Engel, Thilo, Elterliche Gewalt unter staatlicher Aufsicht in Frankreich und Deutschland (1870-1924) (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 262 = Lebensalter und Recht 5). Klostermann, Frankfurt am Main. 2011. XIII, 419 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Untersuchung Engels ist entstanden im Rahmen der „Selbständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe Lebensalter und Recht“ (Leitung von Stefan Ruppert) am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Sie befasst sich mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen durch Beschränkung der elterlichen Gewalt und durch Etablierung staatlicher Instrumente wie Inspektionen, Zwangserziehung und Erziehungsanstalten in der französischen und deutschen Gesetzgebung. Die Untersuchungen stellen einen Beitrag zur historischen Rechtsvergleichung dar, die für das Verhältnis von französischer und deutscher Gesetzgebung immer noch ein stark vernachlässigtes Forschungsgebiet bildet. Mit Recht stellt Engel fest, dass es bislang keine Arbeit gegeben habe, welche die „Kinderschutzgesetzgebung in Frankreich und Deutschland vor 1933 gemeinsam behandelt“ (S. 25). Auf den weitgehend chronologischen Aufbau der Arbeit legt Engel besonderen Wert: „Da es sich um eine vergleichende Untersuchung handelt, ergeben auf dem einen Zeitstrahl beide Ländergeschichten eine einzige Geschichte. Als Mittel der Darstellung ist das ökonomisch, weil der Leser in einem in zwei Teilen über zwei Länder geteilten Buch zwei unabhängige Bücher finden würde, die ihn zweimal durch die gleichen Jahre führten“ (S. 24). Trotz des chronologischen Aufbaus hat Engel mit Recht die Entstehung und Inhalte der jeweiligen behandelten Gesetze getrennt voneinander behandelt.

 

S. 7ff. gibt Engel zunächst einen Überblick über die Entwicklung des Jugendrechts in Frankreich bis 1870. Der Erziehungsgedanke war maßgebend für das Gesetz von 1833 über das Grundschulwesen (S. 9; Einführung der Schulpflicht erst 1883). 1841 erging ein Gesetz, das die Arbeit von auch unter elterlicher Gewalt stehenden Kindern in Fabriken einschränkte (S. 16). Im ersten Hauptabschnitt des Werkes befasst sich Engel mit den französischen Gesetzen von 1874 über die Kinderarbeit in der Industrie, über „Wanderberufe“ und über Säuglinge, die zu Eingriffen in die elterliche Gewalt bei unteren Sozialschichten führten (S. 39ff.). Das Säuglingsschutzgesetz (Loi Roussel), das auch demographische Ziele verfolgte, unterwarf das Ammenwesen einer weitreichenden Regelung und sollte die Säuglingssterblichkeit verringern. Kinder innerhalb der elterlichen Wohnung wurden noch nicht unter Aufsicht gestellt (zur Entwicklung in Deutschland S. 82). Kapitel II befasst sich mit dem Jugendstrafvollzug (gesetzliche Regelung in Frankreich bereits 1850), der Zwangserziehung strafunmündiger Täter (vgl. § 55 StGB von 1876) und den Zwangserziehungsgesetzen der Bundesstaaten (insbesondere von Preußen im preußischen Zwangserziehungsgesetz von 1878). Einen Schritt über das deutsche Recht hinaus ging das französische Gesetz vom 24. 7. 1889 zum „Schutz misshandelter und vernachlässigter Kinder“ (S. 115ff.), das erstmals für alle Kinder die Entziehung der väterlichen Gewalt ermöglichte. Gefährdete Kinder konnten in Erziehungsanstalten eingewiesen werden. In den parlamentarischen Debatten spielten vornehmlich die Beschränkung der elterlichen Gewalt, die Stärkung der Rolle des Staates gegenüber der Familie sowie die Bedeutung der religiösen Wohlfahrtseinrichtungen wichtige Rollen. Der vierte Teil befasst sich mit dem Schutz des Kindes im BGB (u. a. durch vollständige bzw. teilweise Entziehung der elterlichen Gewalt sowie durch deren Verwirkung nach § 1680 BGB) im Vergleich zu den Regelungen im Code civil (S. 171-228). Der Abschnitt über die Erziehung unter öffentlicher Aufsicht in Frankreich von 1904-1917 (S. 229ff.) fasst mehrere Gesetze zusammen: Das Gesetz über die Vereinheitlichung des „Service des enfants assistés“, das Gesetz über die Unterbringung schwer erziehbarer Mündel vom 28. 6. 1904 und das Gesetz über die Versorgung der Kriegswaisen (Mündel der Nation) von 1917 (S. 257ff.). Ab 1907 (in Deutschland erst ab 1961) konnte einer nichtehelichen Mutter die elterliche Gewalt über ihr nichteheliches Kind übertragen werden (S. 255). - Der vorletzte Abschnitt geht auf das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und die Schaffung von Jugendämtern sowie auf die Amtsvormundschaft über nichteheliche Kinder ein (S. 271ff.). Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz beruhte auf dem Recht des Kindes auf Erziehung und regelte auch umfassend das Pflegekinderwesen (S. 310ff.). Ein Abschnitt befasst sich mit der Frage, warum es in Frankreich, das keine Selbstverwaltungsorgane der Departements kennt, keine Jugendämter gibt (S. 277ff.). Abgeschlossen wird der Hauptteil mit dem französischen Gesetz von 1921 „betreffend das Vagabundieren der Minderjährigen unter 18 Jahren“ und dem Dekret von 1935 über eine Erziehungsüberwachung und Erziehungshilfe (S. 341ff., 346f.).

 

Der Aufbau der Arbeit und die Auswahl der untersuchten Gesetze hat der Verfasser. an Hypothesen ausgerichtet (S. 6f.), die im Schlussteil kurz verifiziert werden (S. 351ff.). Die erste Hauptthese, dass der gesetzliche Schutz von Kindern oft mit der Einschränkung elterlicher Rechte einhergehe, wurde durch die Untersuchungen bestätigt. Nach der zweiten Hypothese war zunächst die Person des Kindes nur in wenigen speziellen Situationen und nur außerhalb der elterlichen Wohnung geschützt. Direkte Eingriffe in die elterliche Gewalt waren nur auf die sozialen Randgruppen beschränkt. Mit dem Schaffen der Möglichkeit, „auch in die elterliche Gewalt von sesshaften Eltern, die bürgerlichen Berufen nachgingen, einzugreifen“ reduzierte sich der Umfang und die Härte des „repressiven Armenrechts“ (vierte Hypothese), das jedoch für einige Zeit noch bestehen blieb (S. 6). Anhand der Darstellung Engels lässt sich beobachten, dass „unabhängig von den institutionellen Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland“ „die materiellen Inhalte neuartiger gesetzgeberischer Maßnahmen mit nur weniger als zehn Jahren Abstand in die Gesetzgebung des anderen Staats Eingang“ fand (S. 352). Anders als in Frankreich waren in der Weimarer Zeit in Deutschland auch die Frauen an der Reformdiskussion beteiligt. Hervorzuheben ist, dass Engel die nicht immer leicht erschließbaren französischen Gesetzesmaterialien des Journal officiel herangezogen hat. In diesem Zusammenhang wäre es hilfreich gewesen, wenn er die wichtigsten Teile der maßgebenden französischen Gesetze im Anhang wiedergegeben hätte. Im Übrigen bringt das Verzeichnis der zitierten Gesetze (S. 359ff.) leider keine Nachweise darüber, wo diese im Text behandelt worden sind. Die Informationen über die „Elemente der väterlichen und elterlichen Gewalt“ im Code civil und im BGB (S. 171ff.) hätten vielleicht schon zu Beginn der Untersuchung angebracht werden sollen, wobei die partikulare Gesetzgebung noch stärker hätte berücksichtigt werden können. Mit Recht weist Engel darauf hin, dass bisher eine „umfassende Darstellung“ der Entstehung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes fehlt (S. 33), die auf archivalischer Grundlage erfolgen müsste (vgl. W. Schubert, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, Paderborn 1986, S. 39 f.). Hinzuweisen ist noch darauf, dass ab 1920 im Reichsjustizministerium an einem Entwurf eines Gesetzes über die unehelichen Kinder gearbeitet wurde (Quellen bei Schubert, aaO., S. 101ff.). Insgesamt ist das Verdienst der detaillierten Untersuchungen Engels darin zu sehen, dass er „dem deutschen Leser eine Kenntnis der französischen Entwicklung“ auf dem Gebiet des Jugendrechts vermittelt und „anhand der Gesetzgebungsdebatten“ zeigt, „welche Argumente die Parlamentarier in Frankreich und Deutschland innerhalb von 50 Jahren zwischen 1874 und 1924 dazu bewogen, das Verhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern völlig neu zu gestalten“ (S. 37). Eine Fortführung der Untersuchungen über die Thematik des Werkes für die NS-Zeit/Vichy-Zeit und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre ein weiteres lohnendes Forschungsvorhaben.

 

Kiel

Werner Schubert