Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, hg. v. Wiesing, Urban/Brintzinger, Klaus-Rainer/Grün, Bernd/Junginger, Horst/Michl, Susanne (= Contubernium 73). Steiner, Stuttgart 2010. 1136 S., 27 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die 1476/1477 errichtete Universität Tübingen begann ausgehend von einer Reihe kritischer Artikel in der Tübinger Studentenzeitung „Notizen“ die Beschäftigung mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit im Wintersemester 1964/1965 mit einer Vorlesungsreihe. Ihr folgten vor allem weitere Publikationen anlässlich der 500-Jahrfeier im Jahre 1977. Danach ist das zugehörige Schrifttum in der Folge so angeschwollen, dass eine im weiteren Rahmen des vorliegenden Bandes durch Johannes Michael Wischnath erarbeitete Bibliographie einen derartigen Umfang annahm, dass ein Abdruck im ohnehin bereits außerordentlich gewichtigen Band diesen gesprengt hätte, so dass sie auf die selbständige elektronische Publikation verwiesen werden musste (http://www.nationalsozialismus.uni-tuebingen.de, http://www.uni-tuebingen.de/einrichtungen/stabsstellen/universitaetsarchiv.html ).
Obwohl damit die Universität bereits in den 1960er und 1970er Jahren eine gewisse Vorreiterrolle übernommen hatte, gründete der Rektor 2001 auf Vorschlag einzelner Professoren noch den besonderen Arbeitskreis Universität Tübingen im Nationalsozialismus als Ort zur Initiierung weiterer Forschung und zum Austausch von Forschungsergebnissen. Der Arbeitskreis verfasste verschiedene Berichte zu einschlägigen Fragen und veranstaltete im Wintersemester 2004/2005 eine Ringvorlesung, welche die Thematik breiteren Kreisen vorstellen sollte. Im Anschluss hieran erhob sich für die Mitglieder des Arbeitskreises die Frage, in welcher Form sie die Forschungsergebnisse publizieren sollten.
Nach umfangreicher Erörterung einigten sich die Herausgeber - nicht zuletzt mit Hinblick auf die Tatsache, dass sich trotz umfangreicher Bemühungen für bestimmte Fakultäten niemand finden ließ, der zu einer institutionsgeschichtlichen Untersuchung bereit war, und zudem kurzfristige Absagen hingenommen werden mussten - auf einen Kompromiss zwischen einem neuere Forschungsbeiträge vereinenden Sammelband und einem einzig von systematischen Fragestellungen geprägten und aus einem Guss geschriebenen Werk. Dementsprechend versucht der erste Teil neben einer Übersicht zur gesamten Universität die Beleuchtung einiger Fakultäten, Institute oder Fächer an Hand institutionsgeschichtlicher Fragestellungen. Der zweite Teil sammelt Studien zum Alltag an der Universität, zu Verbrechen, zu Personen und zu einschlägigen Themen, während sich der dritte Teil den Bemühungen der Aufarbeitung widmet.
Folglich bieten Susanne Michl und Mario Daniels zunächst einen Überblick über Wissenschaftspolitik und Personalpolitik an der Universität Tübingen von 1933 bis1945, den sie mit der Vision einer nationalsozialistischen Großhochschule Schwaben des Dozentenführers und Prorektors Robert Wetzel einleiten, die allerdings erfolglos blieb. Dessenungeachtet speiste sich aus einem Spannungsverhältnis von Repression und Aufstiegsversprechen eine beachtliche Veränderungsdynamik, welche die Universität in vielen Bereichen in kurzer Zeit strukturell tiefgreifend wandelte. Dabei wurde zwischen 1933 und 1945 von den durchschnittlich 70 Professorenstellen etwa die Hälfte (vor allem in der philosophischen Fakultät und in der medizinischen Fakultät) neu besetzt.
Auf dieser Grundlage werden in einzelnen Beiträgen einzelne Fakultäten und Abteilungen sorgfältig untersucht. Bearbeiter haben sich dabei anscheinend finden lassen für die beiden zurückgedrängten theologischen Fakultäten, die medizinische Fakultät und die rechtswissenschaftliche und die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung. Dabei stellt Günther Frieder für die rechtswissenschaftliche Abteilung die Frage nach dem unaufhaltsamen Niedergang, der sich bei den Studierenden im weit überdurchschnittlichen Rückgang der Zahl von knapp 400 auf nur noch 40 im Jahr 1941 niederschlug.
Als Tübinger rechtswissenschaftliche Professoren werden für diese Zeit genannt (Philipp Heck 1858-1943, 1928 emeritiert,) Carl Sartorius (1865-1945, 1933 altersbedingt emeritiert, Nachfolger aus Marburg Felix Genzmer 1878-1959, 11. 11. 1933 „Mitaufrufer“ für ein Bekenntnis der Professoren zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, 1945 Ruhestand), August Hegler (1873-1937, 1940 Nachfolger Wilhelm Gallas aus Königsberg – 1903-1989, 1942 Wechsel nach Leipzig, Professur unbesetzt), Ludwig von Köhler (1868-1953, 1936 emeritiert, Nachfolger zunächst als außerordentlicher planmäßiger Professor Wilhelm Merk), Heinrich Stoll (1891-1937, Nachfolger Arwed Blomeyer 1906-1995, 1937 SA, 1938 Tübingen, 1941 Jena, 1948 als Nichtbetroffener eingestuft, Nachfolger 1942 Erich Fechner 1903-1991, 1943-1945 in Kriegsgefangenschaft), Hans Gerber (1889-1981, 1934 Leipzig, 1936 Nachfolger Hermann von Mangoldt 1895-1953, 1941 Jena), Georg Eißer (1898-1976, 1928 aus Gießen berufen, Rasse und Familie - Die Durchführung des Rassegedankens im bürgerlichen Recht, 1935), Hans Erich Feine (1890-1965, Schwiegersohn Ulrich Stutzs [1931 aus Rostock nach Tübingen], der den Nationalsozialismus bis zuletzt als Erfüllung des deutschen Schicksals und der Reichssehnsucht pries, 1946 amtsenthoben), Hans Kreller (1887-1958, Nachfolger Max Rümelins seit 1931, 1941 Wien als Nachfolger Leopold Wengers), Wilhelm Merk (1887-1970, 1932 außerordentlicher außerplanmäßiger Professor, 1936 Nachfolger Ludwig von Köhlers), Walther Schönfeld (1888-1958, 1928 Nachfolge Heck), August Schoetensack (1880-1957, 1922 Tübingen, 1935 Würzburg, Nachfolger Eduard Kern [1887-1972, 1939/1941 Kriegsdienst, 1956 emeritiert]), Paul Koschaker (1879-1951, 1941 Tübingen, 1946 emeritiert), Adolf Merkl (1890-1970, 1938 in Wien beurlaubt und in dauernden Ruhestand versetzt, 1941 als Vertreter nach Tübingen, 1943 endgültig berufen), ab 1944 Hans Dölle (1893-1980), Adalbert Erler (1904-1992) und Konrad Zweigert (1911-1996) aus Straßburg.. Wenn die Tübinger Rechtsprofessoren sich in der allgemeinen Diskussion zu Wort meldeten, so zeigten nach den Ergebnissen Frieders auch grundsätzlich sie entsprechend dem mächtigen Zeitgeist die positive Aufbruchstimmung der ersten Jahre, welche die Mehrheit der Rechtswissenschaftler an den deutschen Universitäten angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung empfand. Bereits 1933 schloss sich die rechtswissenschaftliche Abteilung deshalb auch einheitlich der Akademie für deutsches Recht an.
Die Frage, ob der anfangs bereitwillig und später ohne größere Gegenwehr mitgetragene Niedergang der am 19. 4. 1945 durch das Einrücken der Truppen Frankreichs geschlossenen rechtswissenschaftlichen Abteilung durch eine engagiertere und beherztere Gegenwehr hätte verhindert werden können, verneint der Autor. Er sieht die Mitglieder als Mitwirkende, die dazu beitrugen, in der Diktatur die Illusion eines traditionell funktionierenden Universitäts- und Wissenschaftssystem aufrecht zu erhalten. Der besonders im bürgerlichen Milieu verwurzelte Antisemitismus habe es erleichtert, dass man den ersten gesetzlichen Maßnahmen des Regimes Sympathie entgegengebracht und sogar im vorauseilenden Gehorsam entsprechende Maßnahmen vorweggenommen habe.
An einzelnen Fächern werden danach das kunsthistorische Seminar, das völkerkundliche Institut, das urgeschichtliche Institut, die Auslandskunde, das bis in die Wurzeln deutsche philosophische Seminar, die Vererbungs- und Entwicklungslehren in Zoologie, Botanik und Rassenkunde, die Judenforschung, die Erbgesundheitsklinik und die Wehrwissenschaften näher betrachtet. Der Alltag wird an Hand jüdischer Lehrender („jüdische Professoren hat Tübingen, ohne viel Worte zu machen, stets von sich fern zu halten gewusst“) und Studierender, der Zwangsarbeiter, der Studenten allgemein und der Studentinnen im Besonderen behandelt. Etwa ein Dutzend einzelne Personen wird dabei näher ins Auge gefasst. Darunter befinden sich auch die von der Universität in das Reichssicherheitshauptamt gelangten Studierenden und innerhalb der sechs einbezogenen Lehrer auch drei Juristen.
Christoph M. Scheuren-Brandes sieht bei dem 1945 ausgeschiedenen und erst 1949 wieder aufgenommenen Walther Schönfeld christliche Rechtswissenschaft trotz Einbindung des Nationalsozialismus als Lebensaufgabe. Heinrich Schoppmeyer weist auf Leistungen und Annäherungen des aus Sankt Petersburg gekommenen, den Führerstaat aus innerster Überzeugung voll bejahenden, ein zwiespältiges Bild abgebenden Philipp Heck besonders hin. Christopher Schwieger spürt den Wegen des 1949 als nicht betroffen eingestuften Öffentlichrechtlers Wilhelm Merk zwischen deutsch-nationalem Denken und Nationalsozialismus nach.
Die Aufarbeitung behandelt besonders die Entnazifizierung des Lehrkörpers, die Entziehung akademischer Grade, die Volksforschung im Zeichen des Nationalsozialismus, die Vortragsreihe Deutscher Geist und Nationalsozialismus in den Jahren 1964/1965, die braune Uni und eine studentische Arbeitsgruppe zur Selbstgleichschaltung der Tübinger Universität im Nationalsozialismus, die Gedenkpraxis der Universität in der Nachkriegszeit und die Berichte des Arbeitskreises der Jahre 2003-2008. Hilfreiche Register schließen den durch einige Abbildungen aufgelockerten reichhaltigen, mit dem optisch kaum ausmachbaren Hissen der Hakenkreuzfahne veranschaulichten Band auf. Insgesamt bietet er zahlreiche neue lokale Einsichten zu grundlegenden Fragen der jüngeren Rechtsgeschichte, die zwar kein endgültiges geschlossenes Werk ergeben, aber dieses doch an zahlreichen Stellen vorbereiten können.
Innsbruck Gerhard Köbler