Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, hg. v. Hummel, Karl-Joseph/Kißener, Michael, 2. Aufl. Schöningh, Paderborn 2010. 317 S., 16 Abb. Besprochen von Christoph Schmetterer.

 

„Das Thema ‚Katholische Kirche und Drittes Reich‘ gehört bis heute zu den umstrittensten Teilbereichen der an Kontroversen keineswegs armen Geschichte des Nationalsozialismus“, schreibt Michael Kißener zu Recht gleich am Beginn des von ihm mitherausgegebenen Sammelbandes. Eine Besonderheit dieses Themas ist, dass die Kontroverse nicht von wissenschaftlichen Untersuchungen ausgelöst wurde, sondern von einem Theaterstück, nämlich Rolf Hochhuths Der Stellvertreter und bis heute von eindeutig populärwissenschaftlichen Werken wie John Cornwells „Pius XII. Der Papst der geschwiegen hat“ oder Daniel Goldhagens „Die katholische Kirche und der Holocaust“ dominiert wird. Der vorliegende Band hat den Anspruch, sich wissenschaftlich mit dem umstrittenen Thema auseinanderzusetzen.

 

Die ersten beiden Beiträge von Michael Kißener und Christoph Kösters sind der Einführung in das Thema gewidmet.

 

Wolfgang Altgold fragt in seinem Beitrag „Rassistische Ideologie und völkische Religiosität“ zunächst nach Schnittmengen zwischen Kirche und Nationalsozialismus, wie sie etwa der „Brückenbauer“ Alois Hudal betont hatte. Da ist neben Aspekten der Soziallehre und der Judenfeindschaft vor allem der Antibolschewismus zu nennen. Altgold legt aber gleich dar, worin sich der katholische und der nationalsozialistische Antibolschewismus unterschieden. Die Kirche richtete sich anders als die Nationalsozialisten nur gegen den Kommunismus, nicht aber gegen die Russen oder gar die „slawische Rasse“ an sich. Außerdem behandelt er die verschiedenen Spielarten neuheidnischer und nationaler religiöser Bewegungen. Altgold kommt zu dem Ergebnis, dass die völlige Abschaffung jeglicher Religion kein Ziel des Nationalsozialismus war, sehr wohl hingegen die Zerstörung der Kirche.

 

Matthias Sticklers Beitrag „Kollaboration oder weltanschauliche Distanz? Katholische Kirche und NS-Staat“ behandelt ein wesentlich spezielleres Thema als der breit gefasste Titel vermuten ließe, nämlich die Entstehung und Bedeutung des Reichskonkordates. Er lehnt die Junktimsthese Klaus Scholders ab, die besagt, dass die Kirche den politischen Katholizismus für das Reichskonkordat aufgegeben habe. Stickler betont, dass das Reichskonkordat der Kirche nicht jene Sicherheit und Freiheit verschaffen konnte, die sie sich erhofft hatte. Gleichzeitig meint er, dass der Vergleich mit der Lage der Kirche im besetzten Österreich zwischen 1938 und 1945 deutlich macht, dass das Reichskonkordat doch eine gewisse Absicherung für die Kirche im „Altreich“ bedeutete, während sich die Kirche in der „Ostmark“ in einem vollkommen rechtlosen Zustand befand, da das Konkordat von 1934 vom NS-Regime nicht anerkannt wurde. Zu Recht betont Stickler, dass sich das Reichskonkordat nach 1945 als taugliche Grundlage für das Verhältnis von Staat und Kirche erwies.

 

Karl-Joseph Hummel kommt in seinem Artikel „Die deutschen Bischöfe: Seelsorge und Politik“ zu dem Ergebnis, dass das Hauptanliegen der Bischöfe die Sicherung der Seelsorge war. In einem von Kardinal Faulhaber entwickelten Anforderungsprofil für Bischöfe habe es daher auch geheißen, ein Bischof müsse zwar neben seinen kirchlichen Aufgaben auch „am allgemeinen Wohl von Volk und Vaterland teilnehmen“, aber „ohne in das rein Politische abzugleiten“. Hummel gibt einen Überblick über den institutionellen Rahmen, in dem die Bischöfe in der Fuldaer Bischofskonferenz miteinander agierten, und behandelt exemplarische einige Vorwürfe an deutsche Bischöfe (beispielsweise an Kardinal Bertram wegen seiner Geburtstagstelegramme an Hitler). Leider gibt er keinen systematischen überblick über die 17, später 35 deutschen Bischöfe, die einzelnen Richtungen in dieser Gruppe und deren Divergenzen und Gemeinsamkeiten.

 

Thomas Brechenmachers Beitrag „Die Kirche und die Juden“ unterscheidet zwischen kirchlichem Antijudaismus und rassischem Antisemitismus. Mit Recht meint er, dass der kirchliche Antijudaismus zu einer ambivalenten Haltung der Kirche zum Antisemitismus des NS-Regimes beitrug. Wenig überzeugend ist hingegen seine These, warum Pius. XII. die von seinem Vorgänger in Auftrag gegebene Enzyklika gegen den Antisemitismus nicht veröffentlichte. Nach Brechenmachers Meinung erkannte Pius, dass die (in der Enzyklika noch enthaltene) traditionelle antijudaistische Lehre der Kirche nicht mehr zeitgemäß war, eine neue Judentheologie aber trotz erster Ansätze noch nicht vorhanden war. Daher habe er die Enzyklika nicht veröffentlicht. Diese Annahme bräuchte konkrete Quellenbelege, um überzeugen zu können; die gibt Brechenmacher aber nicht. Überzeugend ist hingegen sein Fazit, dass Pauschalurteile, seien sie akkusatorisch oder apologetisch, nicht zutreffend sind. Die Kirche sei zwar immer wieder langsam und zögerlich gewesen, aber ihre grundsätzliche Ablehnung des Rassenantisemitismus stehe außer Zweifel.

 

Christoph Kösters beginnt seinen Aufsatz „Katholisches Milieu und Nationalsozialismus“ mit der berechtigten Frage, wie katholisch die deutschen Katholiken gewesen seien, die er mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass etwa die Hälfte jeden Sonntag die Messe besuchte. Im Weiteren setzt er sich mit drei Thesen zum katholischen Milieu auseinander: Der Antimodernismusthese, die besagt, dass die Katholiken antimodern und daher auch antidemokratisch und säkularisierungsfeindlich waren. Kösters kommt zu dem Ergebnis, dass sich die katholische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nicht auf eine antimoderne Einstellung zurückführen lässt. Nach der Affinitätsthese gab es zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus zahlreiche Übereinstimmungen nämlich Obrigkeitsorientierung, Antibolschewismus, Antisemitismus und auch Nationalismus. Kösters meint dazu, dass es kaum spezifische Affinitäten zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus gab, wohl aber gesamtgesellschaftliche Denktraditionen, die beide verbanden. Die Resistenzthese schließlich meint, dass das katholische Milieu gerade aufgrund des Katholizismus „Abstand“ zum NS-Regime wahrte. Dieser stimmt Kösters mit der Einschränkung zu, dass Nationalsozialismus und Katholizismus so komplexe Phänomene sind, dass eine möglichst differenzierte Betrachtung nötig ist.

 

Michael Kißener beginnt seinen Beitrag „Ist ‚Widerstand‘ nicht ‚das richtige Wort‘?“ mit einer interessanten Beobachtung. Während die Kirche in der unmittelbaren Nachkriegszeit als eine der ganz wenigen gesellschaftlichen Großgruppierungen wahrgenommen wurde, die dem Nationalsozialismus widerstanden hatte, wird ihr Haltung heute sehr viel kritischer beurteilt. Er führt aus, dass die Kirche insgesamt sicher keine Widerstandsorganisation war, sondern ihr primäres Augenmerk auf die Aufrechterhaltung der Seelsorge richtete. Inwieweit die Amtskirche Katholiken, die aktiv Widerstand leisteten, unterstützt oder nicht unterstützt habe, lasse sich nicht generell sagen. Jedenfalls seien überzeugte Katholiken prominent im Kreisauer Kreis vertreten gewesen.

 

Thomas Brechenmacher beschäftigt sich im Artikel „Der Papst und der Zweite Weltkrieg“ natürlich mit dem Vorwurf des Schweigens an Pius XII. Diesem Vorwurf setzt er in Beziehung zur allgemeinen politischen Haltung des Vatikans im Krieg. Kurz aber differenziert beschäftigt er sich mit der Weihnachtsansprache des Papstes von 1942, in der dieser die Judenvernichtung verurteilte ohne sie beim Namen zu nennen. Bezüglich der Fluchthilfe kirchlicher Stellen für NS-Kriegsverbrecher in der sogenannten Rattenlinie kommt Brechenmacher zu dem Ergebnis, dass die Kirche nur in seltenen Fällen bewusst Kriegsverbrecher auf der Flucht unterstützte; die Kriegsverbrecher hätten aber angesichts der großen Zahl von „displaced persons“ die kirchliche Hilfe für Flüchtlinge leicht ausnützen konnten. Insgesamt kommt er zu dem Ergebnis, dass der Vatikan im zweiten Weltkrieg mehr „Spielball der Mächte“ als selbst Akteur war.

 

Annette Mertens behandelt in ihrem Beitrag „Deutsche Katholiken im Zweiten Weltkrieg“. Sie führt aus, dass die Bischöfe den Krieg nicht begrüßten, aber auch nicht ablehnten. Sie hätten sich zur Frage, ob dieser konkrete Krieg ein gerechter Krieg sei, nicht geäußert und die Katholiken gleichzeitig zu Pflichterfüllung, Einsatz- und Opferbereitschaft aufgerufen. Anders als seine Kollegen habe sich Feldbischof Ratkowski vollkommen mit den deutschen Kriegszielen identifiziert. Trotzdem habe das Regime die Militärseelsorge erschwert und beispielsweise seit 1942 frei gewordenen Stellen von Feldgeistlichen nicht nachbesetzt. Auch nach dem Ende des Krieges habe die Amtskirche ihre Position zum Krieg nicht geändert, sondern den Soldaten gedankt, „die in gutem Glauben, das Rechte zu tun, ihr Leben eingesetzt haben für Volk und Vaterland“. Die zumindest 14 hingerichteten katholischen Wehrdienstverweigerer haben ihre Gewissensentscheidung hingegen gegen den erklärten Willen der kirchlichen Hierarchie getroffen.

 

Im seinem Artikel „Umgang mit der Vergangenheit. Die Schulddiskussion“ kommt Karl-Joseph Hummel zu dem Ergebnis, dass eine sachkundige historische Auseinandersetzung mit der Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus die Voraussetzung für deren theologische Deutung ist.

 

Im letzten Beitrag „Kirche im Bild“ beschäftigt sich Karl-Joseph Hummel mit Fotos, die eine Nähe zwischen Kirche und NS-Regime suggerieren, indem sie aus dem Zusammenhang gerissen oder mit verfälschenden Unterschriften wiedergegeben werden.

 

Der Sammelband ist insgesamt ein interessanter Beitrag zu diesem komplexen Thema, das er freilich nicht umfassend behandeln kann. Weitere wichtige Aspekte wären ein Vergleich des Verhaltens der katholischen Kirche mit dem anderer Konfessionen, die Wahrnehmung der katholischen Kirche durch das NS-Regime oder die (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) Fluchthilfe der Kirche für Kriegsverbrecher.

 

Wien                                                                          Christoph Schmetterer