Die Privaturkunden der Karolingerzeit,
hg. v. Erhart, Peter/Heidecker, Karl/Zeller, Bernhard. Urs Graf Verlag,
Dietikon-Zürich 2009. 287 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.
Im Jahre 2006 veranstaltete das
Stiftsarchiv St. Gallen eine Tagung zur Privaturkundendiplomatik der
Karolingerzeit, deren reiche Erträge in diesem voluminösen und hervorragend
ausgestatteten Band vorgelegt werden. Das Thema gehört zu den in der bisherigen
diplomatischen Forschung durchaus reich behandelten Fragen, und deswegen
wechseln sich in dem gehaltvollen Werk Überblicksartikel mit stark
forschungsgeschichtlichen Ausrichtungen ab mit Detailstudien zu bisher wenig
oder gar nicht beachteten Überlieferungen, vor allem der europäischen
Peripherie. Zudem wird, anders als der Titel das vermuten lässt, über die
Karolingerzeit zeitlich teilweise weit hinausgegriffen, einerseits bis in die
Spätantike, andererseits bis in das 11. Jahrhundert. Die Zusammenstellung der
Beiträge eröffnet einen weiten Horizont und schafft für den Interessierten die
Möglichkeit, sich an einem Orte über den derzeitigen Forschungsstand zur
Diplomatik frühmittelalterlicher Privaturkunden präzise zu informieren. Die in
vier Sprachen abgedruckten 17 Aufsätze, ergänzt um zwei einführende und zwei
abschließende Beiträge, sind in mehrere Blöcke eingeteilt, die hier statt einer
ins Einzelne gehenden Erwähnung der Aufsatztitel genannt werden sollen:
„Tradition und Überlieferung aus Spätantike und Mittelalter“ (S. 23-56) macht
mit spätantiker Überlieferung aus Italien, dem Westgotenreich und dem
Langobardenreich vertraut (Macino, Velázquez, Zielinski). „Der Süden des
Karolingerreichs“ (S. 57-83) wird in zwei Beiträgen zum langobardischen und
romanischen Italien behandelt (Mantegna, Santoni). „Einheit und
Vielfalt“ (S. 85-101) ist der etwas kryptische Obertitel für zwei Aufsätze zu
der Frage, ob und inwieweit es einen Versuch der Vereinheitlichung
karolingischer Schriftlichkeit auch im Verwaltungsbereich gegeben habe und
welche Rolle die Formelsammlungen dabei gespielt hätten (McKitterick, Brown).
In den folgenden vier Kapiteln geht es um regionale Überblicke innerhalb des
Karolingerreichs und an seinen Rändern: „Der Westen und Nordwesten des Karolingerreichs“
(S. 103-144; Morelle, Tock, Declerq), „Der Osten des Karolingerreichs“
(S. 145-160; Wolfram), „Rätien und Alemannien“ (S. 161-191; Erhart,
Zeller, Heidecker) sowie die Räume „An den und jenseits der Grenzen des
Karolingerreichs“, näherhin Katalonien, die Bretagne und das angelsächsische
England werden dabei gewürdigt (S. 193-236; Zimmermann, Jordan, Scharer).
Eine ausgesprochen theorielastige Einführung durch Giovanna Nicolaj (S.
13-22) eröffnet den Band, ein sehr gedankenreiches und weiterführendes Resumée
durch Walter Pohl (S. 243-248) beschließt ihn. Die beigegebene
Bibliographie (S. 258-287!) ist weit über den Anlass dieses Bandes hinaus
nützlich und grundlegend. – Bei allen Unterschieden im Detail – offensichtlich
wurden inhaltliche Vorgaben für die Behandlung der Themen nicht gemacht – zeigt
sich bei nahezu allen Aufsätzen das außerordentlich hohe Niveau der Forschung
zur Diplomatik der Karolingerzeit, verbunden mit wesentlichen
Erkenntnisfortschritten der vergangenen Jahrzehnte und mit einer präzisen
Kenntnis auch derjenigen Bereiche, die einer neuen Behandlung bedürftig sind
(auf deutschem Boden etwa die karolingerzeitlichen Urkunden der Abtei Werden).
Der Band erweist außerdem paradigmatisch, welche enormen Fortschritte in der
Abbildungsqualität durch die Digitalisierung von Urkunden in den vergangenen
Jahren erreicht wurden. Sie haben sich auch in den neuesten Bänden des
Faksimilewerkes „Chartae Latinae antiquiores“ niedergeschlagen (dazu Cavallo,
S. 237-242), welche die Urkundenüberlieferung aus der Schweiz, auch aus Sankt
Gallen, zum Gegenstand haben. Die Diplomatik, so kann man getrost folgern, ist
eine ausgesprochen lebendige Wissenschaft!
Osnabrück Thomas
Vogtherr