, das sich im Einzelnen in zehn wiederum von kompetenten Fachherausgebern geführte Gebiete aufteilt. Neben den Bereichen „Staat, politische Herrschaft und internationales Staatensystem“, „Globale Interaktion“, „Lebensformen und sozialer Wandel“, „Wirtschaft“, „Naturwissenschaften und Medizin“, „Bildung, Kultur und Kommunikation“, „Kirchen und religiöse Kultur“, „Literatur, Kunst und Musik“ und „Umwelt und technischer Wandel“  erscheint als Fachgebiet FG 03 „Recht und Verfassung“, betreut von Wilhelm Brauneder (Wien; Teilbereiche: Gesetz, Verfassung), Sibylle Hofer (Bern; Recht, Privatrecht) und Diethelm Klippel (Bayreuth; Naturrecht und Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft), denen als Teilherausgeber Barbara Dölemeyer (Frankfurt am Main; Justiz), Sylvia Kesper-Biermann (Gießen/Paderborn; Strafrecht), Louis Pahlow (Saarbrücken; Grundrechte, Rechtswissenschaft), Gerd Schwerhoff (Dresden; Kriminalität) und Thomas Simon (Wien; Öffentliches Recht) unterstützend zur Seite stehen. Ein Heer von Autoren (Band 11: 197, Band 12: 191) zeichnet schließlich für die jeweiligen Artikel (Band 11 von „Renaissance“ bis „Signatur“ insgesamt 219, Band 12 von „Silber“ bis „Subsidien“ 204 Beiträge; dazu jeweils Lemmata mit reinem Verweischarakter) verantwortlich, wobei die Beiträge sowohl einem als auch mehreren Verfassern zugeordnet sein können.

 

Es kann in Anbetracht solchen Umfanges hier nicht der Ort sein, dieses monumentale Unternehmen in all seinen Aspekten umfassend auszuloten. Zu breit gestreut (und man wird hier fragen müssen, was überhaupt in den Bänden mit gutem Recht vertreten ist, was vielleicht nicht von einsichtiger Relevanz und daher wegzulassen wäre, schließlich, was man vergeblich sucht) ist das Spektrum der Themen, wenn man etwa zwischen „Rezitativ“ und „Rheinbund“ mehr oder weniger Wissenswertes über den „Rhabarber“ lesen oder sich zwischen „Spätscholastik“ und „Spedition“ intellektuell auf einen „Spaziergang“ begeben kann. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass gerade auch diese große Bandbreite und das überraschende Nebeneinander so unterschiedlicher Realien einen besonderen Reiz der Lektüre dieser Enzyklopädie ausmacht.

 

Aus der Perspektive der Rechtsgeschichte tut sich in beiden hier zur Besprechung anstehenden Bänden wahrlich eine Schatzkammer auf. Rechtlich Relevantes erscheint dabei sowohl in Form selbständiger Artikel wie auch als abgegrenzter Teil umfassenderer oder als impliziter Bestandteil allgemeiner Ausführungen. Band 11 beinhaltet vor allem viel Wissenswertes über Einzelphänomene des Rechts- und Gerichtswesens; man findet Beiträge über die „Rezeption des römisch-kanonischen Rechts“, das „Richterrecht“, über „Sächsisches Recht“, „Säkularisation (rechtlich)“, „Schadensersatz“, den „Scharfrichter“, die „Scharia“, über die „Schiedsgerichtsbarkeit“ und den „Schöffenstuhl“, die „Schollenpflichtigkeit“, den „Schwangerschaftsabbruch“ und die „Selbsttötung“, aber auch zu hierzulande weniger geläufigen Stichworten wie dem „Requerimiento“, dem 1513 vom Kronjuristen Juan López de Palacios Rubios verfassten Dokument zur Rechtslage der spanischen Herrschaft in Amerika. Der Beitrag zur „Sache“ ist zweigeteilt in die Kapitel Philosophie und Recht und erspart damit ein eigenes Schlagwort „Sachenrecht“. Als grober Mangel mag empfunden werden, dass sich zum „Römische(n) Recht“ überraschender Weise keine eigene Darstellung findet und sich die Enzyklopädie stattdessen mit (als unbefriedigend empfundenen) Verweisen auf „Gemeines Recht; Legistik; Rechtswissenschaft; Rezeption des römisch-kanonischen Rechts“ begnügt.

 

Durch das Alphabet bedingt, wartet der zwölfte Band darüber hinaus mit größeren thematischen Konglomeraten auf. Dies gilt etwa für den „Staat“ (gefolgt von „Staatenbildung, außereuropäische“, „Staatenbund“, „Staatensystem“, „Staatsanwaltschaft“, „Staatsbank“, „Staatsbankrott“, „Staatsbildungskrieg“, „Staatsbürgerschaft“, „Staatsfinanzen“, „Staatsformenlehre“, „Staatskirche“, „Staatskirchenrecht“, „Staatskredit“, „Staatslehre, Allgemeine“, „Staatsräson“, „Staatsrat“, „Staatsrecht“, „Staatsschriften“, „Staatsvertrag“, „Staatswissenschaft“, „Staatszweck“); ähnlich umfangreiche Agglomerationen schließen sich an die Begriffe „Stadt“, „Stand, Stände“  und „Strafe“. An rechtlich relevanten Einzelbegriffen sind in diesem Band unter anderem die „Sittendelikte“, der „Stapel“, die „Statuten“ und das „Subsidiaritätsprinzip“ hervorzuheben. Soweit der Rezensent dies zu beurteilen in der Lage ist, weisen die Beiträge durch die Bank hohe inhaltliche Qualität auf und geben den aktuellen Stand der Wissenschaft wieder. Ob jedes Lemma nun wirklich alles unter sich vereint, was sich der Nutzer wünscht, ist letztlich auch eine Frage persönlicher Präferenzen.

 

Meinungen, wonach diesem räumlich auf Europa konzentrierten Werk eine Position des Eurozentrismus vorzuwerfen wäre, kann der Rezensent nicht nachvollziehen. Gelehrte wie Hans-Joachim König und Stefan Rinke mögen dafür garantieren, dass die die Neuzeit dominierende globale Expansion des alten Europa wohl aus europäischem Blickwinkel, aber ohne diskriminierende Urteile zur Darstellung gelangt; mehr zu verlangen wäre schlichtweg unrealistisch. Die von manchen Kritikern eingeforderte Fremdperspektive wird in überzeugender Weise hingegen nur im Kontext der außereuropäischen Welt sozialisierten Forschern gelingen können.

 

Kaum besser kann die Aufschlüsselung des Inhalts gedacht werden. Jeder Band enthält säuberlich aufgelistet folgende Elemente: Herausgebergremium; Fachgebiete und Fachherausgeber/innen; Inhaltsverzeichnis; Teilherausgeber/innen; Hinweise zur Benutzung; Abkürzungsverzeichnis (allgemein, Maße, bibliographisch); Abbildungsverzeichnis; Autoren/Autorinnen des jeweiligen Bandes; Übersetzer; Artikel des jeweiligen Bandes. Ein engmaschiges System von Querverweisen sorgt für die notwendige Vernetzung der Artikel untereinander. Mit jedem neuen Band wird zudem ein im Internet unter http://www.enzyklopaedie-der-neuzeit.de abrufbares Interimsregister aktualisiert, das vorläufig die Funktion des für Ende 2012 geplanten abschließenden Registerbandes wahrnimmt. Die die Beiträge ergänzenden, leider nur selten auf Artikel mit rechtlichem Gehalt Bezug nehmenden Illustrationen in Schwarzweiß (so etwa in Band 12 eine schöne Darstellung des Strafarsenals der Frühen Neuzeit aus der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., 1535, und der Plan für einen Gefängnisbau als Panopticum nach Jeremy Bentham, 1791) zeichnen sich durch korrekten Sachbezug, gute Erkennbarkeit und ausführliche Legenden aus.

 

Die Enzyklopädie der Neuzeit macht deutlich, dass auch im Zeitalter digitaler Medien das gedruckte Buch konkurrenzfähig bleiben kann, sofern auf ein entsprechendes Qualitätsniveau geachtet wird. Wen der auf den ersten Blick recht stolze Verkaufspreis nicht abschreckt, der erhält für sein Geld im Gegenzug von bewusster ideologischer Verzerrung freie, ausführliche und vor allem verlässliche Informationen auf dem Stand der Zeit, erarbeitet von den führenden Experten ihres Fachs. Auch die Bände 11 und 12 der Edition bilden hierin absolut keine Ausnahme.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic