Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. The Normativity of Law according zo Francisco de Vitoria, hg. v. Bunge, Kirstin/Spindler, Anselm/Wagner, Andreas (= Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit II, 2). frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. XVIII, 416 S. Besprochen von Tilman Repgen.

 

Der vorliegende Sammelband vereint die Beiträge einer Tagung des Frankfurter Exzellenzclusters 243 „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ aus dem Jahre 2008. Ziel des Bandes ist es, Vitorias Vorstellung von den normativen Geltungsbedingungen des Rechts zu ergründen. Die Gliederung umfasst vier Teile. Vorangestellt sind „philologische Vorbemerkungen“ von Joachim Stüben, dem erfahrenen Vitoria-Übersetzer, unter dem Titel „Wie soll man Vitoria übersetzen?“ (S. 3-37). Sie gewähren Einblick in Werk und Überlieferung des Vitoria, Aufbau, Stil und Gliederung seiner Vorlesungen, vor allem aber in die anspruchsvollen Hintergrundüberlegungen einer wissenschaftlichen Übersetzung. Der Aufsatz wiederholt und vertieft Gedanken aus der Einleitung von Stüben zu seiner Übersetzung von Vitorias „De lege“ (Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, dazu meine Rezension in dieser Zeitschrift 2011, S. 690-692).

 

Im zweiten Teil des Bandes geht es um den Geltungsgrund des Gesetzes vor dem Hintergrund „praktischer Rationalität“. Anselm Spindler („Vernunft, Gesetz und Recht bei Francisco de Vitoria“, S. 41-70) vertritt die These, dass – entgegen mancher moderner Kritik – die Naturrechtslehre des Thomas von Aquin wie auch darin folgend des Vitoria „aus einem selbständigen und methodisch reflektierten Konzept praktischer Wissenschaft“ hervorgehe. Vitoria sei mithin weder für eine vertragstheoretische Begründung des Naturrechts noch für ein metaphysisch begründetes Naturrecht zu vereinnahmen (S. 42). Aus juristischer Perspektive gewöhnungsbedürftig ist der von Spindler wie von anderen Philosophen benutzte Begriff des „subjektiven Rechts“ (S. 44-48). Sieht man darin in der heutigen Dogmatik lediglich die Zuweisung einer Verhaltensberechtigung mit Schutz und Ausschließlichkeitsgewähr (so etwa Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. Tübingen 2006, Rn. 281f.; ähnlich übrigens auch die 21. Aufl. der Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 26, Leipzig-Mannheim 2006, S. 551), hat der Begriff eine formale Struktur. Es kommt nicht darauf an, ob die Befugnis zu einem bestimmten Verhalten dem Träger des subjektiven Rechts durch Gesetz oder Vertrag zugewiesen wird oder diese möglicherweise – wie bei den Menschenrechten – angeboren ist. Träger eines „subjektiven Rechts“ ist immer ein Rechtssubjekt. Dieses ist die Bezugsperson, ganz gleich ob sich die Verhaltensberechtigung auf eine andere Person, genauer deren Tun oder Unterlassen, oder auf eine Sache (wie beim Eigentum) bezieht. Spindler – aber nicht nur er – begrenzt die Reichweite dieses Begriffs, der weder so noch so quellenbasiert ist, auf vorpolitische Rechte, die dem Menschen als solchem zukommen. Damit ist der Begriff vor allem auf Menschenrechte bezogen. Gewiss enthalten diese auch im juristischen Sinne subjektive Rechte, aber der Umkehrschluss wäre nicht zulässig. Die Begrifflichkeit ist daher differenziert zu sehen. Im Sinne eines begrüßenswerten interdisziplinären Dialogs führen solche Differenzen allerdings leicht zu (in diesem Falle vermeidbaren) Missverständnissen. Aus juristischer Sicht hat das Bestehen eines subjektiven Rechts nichts mit der Qualität oder dem Geltungsgrund des Rechtstitels zu tun. Spindler meint, Vitoria habe – angeregt durch Gerson und Summenhart – das ius als rechtslogisch durch das Gesetz bedingt betrachtet, also immer eingebettet in rechtliche Verhältnisse, niemals „vorpolitisch“ (S. 47f.). Freilich ist zu bedenken, dass „Gesetz“ bei Vitoria nicht nur das positive Recht, die lex humana, meint. Den Gesetzesbegriff übernimmt Vitoria von Thomas (S. 53f.). Die natürlichen Neigungen (inclinationes) selbst sieht Vitoria (wie Thomas) nicht als normative Quelle an. Erst das Urteil der praktischen Vernunft produziere - so erklärt Spindler – die „Handlungsregeln“ in Gestalt „allgemeiner Rahmenvorschriften“, die erst die lex humana konkretisiere. Dies alles ruht nicht auf dem Willen, sondern auf dem Urteil der praktischen Vernunft (insoweit gegen die Deutung Kelsens). Und es folgt auch nicht aus einer bestimmten Metaphysik (insoweit gegen Hart) (S. 57). Die Gesetzesgeltung wird demnach bei Vitoria aus der Vernunft abgeleitet, wofür Spindler auch Belege aus der Relectio de Indis des Vitoria anführt (S. 58ff.). Die Vorlesung De potestate civili steht quer zu der Rekonstruktion von „Vitoria als … Vernunftrechtstheoretiker“ (S. 66). Eine Spannung bei Vitoria ist auch schon Annabel Brett (Liberty, Right and Nature, Cambridge 1997, S. 136f.) aufgefallen. Spindler macht die systematischen Gründe plausibel und bleibt so bei der These, dass bei Vitoria die praktische Vernunft die Handlungsnormen auf der Basis von Evidenzien festlege.

 

Juan Cruz Cruz setzt sich mit der Epikie bei Vitoria auseinander (S. 71-98), verstanden als willentliches Streben nach Gerechtigkeit (S. 75), das Cruz Cruz von Dispens und Auslegung abgrenzt. Die Epikie verhelfe zu größerer Gerechtigkeit, indem sie „das Naturrecht erhält“ (S. 83). Cruz Cruz entfaltet sodann die „praktische Rückführung des menschlichen Gesetzes“, wobei der Text vielleicht eher systematisch als historisch zu lesen ist, obgleich Ausgangspunkt der Überlegungen durchaus die Schule von Salamanca ist.

 

„The obligation to fulfill civil laws according to Francisco de Vitoria“ ist das Thema Augusto Sarmientos (S. 99-122). Die Verbindlichkeit menschlicher Gesetze wurzelt danach in Vitorias spezifisch theologischer Sicht des Menschen, aber – und das erscheint besonders wichtig: sie wurzelt im Menschen. Politische Herrschaft entsteht aus der Natur und dem menschlichen Willen (S. 106). Vitoria befürwortet eine Differenzierung der weltlichen und geistlichen Macht (S. 108). Dennoch gibt es eine Rückbindung auch der weltlichen Autorität – und damit letztlich des menschlichen Gesetzes – wegen des einheitlichen göttlichen Schöpfungsplans und der Unterordnung der natürlichen unter die übernatürliche Ordnung (S. 109). Hintergrund ist die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und von der Erlösung aller Menschen durch Jesus Christus. Der Mensch ist daher in allem Tun auf Gott hin orientiert. Auch das menschliche Gesetz ist in diesen Handlungsrahmen eingefügt. Das menschliche Gesetz zielt auf das Gemeinwohl – das Glück, das aber nicht gegen das göttliche Gesetz erreichbar ist (S. 111). Richtiges menschliches Recht darf nicht gegen das Naturgesetz verstoßen (S. 112). Weitere Kriterien für ein „gerechtes Gesetz“ sind danach: (1) Kompetente (gemeinwohlorientierte) Autorität als Gesetzgeber; (2) Gemeinwohlorientierung des Gesetzes; (3) Verhältnismäßigkeit (S. 112; vgl. Vitoria, De potestate Papae et Concilii, 478). Diese Überlegungen sind für die Verpflichtung durch Gesetze relevant, denn ungerechte Gesetze verpflichten zu nichts (S. 114, cf. Vitoria, ComSTh I-II q. 90, a. 2). Es ist nach Vitoria nicht der Wille des Gesetzgebers, der die Verpflichtungskraft erzeugt, sondern das Urteil, dass es sich um ein gerechtes Gesetz handelt. Allerdings kann die Verpflichtungskraft eines Gesetzes entfallen, wenn sein Zweck dauerhaft wegfällt (S. 118, cf. Vitoria, ComSTh I-II q. 96, a. 6 sowie De potestate civili, 192) oder wenn ein wirksamer Dispens erteilt ist. Auch für Vitoria kommt es nicht darauf an, den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen, sondern seinen Sinn („non debet impleri ad verbum, sed ad intentionem“, l.c.).

 

Aus einer anderen Perspektive beleuchtet Gideon Stiening ebenfalls den Grund für die Verbindlichkeit von Normen („Quantitas obligationis: Zum Verpflichtungsbegriff bei Vitoria – mit einem Ausblick auf Kant“, S. 123-143). Anders als Sarmiento verortet Stiening die Lehren Vitorias in einem philosophiegeschichtlichen Rahmen, sieht er doch die rechtsphilosophische Frage durch die Lehren des Duns Scotus ausgelöst. Stiening untersucht auch die Verbindungslinien zu Kant. Kann man Vitoria in kantschen Kategorien verstehen – so könnte man die dahinter liegende Frage formulieren. Stiening widerspricht nicht der Thomasinterpretation, wie sie in diesem Band etwa Spindler – im Anschluss an Lutz-Bachmann – vertritt, aber er macht auf die Schwierigkeit für Vitoria aufmerksam, dass die Rationalität allen göttlichen Handelns (und damit induziert die Rationalität als menschlicher Normsetzung) nicht als Verpflichtungsgrund zur Normbefolgung genügen konnte, da vor dem Hintergrund der Freiheit Gottes die Rationalität nicht von vorneherein selbstverständlich ist (S. 124). Bei Duns Scotus bleibt als normativer Geltungsgrund nur der Wille der göttlichen Autorität. Mit Honnefelder schließt Stiening: „Erst der scotistische Angriff auf den thomistischen Rationalismus verunmöglicht eine perseitas der Rechts- und Gesetzesgeltung und macht damit ihre vis obligandi begründungsnotwendig.“ Stiening begründet die These, dass Vitoria dieser Schwierigkeit nicht ausgewichen sei, sondern auf eine vermittelnde Korrelation der Standpunkte bedacht gewesen sei, da er nicht die Rationalität allein habe ausreichen lassen, sondern eine externe „Verpflichtungsinstanz“ für die Gesetze als notwendig angesehen habe (S. 125). In De potestate civili habe Vitoria die politische Gewalt aus einer Ursache abgeleitet, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft liege, nämlich aus der von Gott gewollten Unbeholfenheit des einzelnen Menschen. So folge auch das Recht nicht aus der (Rationalität der) Norm selbst, sondern diese werde „von einem Höhergestellten ausgesprochen“ (S. 131). Die letzte Ursache liege also außerhalb der politischen Gemeinschaft. Causa finalis politischer Herrschaft sei die Natur des Menschen, causa efficiens Gott, causa materialis die res publica, deren Zweck das bonum commune sei (S. 132).  So wird auch das menschliche Gesetz letztlich auf Gott zurückgeführt. Lex humana est a Deo. Ergo eodem modo obligat sicut divina (S. 133, De potestate civili, 148, Nr. 17).

 

Die Gesetze finden nach Vitoria ihre Verbindlichkeit im Gewissen, Stiening erklärt, auf diese Weise überwinde Vitoria den „Graben zwischen der objektiven Geltung und der subjektiven Verbindlichkeit juridischer Gesetze“ (S. 134). Die objektive Geltung beruht aber auf dem Willen des Gesetzgebers (S. 134, De potestate civili, 146 Nr. 16). Allerdings differenziert Vitoria – insofern wieder auf Thomas von Aquin zurückgreifend – den Grad der Verbindlichkeit göttlicher und menschlicher Gesetze. Letztere können nur, soweit sie praktische Rationalität beanspruchen, binden (S. 137). Diese Ergebnisse kontrastiert Stiening mit der Konzeption Kants, der eine „Theorie der Selbstverpflichtung des Willens durch die Vernunft“ vertreten habe (S. 140), dabei freilich um a priori notwendige Handlungsmotive nicht herumkommt.

 

Die Beiträge zum dritten Teil des Bandes betreffen mehr die politischen Bedingungen des Rechts. Jörg A. Tellkamp schildert „Vitorias Weg zu den legitimen Titeln der Eroberung Amerikas“ (S. 147-170). Dabei geht es ihm vor allem um den Begriff des „Titels“. Dazu zieht Tellkamp auch die Lehre von Domingo de Soto zum dominium heran. Der „Titel“ ist für Vitoria zunächst einmal eine Gewissensproblematik (ComSTh II-II q. 62, a. 1), was freilich nicht zu Subjektvismen führt. Andreas Niederberger rekonstruiert Vitorias Theorie legitimer Herrschaft (S. 171-200). Dabei geht es ihm um eine Auflösung der von manchen Autoren (Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht, 1991, S. 285; Brian Tierney, Vitoria and Suárez on ius gentium, natural law, and custom, 2007, S. 114) beobachteten Spannung zwischen einem objektiven Geltungsanspruch des Naturrechts und einer „Denkfigur subjektiver natürlicher Rechte“ (Deckers, a. a. O.), wieder im Sinne von Menschenrechten, nicht im Sinne der juristischen Bedeutung subjektiver Rechte, die über den Geltungsgrund gar keine Aussage trifft. Ohne die Lösung Böckenfördes, der letztlich Stiening in diesem Band gefolgt ist, zu übernehmen, entwickelt Niederberger eine eigenständige Erklärung, aufbauend auf den Begriff potestas und res publica. Die potestas sei – so Niederberger – ein Anspruch, durch den andere zu einem Tun verpflichtet werden (S. 179). Freilich könne dies nicht soweit reichen, dass jemand auf seine Selbstverteidigung verzichtet. Und so könne die res publica auch nicht auf die Verbindlichkeit ihrer Gesetze verzichten, weil sie sich damit selbst aufgäbe. Bemerkenswert ist an dieser Interpretation vor allem, dass die potestas aus einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis abgeleitet wird. Eines Rückgriffs auf vorgegebene subjektive (im juristischen Sinne) Rechte bedarf es dazu nicht. Das Bestehen einer res publica setzt naturrechtlich die Existenz öffentlicher Macht voraus (S. 186). Die Ordnung des Gemeinwesens ist aber konstitutiv für die Freiheit des einzelnen (S. 184), so dass die Aufrichtung oder Wiederherstellung einer potestas civilis im Wege eines Widerstandsrechts gegen einen Tyrannen nicht nur legitim, sondern sogar geboten ist (S. 188). Die Verfassung des Gemeinwesens muss immer rechtlich sein, d. h. dass die potestas civilis rechtsunterworfen ist (S. 190). Die Interpretation der potestas civilis als notwendige Voraussetzung für die Existenz von Gemeinwesen überträgt Vitoria, wie Niederberger schreibt, auch auf das Verhältnis zwischen den Völkern. Damit dort überhaupt bindende Verträge entstehen können etc., bedarf es bereits rechtlicher Verhältnisse (S. 191). „Nicht das ius gentium bedarf der Erzeugung … durch die einzelnen Gemeinwesen, sondern die einzelnen Gemeinwesen müssen nachweisen können, dass sie berechtigterweise aus dem ius gentium hervorgegangen sind“ (S. 195). Niederberger sieht in der skizzierten „Theorie legitimer öffentlich-rechtlicher Verhältnisse“ die „Modernität“ Vitorias begründet. Diese Theorie beschränke sich nicht auf die einzelnen Staaten, sondern umfasse die globale Welt (S. 198).

 

Kirstin Bunge vertieft die Idee einer globalen Rechtsgemeinschaft unter der Überschrift „Das Verhältnis von universaler Rechtsgemeinschaft und partikularen politischen Gemeinwesen. Zum Verständnis des totus orbis bei Francisco de Vitoria“ (S. 201-227), wobei sich die rechtliche Gleichheit des Menschen als entscheidendes Argument erweist. – Der Beitrag Johannes Thumfarts zum global- (und – so die These – nicht kosmo-)politischen Charakter von Vitorias Philosophie (S. 229-254) konfrontiert eher politiktheoretisch Vitoria mit insbesondere antiken kosmopolitischen Vorstellungen. – Andreas Wagner geht der wechselseitigen Beziehung von Rechtsbegriff und Völkerrecht bei Vitoria nach (S. 255-287). Wagner stellt bei Vitoria einen individuellen, „völkerrechtlichen“ Anspruch darauf fest, in Rechtsverhältnissen leben zu können (S. 284). – Diese Ausführungen leiten über zum vierten und letzten Teil des Bandes: „Recht zwischen den Völkern“. Stefan Kadelbach schreibt über „Mission und Eroberung bei Vitoria“ (S. 289-321) und erklärt, warum Vitoria als Anfangspunkt neuzeitlicher Völkerrechtswissenschaft zu sehen sei (S. 292). Ius gentium, so Kadelbach, habe bei Vitoria einen Doppelsinn: einerseits das Recht zwischen den Staaten, andererseits aber auch das Recht aller Menschen (etwa auf Handelsbeziehungen) (S. 307f.). – Norbert Brieskorn macht quellengesättigt „Theologie und Naturrecht im Völkerrecht“ bei Vitoria zum Thema (S. 323-349) und zeigt, inwiefern Vitoria in erster Linie Theologe ist und was daraus für die Interpretation seines Werkes folgt. Konkret beschäftigt sich Brieskorn mit der Bedeutung der Schöpfungstheologie und mit der Bedeutung der Heilsgeschichte bei Vitoria. Das trifft sich mit der Sichtweise des Beitrags Sarmientos in diesem Band. Als heilsgeschichtlich relevanten Aspekt sieht Vitoria die Betonung des Individuums an (S. 332). Die politische Gemeinschaft versteht Vitoria vor dem Hintergrund der Schöpfungstheologie als einen Ausdruck Gott-menschlicher Beziehung (S. 334). Brieskorn deutet den Geltungsgrund des Rechts bei Vitoria theologisch: nicht die Autorität allein und auch die (praktische) Rationalität genügt, sondern das Recht gelte, „weil es in der Schöpfung von Mensch und Gesellschaft mit Grund gelegt worden und daher gut ist“ (S. 335). Das Naturrecht erscheint daher auch nicht heteronom, sondern „der Mensch ist mit dem Naturrecht geschaffen, es ist keine nachträgliche Zugabe an ein irgendwie fertiges Menschsein“ (S. 336).

 

Gerade im Beitrag Brieskorns zeigt sich die Fruchtbarkeit des Dialogs verschiedener Disziplinen, fügt doch Brieskorn den divergierenden Vitoriadeutungen (thomistisch versus voluntaristisch), den beklagten Spannungen (vgl. den Aufsatz von Niederberger in diesem Band), eine aus den Quellen abgeleitete theologische Synthese hinzu, die eben nicht auf der Ebene der Philosophie die Harmonie im Werk des Vitoria sucht.

 

Merio Scattola, seit langem ein besonderer Spezialist der politischen Philosophie des 16. Jahrhunderts, behandelt „Die Systematik des Natur- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria“ (S. 351-391). Er verortet das Natur- und Völkerrecht Vitorias in der legistischen und kanonistischen Tradition des Mittelalters. Gratian hatte – Isidor von Sevilla folgend – das Völkerrecht dem positiven Recht zugeordnet (S. 361). Thomas von Aquin hat die kanonistische Systematik dann übernommen (Summa theologiae I-II q. 95 und II-II q. 57) (S. 364 f.). Daraus folgt bei Thomas die Stellung des Völkerrechts zwischen dem Naturrecht (da nicht die ersten Prinzipien betreffend) und der lex positiva, da die konkreten Normen auf Schlussfolgerungen aus dem Naturrecht beruhen, nicht auf Setzung (S. 371), auch wenn es erst durch solche ausgedrückt wird. Vitoria übertrug diese Systematik dann auf die Beziehungen zwischen den res publicae, also auf eine internationale Ebene (S. 384ff.). Um Widersprüchlichkeiten auszuweichen, verfeinerte er die thomistische Stufenlehre des Naturrechts, bei dem zwei Ebenen zu unterscheiden sind: die theologische und die juristische (S. 376). Aus der theologischen Perspektive könnte das Naturrecht auch anders sein, aber juristisch ist es das nicht. Die voluntaristische Sicht gelte nur für die theologische Seite des Naturrechts, wie Scattola mit Bezug auf Vitoria (ComSTh II-II q. 57, a. 2) ausführt (S. 377). Auf der ersten Stufe des Naturrechts stehen die obersten Prinzipien wie die goldene Regel, auf der zweiten die unmittelbaren Ableitungen, z. B. die Zehn Gebote, auf der dritten die indirekten Schlussfolgerungen. Vitoria bemüht sich nun um eine Einordnung des Völkerrechts, erkennt aber klar, dass die legistische Tradition Materien als ius gentium interpretiert (z. B. das Recht zur Selbstverteidigung), die nach dem Schema des Thomas dem Naturrecht angehören. So entwickelt Vitoria eine vierte Stufe des Naturrechts: Die Normen dieser Ebene stammen aus dem Naturrecht, gelten aber aufgrund positiven Rechts. Völkerrecht konkretisiert also gleichsam Naturrecht in der Form positiven Rechts. Die Setzung des Völkerrechts gründet nach Vitoria auf einer „virtuellen Zusammenkunft aller Menschen aller Zeiten“ (S. 381), ihr Inhalt ist aber durch das Naturrecht geprägt und nicht beliebig und die Setzung kann auch – insofern ist Vitoria widersprüchlich – nicht wieder aufgehoben werden. Der notwendige (naturrechtsgeleitete) Inhalt des Völkerrechts bei Vitoria macht den wesentlichen Unterschied zum klassischen Völkerrecht aus, wie es bei Emer de Vattel im 18. Jahrhundert begegnet. Die Vorstellung Vitorias bietet diesem gegenüber den Vorteil einer allgemeingültigen verbindlichen Rechtsordnung unabhängig von staatlicher Autorität (S. 387f.).

 

Zum Schluss geht Matthias Kaufmann der Frage nach, wo der Standpunkt Vitorias innerhalb der Spätscholastik liegt. Außerdem stellt auch er die - weniger innovative – Frage, ob „man Vitoria zu Recht zum Vater des modernen Völkerrechts erklären“ könne (S. 394-409). Thomas von Aquin, so behauptet Kaufmann, „bleibt zweifellos in der Tradition Römischen Rechts, weist dem göttlichen Recht aber einen anderen Platz innerhalb der Struktur der Gesetze zu“ (S. 396). Das ist ein problematischer Satz. Einerseits ist zu sagen, dass das klassische römische Recht selbst die Kategorie der lex divina nicht kennt. Andererseits hat Scattola in dem vorangehenden Beitrag gezeigt, wie sich die legistische von der kanonistisch-theologischen Systematik gerade unterscheidet. Es erweist sich, wie vorteilhaft es wäre, wenn die jeweiligen Standpunkte, die in einem Sammelband vertreten werden, argumentativ aufeinander bezogen würden. Gerade der hier zu besprechende Tagungsband zeigt, wie kontrovers die Deutungen zu Vitoria – zum Teil auch zu Thomas von Aquin – sind. – Zu Vitoria vertritt Kaufmann die These, dieser habe „erstmals das Konzept eines universell gültigen Rechts mit völkerrechtlichem Status, das von einzelnen Individuen ausgeübt wird und das im Extremfall mit Gewalt durchgesetzt werden darf“ entwickelt (S. 404). Selbstverständlich kannte schon das römische ius gentium individuelle Rechtspositionen, die insofern auch „universelle“, d. h. vom Bürgerrecht unabhängige Gültigkeit hatten wie z. B. die bonae fidei iudicia. Das Besondere bei Vitoria ist die Entwicklung eines Kriegsgrundes zwischen Staaten aus der Verletzung einer subjektiven Rechtsposition.

 

Fragt man am Ende der Lektüre noch einmal nach den Geltungsbedingungen des Rechts bei Vitoria – oder mit den Worten des Buchtitels nach der „Normativität des Rechts“, so ergibt sich ein heterogenes Bild, das in weitem Umfang abhängig erscheint von der Einordnung Vitorias in die Philosophiegeschichte. Praktische Rationalität – Voluntarismus – Theologie sind die nicht zwingend widersprüchlichen Exponenten bei der Interpretation. Viel spricht dafür, in Schöpfungstheologie und Erlösungslehre die zentralen Schlüssel zu Vitorias Rechtsbegriff zu suchen.

 

Allen Aufsätzen folgt jeweils eine nützliche Bibliographie, die einen raschen Einstieg in die behandelten Materien erlaubt. Wie üblich in dieser Reihe hat der Verlag frommann-holzboog für ein ansprechendes Äußeres gesorgt, das den inneren Wert der Beiträge ins Ästhetische wendet.

 

Hamburg                                                                                Tilman Repgen