Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, hg. v. Rotzoll, Maike/Hohendorf, Gerrit/Fuchs, Petra u. a. Schöningh, Paderborn 2010. 463 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Ende Oktober 1939, rückdatiert auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, unterzeichnete Adolf Hitler ein formloses Schreiben folgenden Wortlauts: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. Das unscheinbare Schriftstück bildete als sogenannter Euthanasiebefehl die formalrechtliche Basis für die in der ersten Phase von Januar 1940 bis August 1941 zentral gesteuerte, als Euthanasie kaschierte Tötung von 70.000 weiblichen und männlichen Psychiatriepatienten, sogenannten „Lebensunwerten“, durch Gas in sechs eigens dafür eingerichteten Anstalten (Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim, Sonnenstein). Mit der Organisation der Aktion federführend betraut war die Kanzlei des Führers, die zu diesem Zweck eine Zentraldienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 einrichtete, von der sich die nicht zeitgenössische, aber heute gängige Bezeichnung „Aktion T4“ herleitet.

 

Bis in die 1990er Jahre war die Forschung zu diesem Thema von einem Fehl an Originaldokumenten gekennzeichnet, die man zum großen Teil vernichtet wähnte; erst nach der politischen Wende im Osten tauchte im Sonderarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Berlin-Hohenschönhausen knapp die Hälfte der verschollen geglaubten Krankengeschichten der Opfer wieder auf  und wurde unter der Signatur R 179 dem Bundesarchiv einverleibt. Zu ihrer Aufarbeitung hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2002 bis 2006 ein vierjähriges Projekt finanziert, im Zuge dessen 3000 der etwa 30.000 überlieferten Akten mit einem 90 Variablen umfassenden Auswertungsschema systematisch untersucht werden konnten. Im September 2006 fand im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegende Abschlusstagung statt.

 

Im Wesentlichen wurden vom Projekt drei Ziele verfolgt: Erstens sollte „die Gruppe der Opfer nach ihrer sozialen und regionalen Herkunft, nach Alter und Geschlecht sowie nach dem Verlauf ihrer Anstaltsbehandlung  auf einer breiten empirischen Datenbasis im Sinne einer kollektiven Biografie beschrieben“, zweitens sollten „die tatsächlich wirksamen Kriterien für die Selektion der Opfer analysiert“ und drittens „die zeitlichen, räumlichen und bürokratischen Abläufe der ‚Aktion T4‘ auf einer neuen Quellenbasis beschrieben werden“ (S. 17). Insgesamt 46 vom Autorenverzeichnis erfasste wissenschaftliche und studentische Mitarbeiter des interdisziplinär angelegten Projekts sind in diesem Sinn mit ihren Beiträgen vertreten, die sich auf sieben große thematische Einheiten verteilen. Das erste Kapitel (S. 23ff.) ordnet die NS-„Euthanasie“ in den historischen Kontext der Genese von Biopolitik, sozialer Frage, Eugenik und Rassenhygiene ein (5 Beiträge). Anschließend folgt im zweiten Abschnitt (S. 75ff.) eine Bestandsaufnahme der bisherigen, die Fragen von Organisation und Geheimhaltung, der Haltung der Anstaltspsychiatrie, der Reaktionen von Angehörigen und Bevölkerung, der Haltung der Kirchen und der praktischen Durchführung (Hadamar, Hartheim) berührenden Forschung (7 Beiträge), die im dritten Kapitel (S. 135 ff.) durch neue Perspektiven hinsichtlich bestimmter Opfergruppen (forensische Patienten, Juden, Kinder) und geographischer Räume (Böhmen und Mähren, Ostpreußen, Polen, Oberschlesien, Slowenien) auf der Basis der wieder aufgetauchten Krankenakten erweitert wird (9 Beiträge). Im vierten Teil (S. 188ff.) wird der Leser mit individuellen Opferbiographien konfrontiert (6 Beiträge), im fünften (S. 221ff.) mit kollektivbiographischen Untersuchungen, unter anderem zu Patienten aus Regensburg, zu den Tätern, den Gutachtern und den Charakteristika erwachsener Opfer (6 Beiträge). Anschließend (S. 285ff.) stehen die über Leben und Tod bestimmende Selektion und ihre Kriterien (Bildungsunfähigkeit, medizinische Kriterien, ökonomisch-utilitaristische Verwaltungsinteressen, Rassenhygiene) im Fokus der Betrachtung (4 Beiträge). Das Schlusskapitel (S. 329ff.) steht unter dem Motto „Aus der Geschichte lernen?“ und beschäftigt sich mit ethischen Implikationen ebenso wie mit Aspekten der Erinnerungskultur (9 Beiträge). Ein gut gestalteter und zentral placierter Bildteil mit Aufnahmen von Opfern, Tätern, Anstalten und Gedenkstätten, persönlichen Hinterlassenschaften und anonymisierten amtlichen Dokumenten ergänzt sinnvoll das beachtliche Textkorpus.

 

Damit vermittelt das Buch einen differenzierten Einblick in ein Vernichtungsprogramm, das nicht in sich isoliert blieb, sondern zugleich „Verbindungslinien zur Aussonderung und Ermordung kranker, unbrauchbarer, politisch missliebiger und jüdischer Häftlinge in den Konzentrationslagern […] und zum Aufbau der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka“ aufweist und „mit der ausnahmslosen Erfassung und Vernichtung der jüdischen Anstaltspatient/innen unabhängig von den für die nichtjüdischen Patient/innen geltenden Selektionskriterien […] einen wesentlichen Schritt zur ‚Endlösung‘ der Judenfrage“ tat (S. 14). Herausgestrichen wird auch, dass Krankentötungen mit Hilfe von Medikamenten oder durch Verhungernlassen auch nach dem durch öffentliche Unruhe und kirchliche Proteste erzwungenen Abbruch der „Aktion T4“ dezentral im regionalen Rahmen und im Verborgenen bis Kriegsende weiter durchgeführt wurden. Ingo Harms hat in verdienstvoller Weise 44 greifbare Biographien des Schlüsselpersonals, nämlich der psychiatrischen Gutachter - darunter jene der Obergutachter Werner Heyde, Herbert Linden und Hermann Paul Nitsche - erhoben, aktualisiert und im Anhang benutzerfreundlich versammelt.

 

Aus der Sicht des rechtsgeschichtlich Interessierten sind vor allem drei Beiträge des Bandes hervorzuheben. Georg Lilienthal (S. 350ff.) befasst sich näher mit der falschen Sterbebeurkundung durch die in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ eingerichteten Sonderstandesämter und ihrer Korrektur im Bundesland Hessen. So erlangte das Urteil des Landgerichts Limburg im „Euthanasie“-Sterbefall Hermine Stogniew vom 11. April 2007 Präzedenzwirkung, indem es die Beurkundungen durch das „T4“-Sonderstandesamt Hadamar-Mönchberg wegen der falschen Daten und dem mit ihnen verbundenen Motiv der Vertuschung eines Tötungsverbrechens nach § 60 Personenstandsgesetz als von Anfang an rechtsunwirksam einstufte. Margret Hamm (S. 358ff.) beleuchtet die Bemühungen Zwangssterilisierter und „Euthanasie“-Geschädigter um Rehabilitation und Entschädigung durch Aufhebung der Erbgesundheitsgerichtsbeschlüsse und kritisiert die rechtlichen Hürden, an die jene Opfergruppen bis heute in der Bundesrepublik stoßen. Michael Wunder (S. 391ff.) wiederum versucht, die internationale und deutsche Debatte um die Themen aktive und passive Sterbehilfe (Stichwort Patientenverfügung) auf den Punkt zu bringen; die „alleinige Bindung dieser Ausweitungen (der erlaubten Maßnahmen im Rahmen der passiven Sterbehilfe auf immer mehr Gruppen Nichtsterbender; W.A.) an die Willensbekundung“ scheint ihm „keine stabile Grenze gegen Ausweitungen und Fremdbestimmung“ zu sein (S. 401).

 

Die „wichtigste Forderung“, die sich aus der Beschäftigung mit dem dunklen Kapitel der NS-„Euthanasie“ ergebe, formulieren die Herausgeber mit pädagogischem Unterton und dennoch treffend (S. 22): „Die historische Erfahrung hat gezeigt, dass Psychiatriepatient/innen zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören, sich quasi im letzten Wagen eines Zuges befinden – diese Erkenntnis sollte für die Gefahr sensibilisieren, dass dieser letzte Wagen in Krisenzeiten erneut abgehängt werden könnte.“          

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic