Domeier, Norman, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs (= Campus historische Studien 55). Campus, Frankfurt am Main 2010. 433 S. Ill. Besprochen von Hans-Christof Kraus.
Der Eulenburg-Skandal, der in den Jahren 1906 bis 1909 innerhalb und außerhalb Deutschlands großes Aufsehen erregte, zählt zu den bekanntesten politischen Skandalaffären der neuesten deutschen Geschichte, und daher war es längst überfällig, ihm eine eigene, die Vorgänge umfassend aufarbeitende Untersuchung zu widmen. Die neue Darstellung, die mit einem etwas hochtrabenden Untertitel daherkommt, bietet sicher keine „politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs“, sondern rekonstruiert – wie gleich zu Beginn zu sagen ist: im Ganzen zuverlässig – die Ereignisse jener zugleich politischen und gesellschaftlichen Affäre des späten Wilhelminismus. Leider beschränkt sich der Autor nicht darauf, den Skandal als das zu behandeln, was er vorrangig gewesen ist: ein Kampf um die politische Machtzentrale des Reiches und um den „Zugang zum Machthaber“ (Carl Schmitt), der in der einen oder anderen Weise mehr oder weniger auffällig in jedem politischen System geführt wird. Die sogenannten ‚Kamarillas‘, ‚Nebenregierungen‘ oder ‚Küchenkabinette‘ gab und gibt es in Monarchien, in Diktaturen und modernen Demokratien in gleicher Weise, und das Problem der ‚extrakonstitutionellen‘ Machtausübung oder Beeinflussung der Regierenden durch im System eigentlich nicht vorgesehene ‚Berater‘ und ‚Freunde‘ der Machthaber sind ein konstantes Problem politischer Herrschaftsausübung.
Genau das aber hat der Autor nicht ausreichend erkannt; er neigt, im Gegenteil, wie viele Doktoranden dazu, den Gegenstand seiner Untersuchungen weit zu überschätzen, sonst wäre er rasch darauf gekommen, dass auch außerhalb Deutschlands immer wieder um die politische Stellung von Persönlichkeiten in der Umgebung des Monarchen bzw. der Monarchin gestritten worden ist; es genügt dabei, schon an die ‘Halsbandaffäre‘ des 18. Jahrhunderts oder an die öffentliche schwere Kontroverse um die verfassungsrechtlich höchst umstrittene Stellung des britischen Prinzgemahls Albert am Anfang der 1850er Jahre zu erinnern. Von einer vermeintlich auffälligen Zunahme von Skandalen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die der Verfasser wahrnehmen zu können meint, kann daher auch keine Rede sein; das betrifft ebenfalls die laut Domeier „bis dahin unerhörte sexuell konnotierte Moralisierung des Politischen“ (S. 35). Auch das ist falsch; es genügt, an die beiden Münchner Skandale des 19. Jahrhunderts zu erinnern: die Lola Montez-Affäre (1847/1848) und den Richard Wagner-Skandal (1865/1866), die damit endeten, dass ein ehebrecherischer Monarch gestürzt wurde und ein ebenfalls des Ehebruchs überführter prominenter Komponist sich von dem ihn protegierenden König trennen und ins Ausland zurückziehen musste.
Wenn der Autor sich auf eine solide Rekonstruktion und zurückhaltende, quellenfundierte Analyse und Deutung der im Ganzen reichlich unappetitlichen Eulenburg-Affäre beschränkt und deren politische – vor allem auch verfassungsrechtliche – Bedeutung herausgearbeitet hätte, dann wäre ein wichtiges, zum Verständnis der Entwicklung des wilhelminischen Kaiserreichs wohl unerlässliches Buch herausgekommen. Leider hat er es offensichtlich darauf angelegt, keine der gängigen Theoriemoden und Modetheorien in seinem Buch auszulassen, von der ‚historischen Skandalforschung‘ über die ‚transnationale‘ Geschichte (womit, wie sich herausstellt, hier lediglich die Binsenwahrheit gemeint ist, dass der Eulenburg-Skandal auch von der außerdeutschen Presse wahrgenommen und behandelt wurde) bis hin zur Frühgeschichte moderner ‚Sexualwissenschaft‘ von Hirschfeld bis Foucault. Dadurch bläht er das Thema auf und versäumt es, die klaren Linien dieses Skandals, der eben im Kern ein politischer Machtkampf um die verfassungsrechtliche Stellung des Monarchen war, deutlich herauszuarbeiten. Die hier ausführlich zitierten, reichlich peripheren Äußerungen eines Dr. Magnus Hirschfeld zu den sexualpsychologischen Hintergründen derartiger Affären erhalten dadurch eine Bedeutung, die ihnen nicht zukommt, während die politische Dimension der Angelegenheit wesentlich zu knapp behandelt wird. Hinzu kommen endlich manifeste Fehldeutungen der handelnden Personen – so wird der Skandaljournalist Maximilian Harden, der die – das Reich ebenso wie die Monarchie schwer erschütternde – Affäre auslöste, allen Ernstes als „staatstragender Intellektueller“ (S. 71) mit angeblich „radikalkonservative[r] Gesinnung“ (S. 73) charakterisiert! Insofern ist es bedauerlich, dass man gezwungen ist, das Buch über weite Strecken hinweg gewissermaßen ‚gegen den Strich‘ lesen zu müssen. Immerhin erhält es einen begrenzten Wert durch seine Fülle von Informationen, die derzeit anderswo in dieser geballten Form nicht zu finden sind.
Passau Hans-Christof Kraus