Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, hg. v. Kappeler, Andreas. Böhlau, Köln 2011. XIV, 453 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Die Ukraine, nach Russland der flächenmäßig größte Staat Europas, liegt nach wie vor jenseits der Aufmerksamkeitsschwelle des europäischen Publikums, zumal die Ukraine – anders als die Türkei – derzeit nicht einmal ansatzweise als Kandidat für einen Beitritt zur Europäischen Union gehandelt wird. Dementsprechend gering ist das Wissen, das in Europa über die 1991 aus der damals zerfallenden Sowjetunion als unabhängiger Staat ausgeschiedene Ukraine vorhanden ist. Dem will ein auf eine Tagung zurückgehender Sammelband abhelfen, der die Ereignisse seit 1993, die Gegenstand eines früheren, ebenfalls von Armin Kappeler edierten Bandes waren, bilanzierend und handbuchartig zusammenführen möchte.

 

Die Beiträge deutscher, russischer und ukrainischer Historiker verorten die Nationswerdung der Ukrainer vor dem Hintergrund in Westeuropa entwickelter Nationsbildungstheorien, denen zufolge die Ukrainer – ungeachtet ihrer numerischen Größe – zu den verspäteten und „kleinen“, nichtdominanten Nationen zählen. Die einzelnen zwischen 10 und 15 Seiten langen Aufsätze sprechen zum einen historische Themen an, insbesondere die Aufspaltung der ukrainischen Ethnie auf den Osten das habsburgischen Kronlandes Galizien und das Zarenreich, dem eine konfessionelle Spaltung korrespondierte. Es erschließt sich so die schwierige ukrainische Ethnogenese im geographischen Dreieck Polen-Russland-Ukraine, in allen Bereichen mächtig vorangetrieben durch den Ersten Weltkrieg, in dessen Folge erstmals für kurze Zeit eine unabhängige Ukraine das Licht der Welt erblickte.

 

Nachdem ab 1945 alle von Ukrainern besiedelten Gebiete in der Sowjetunion vereinigt waren, galt die Auseinandersetzung bis etwa 1990 den virulenten Russifizierungstendenzen, die aber niemals nennenswerte Resultate zeitigten. Der zweite Teil des Bandes widmet sich den höchst heterogenen Initiativen zum Umgang mit dem geschichtspolitischen Erbe der Ukraine sowie aktuellen Problemen eines Landes, das – nicht zuletzt wegen einer erheblichen russischsprachigen Minderheit – in seinem künftigen Weg zwischen den Polen einer europäischen Orientierung und einer Rückkehr ins „Mutterland“ Russland oszilliert. Als erste Orientierung dieser für Gesamteuropa virulenten Thematik eignet sich der Band vorzüglich.

 

Graz                                                                                       Martin Moll