Die Amerbachkorrespondenz XI (Schlussband). Die Briefe aus den Jahren 1559 – 1562, in 2 Halbbänden. Bd. XI/1: Aufgrund des von Hartmann, Alfred gesammelten Materials bearb. und hg. v. Jenny, Beat Rudolf/Dill, Ueli unter Mitarbeit von Heiligensetzer, Lorenz, Bd. XI/2: bearb. und hg. v. Jenny, Beat Rudolf/Bodenmann, Reinhard/Heiligensetzer, Lorenz. Verlag der Universitätsbibliothek, Basel 2010. LXXXII, 1257 S. Besprochen von Hans-Erich Troje.

 

Fünfzehn Jahre nach Erscheinen von Band X/2 (siehe Rezension SZ Germanistische Abteilung 112, 1995, S. 554- 563) nun also die Briefe aus Bonifacius‘, der am 24. April 1562 verstarb, letzten drei Lebensjahren. Aus dem Vorwort ist viel zu lernen. Bis Ende September 1560, wo der erste Halbband endet, bilden die Briefe zwischen Vater und Sohn, erst zwischen Basel und Bourges[1], dann zwischen Basel und Speyer, weiterhin „das Rückgrat und Herzstück“ dieser Briefsammlung. Basilius verließ Bourges Mitte April 1559, kam am 9. Mai nach Basel, war zur Promotion (Dr. legum) am 15. Oktober gleichen Jahres in Bologna und ging Ende 1559 für das Praktikum am Reichskammergericht nach Speyer, von wo er auf allseitiges Drängen („fac ut redeas“) im Herbst 1560 definitiv nach Basel zurückkehrte. Dort wohnt er, seit Frühjahr 1561 mit Esther Rudin verheiratet[2], seit Mitte November Vater eines Sohnes und nach rund einem Jahr Ehe wieder verwitwet, mit dem Vater unter einem Dach. Und so wird Bonifacius auch Zeuge, wie der lang ersehnte Enkelsohn Bonifaciolus wenige Stunden nach der seit Wochen kranken Mutter am 5. April 1562 stirbt.

 

Viel von dem seit 1967 in den Einleitungen und Rezensionen zu den Bänden VI – X Geschriebenen gilt auch für diese Bände. Von den schon in Band X häufiger vorkommenden Korrespondenten sind insbesondere der Marchese d’Oria (Giovanni Bernardino Bonifacio, 12 Briefe), Celio Secondo Curione, Franҫois Hotman, Alban Fuchs (8 Briefe), Matteo Gribaldi, Johannes Oporin (5 Briefe), Georg Tanner (3 Briefe) und Pietro Paolo Vergerio (8 Briefe) noch mehr oder weniger stark vertreten. Von Heinrich Walther, „Rathschreiber zu Strasburg“, stammen 9 Briefe. Auch Thomas Blarer und Heinrich Glarean tauchen nach langem Schweigen nochmals auf. Durch die bevorstehende Eheschließung und den Aufenthalt in Speyer kommen Briefe des (künftigen) Schwiegervaters Jakob Rudin und des Schwippschwagers Dr. med. Johannes Huber hinzu, sowie, mit 20 Briefen, der neue alte Freund Theodor Zwinger.[3]

 

Die Bände enthalten neben vielen anderen Stücken immer noch einiges Quellenmaterial zu „Jurisprudenz und Basler Buchdruck“ sowie zu „Humanismus und Jurisprudenz“ (siehe insbesondere Briefe Nr. 4500 und Nr. 4511). Verschiedene aus auswärtigen Adelskreisen herangetragene Bitten um Rechtsbeistand werden von Bonifacius abgelehnt und (vermutlich) an den Schwiegersohn Ulrich Iselin weitergeleitet. Unter Mitarbeit von Basilius wird nun nochmals Schad von Mittelbiberach in seiner Auseinandersetzung mit seinem Bruder bzw. seinem Neffen beraten.[4] Insoweit am wichtigsten ist das als Anhang Nr. 1 edierte Gutachten zum Rechtsstreit zwischen Bern und Genf, in dem Bonifacius zum ersten und einzigen Mal in einem die Eidgenossenschaft betreffenden „staatsrechtlichen“ Konflikt hineingezogen wird und, zwar nicht den Streitenden selbst, sondern dem Basler Schiedsrichter, seinen Rat erteilt, den dieser auch befolgt. Amerbach rät eindringlich zur Einigung durch gegenseitiges Nachgeben, womit er und der seinem Rat folgende Schiedsrichter Genf gleichsam vor der politischen Annexion durch Bern bewahrten. Amerbachs Gutachten (Anhang Nr. 1), der Brief von Gratarolus (AK Nr. 4391) sowie die zugehörigen Briefe von Calvin an Sulzer[5] bieten wichtiges Material zu einem hochinteressanten Rechtsfall, das der Bearbeitung von rechtshistorischer Seite noch harrt. Nicht nur in dieser Angelegenheit, sondern generell überall leisten die Herausgeber im Identifizieren möglichst aller erwähnten Personen und im Nachzeichnen von deren Lebensläufen, darunter zahlreiche, bisher zumeist kaum beachtete Juristen der zweiten und dritten Humanistengeneration, derart Erstaunliches, bieten derart Reichhaltiges, dass die Edition, die in zunehmendem Maße Fundgrube zur Basler Stadt-, Universitäts- und Sozialgeschichte geworden ist, darüber hinaus als Nachschlagewerk zur (insbesondere juristischen) Personengeschichte weit über Basel hinaus dienen kann.

 

Zur Juristenausbildung runden die 4 Basilius-Briefe aus Bourges unser Bild ab. Aus Claudius Peutingers Brief Nr. 4389 an Basilius erfahren wir, welche Mühen es kostet, einem bei einer Messerstecherei umgekommenen deutschen Studenten das passende Grabmal zu errichten.[6] 13 Basilius-Briefe aus Speyer sowie Briefe von Kommilitonen des Basilius eröffnen ganz neue Perspektiven. Dies geschieht vor allem im Briefwechsel mit Theodor Zwinger.[7] Thema dieser Briefe und der Gegenbriefe sind vor allem junge Frauen, zum einen diejenigen, die die beiden jungen Männer für das künftige Eheleben ausersehen haben, zum anderen die Prostituierten in Speyer, von denen Basilius angeblich die ars amatoria lernen will. Die Redeweise dieses Austauschs von Gedanken und, wenn es denn solche sind, Praxiserfahrungen reicht, wie Jenny schreibt, vor allem bei Zwinger „von witzig-elegant-hochgelehrt bis zu derb-erotisch-schamlos“. Das meiste, was Basilius dazu beisteuert, ist, wie ich glaube, Aufschneiderei. Auf die Frage, warum er nicht endlich die ihn sehnlichst erwartende Braut mit seiner Rückkehr beglücken und heimführen wolle, antwortet er in Nr. 4522 von Anfang April 1560 sinngemäß, er sei noch nicht ehefähig. Die Liebeskunst sei von den unerfahrenen Ehefrauen nicht zu lernen und müsse in einem vorehelichen opus camerale trainiert werden.[8] Und diesbezüglich, schreibt er, habe er noch viel zu lernen. Die nachfolgenden Bettgespräche beruhen, wie ich glaube, mehr auf Phantasie als auf Erlebnissen. Der Kenner, sagt man doch, genießt und schweigt. Ob die hier aufscheinende, von Jenny sogenannte „libertinisch-studentische Subkultur“ wirklich „aus Italien importiert“ ist? Und wie echt ist der „Makkaroni-Stil“, in diesem Fall ein Gemisch aus (überwiegend) Italienisch, Latein, Deutsch und Französisch? Immerhin durchzieht, im Gegensatz zum todesdurchwehten zweiten Teilband, den ersten eine gewisse Lebenslust, und der düstere Basilius macht darin, alles in allem, neben Zwinger keine ganz schlechte Figur. Ausgelassen zeigt er sich nur ein einziges Mal: Nr. 4473, Z. 25ff., anlässlich der glücklichen Landung in Speyer. Dass er seiner neunzehnjährigen Braut keine einzige Zeile habe zukommen lassen, möchte man, obwohl alle Indizien dafür sprechen, kaum glauben. Hat er sie, die schon vor der Heirat kränkelte, glücklich machen können? Eheleben im Elternhaus des Mannes kann auch ohne die (bereits vor Jahrzehnten verstorbene) Schwiegermutter belastend sein. Näheres über Krankheit und Tod von Ehefrau und Söhnchen erfahren wir von Basilius nicht. Das Hinscheiden des Vaters jedoch schildert er dem mit dem Vater eng befreundeten Marchese d’Oria ausführlich, und in Beantwortung der Kondolenzbriefe und einiger erst nach dem Todesfall eintreffender Briefe an Bonifacius zeigt er sich korrekt.

 

Die Bände erschließen sich beim Durchblättern und durch die Register.[9] Es ist unmöglich, sich nicht in die Einzelheiten, der Briefe selbst wie der Anmerkungen dazu wieder und wieder zu verlieren, und ebenso unmöglich, die unzähligen Entdeckungen und überraschenden Funde in einer Rezension unterzubringen. Die einzige Ausnahme davon, die ich mir erlaube, betrifft den mit drei Briefen vertretenen humanistischen Rechtsgelehrten Henricus Agylaeus (1532/1533 – 1595), der mir bei früheren Begegnungen immer fremd blieb und der erst durch die jetzt gefundenen Mitteilungen und Nachweise (insbesondere Nr. 4559 Fn. 1-3, und Nr. 4609 Fn. 6) endlich auch als Mensch näher kommt. Agylaeus, der Ketzerei verdächtig, war im Herbst 1556 auf der Flucht aus Paris verhaftet worden, konnte die deutsche Nation in Orléans um Hilfe bitten, die ihm in Form eines Darlehens, das ihm zur Freilassung verhalf, gewährt wurde. Das Beispiel Agylaeus zeigt in der Tat, „daß man schon wegen unbedachter mündlicher Äußerungen der Ketzerei verdächtigt und zur Flucht gezwungen werden konnte“. Mehrere seiner Briefe an die beiden Amerbachs sowie an Theodor Zwinger demonstrieren seine jahrelangen Bemühungen um Rückzahlung von Vorschüssen, die auf Wunsch und unter Rückzahlungsgarantie des Agylaeus aus der Kasse der Erasmusstiftung an zwei niederländische Studenten gezahlt worden waren.

 

Das Großprojekt Amerbachkorrespondenz ist rühmlich abgeschlossen. Der englische Gelehrte Percy Stafford Allen (1869-1933), Herausgeber der Erasmus-Korrespondenz, hat es angeregt und 1933 auf den Weg gebracht. Der Basler Altphilologe Alfred Hartmann (1883-1960), der das Material zu sammeln begann und zwischen 1942 und 1958 die ersten 5 Bände herausgab, hat in dem Historiker Beat Rudolf Jenny einen würdigen großen Nachfolger gefunden. Dem Unterzeichneten, der erstmals den im Jahre 1967 erschienenen, die Briefe aus den Jahren 1544-1547 enthaltenden Band VI für diese Zeitschrift zu rezensieren hatte, sind die Angelegenheiten der Amerbachs im Laufe der Jahre buchstäblich „ans Herz gewachsen“ und zu einem seiner Forschungsschwerpunkte geworden. Die Rezensionsabhandlungen zu den Bänden VI – IX sind in den Sammelband „Humanistische Jurisprudenz“ von 1993 aufgenommen wurden.[10] Ein Beitrag „Bonifacius Amerbach als Jurist“ ist in einer Gedenkschrift zu Bonifacius Amerbachs 500. Geburtstag 1995 erschienen.[11]

 

Alles in allem, so scheint mir, ist wohl nie zuvor für die dank einzigartig günstiger Überlieferungslage so reichhaltig dokumentierten Lebensspuren zweier Juristen und der in ihrem Briefwechsel vorkommenden und genannten Personen mit derart umfassender Sachkunde eine derart sorgfältige Aufklärungsarbeit geleistet worden.[12] Die ebenfalls gut kommentierten insgesamt 11 Tafeln bieten schönes Anschauungsmaterial.[13]

 

Kelkheim                                                                    Hans Erich Troje



[1] Über Basilius’ Studien in Bourges siehe ausführlicher die oben erwähnte Rezension von AK X.

[2] Die Ehe mit der am 10. März 1541 geborenen Esther Rudin, Tochter eines Basler Oberzunftmeisters, war seit 1557 geplant. Verlöbnis war im November 1560, die Hochzeit im Februar 1561.

 

[3] Dr. med Theodor Zwinger (1533-1588) wird AK IX/1 Nr. 3680 Fn. 9 als „Basels stärkstes intellektuelles Talent der zweiten Jahrhunderthälfte“ bezeichnet. Der erste Brief Zwingers findet sich als Nr. 4133 in AK X/1. Curiosa in den neuen Bänden sind Nr. 4463, das lange Gedicht aus Basel, und Nr. 4608 , das lateinische Hochzeitsgericht in 815 Zeilen.

[4] Das in Tübingen nicht erhaltene Fakultätsgutachten in dieser Sache ist nur im Amerbachnachlass erhalten!

[5] Im Calvin-Briefwechsel im Corpus reformatorum.

[6] Die Anbringung von Epitaphen für deutsche Studenten war in Bourges generell schwierig, Anders als z. B. in Orléans und Padua gab es mangels einer „Deutschen Nation“ (eine solche samt entsprechender Matrikel entstand in Bourges erst seit dem 17. Jahrhundert) keine dafür bestimmte Kirche.

 

[7] Der Briefwechsel mit Zwinger ist von Anfang an (siehe Nr. 4481 vom 28. Januar 1960) auf Parodie, Scherz und Klamauk getrimmt.

 

[8] Es gebe keine iusta causa redeundi und er könne ein coeptum negotium nicht unerledigt abbrechen. Er sei nach Speyer gegangen per la prattica, per essercitarmi in ella (Zeile 97). Er sei hier, um zu lernen, wie man es in der Kammer treibt. „Kammer“ sei aber doppeldeutig (la camera è duplice), außer derjenigen, in der die maladetta gente di procuratori das Streiten und Lügen trainiert, diejenigen, in der, mit den Worten Ovids (Amores III 14) , inque modos venerem mille figuret amor. Er wollte nicht als ‚goffo nel letto‘ in die Ehe gehen. Von den ihrerseits unerfahrenen Bräuten sei nichts zu lernen (docere non possunt). In diesem opus camerale also wolle er sich perfektionieren und solange wie nötig exerzieren , und das brauche eben seine Zeit: Est ergo maxima huius exercitationis vis nec sane parum tempus requirit (Zeile 168 f.). Um mit Zwinger Schritt zu halten, hat Basilius gelegentlich vielleicht auch Passagen der einschlägigen italienischen Belletristik verwendet.

 

[9] Verzeichnis der Briefschreiben und Briefempfänger, je 10 Seiten, Register der Personen und Orte, in einem Alphabet, 85 (!) Seiten. Auf ein Sachregister wurde diesmal verzichtet. Doch sind als Ersatz dafür im Register der Personen und Orte die Stichwörter „Amerbach“ und „Basel“ mit 13 bzw. 7 Seiten (jeweils zweispaltig) ausführlich aufgeschlüsselt.

[10] Hans Erich Troje, Humanistische Jurisprudenz. Studien zur europäischen Rechtswissenschaft unter dem Einfluß des Humanismus (Bibliotheca Eruditorum Band 6). Goldbach: Keip 1993, XX, 334 Ss

[11] Hans Erich Troje, "Bonifacius Amerbach als Jurist" , in: Bonifacius Amerbach 1495-1562. Zum 500. Geburtstag des Basler Juristen und Erben des Erasmus von Rotterdam, bearbeitet und herausgegeben von Holger Jacob-Friesen, Beat R. Jenny und Christian Müller, Basel: Schwabe & Co 1995, S. 17-21.

 

[12] Zu einem Widmungsbrief Conrad Gesners an Basilius, derzeit Rektor, und die Basler Professoren vom 23. Januar 1562 zur großen Galenausgabe bei Froben, die eine vorzügliche historische, mit autobiographischen Einzelheiten bereicherte Abhandlung zur Geschichte der Basler Universität in ihren ersten hundert Jahren bietet, gibt es 4 Seiten Vorbemerkungen und auf über 10 Seiten 67 Anmerkungen.

[13] Mich persönlich haben, zusammen mit den Mitteilungen in Fn. 9 zu Nr. 4511, die Tafeln Va-b (Titelblatt und Kolophon des seltenen Bandes „Decisiones aureae“ des Parlamentspräsidenten in Bordeaux Nicolaus Boerius (Bohier) besonders interessiert.