Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, hg. v. Reichardt, Sven/Seibel, Wolfgang. Campus, Frankfurt am Main 2011. 300 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Jahrzehntelang vertrat die Forschung zu Struktur und innerer Beschaffenheit des NS-Regimes nahezu unisono die Auffassung, dieses polykratische System sei durch einen „schwachen Führer“ (Hans Mommsen) und eine ausufernde Anarchie von Kompetenzkämpfen der NS-Granden untereinander gekennzeichnet gewesen; das Regime habe sich daher im personalisierten Zuständigkeitsgerangel von innen heraus gelähmt; eine geordnete, geschweige denn effiziente Verwaltung sei unter diesen Rahmenbedingungen unmöglich gewesen, der Staat habe sich aufgelöst und sei in untereinander unverbundene, sektorale und regionale Teilherrschaften zerfallen.

 

Obwohl auf der Hand liegt, dass bei dieser Annahme die mörderische Machtentfaltung des NS-Regimes, das in einem sechsjährigen Weltkrieg buchstäblich erst von einer „Welt von Feinden“ mit enormem Aufwand mühevoll niedergerungen werden konnte, nicht erklärbar ist, regte sich an den Prämissen des Polykratie-Modells und dessen überzogenen Schlussfolgerungen erst jüngst Kritik, die der hier vorzustellende Band auf den Punkt bringt. Seine Beiträge leitet die Einsicht, dass die bis zum Mai 1945 im wesentlichen funktionierende Staatsmaschinerie des „Dritten Reiches“ sowie die bis zum Ende weiterlaufende Vernichtungspolitik gegen die zu Gegnern des Regimes erklärten Gruppen nicht erklärbar wären, würde man die Selbst-Lähmung des Regimes durch internes Machtgerangel verabsolutieren. Ohne die vielfach belegten Kompetenzkämpfe in Abrede zu stellen, drängt sich ausweislich dieses Bandes vielmehr die Frage auf, ob sie nicht vielmehr effizienzsteigernd gewirkt haben könnten.

 

Sämtliche Beiträge, die teils einen allgemeinen Überblick, teils Fallstudien bieten, versuchen anhand theoretischer, vor allem aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns abgeleiteten Prämissen den Nachweis zu führen, dass neben den Konflikten die ebenso augenscheinliche Kooperation der NS-Instanzen, die ansonsten über die Wege der Durchführung ihrer Ziele sowie über Machtfragen im Streit lagen, vernachlässigt wurde. Denn Kooperation lag umso näher, als man sich über die grundsätzlich anzustrebenden, ideologisch determinierten Ziele durchaus einig war. An diesem Grundkonsens können die von der älteren Forschung vielfach zitierten, zeitgenössischen Klagen über den „Zerfall der Verwaltung“ wegen der Etablierung von NS-spezifischen Sonderinstanzen nichts ändern; letztlich zogen doch alle an einem Strang.

 

Nach einer dem Thema „Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus“ gewidmeten Einleitung der beiden Herausgeber untersuchen Rüdiger Hachtmann die „Struktur der Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus“ und Michael Ruck die bislang unterschätzte Bedeutung von „Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Regimes“. Armin Nolzen behandelt kenntnisreich Aufgaben und Praktiken der Reichsorganisationsleitung der NSDAP; ihm schließt sich Wolf Gruner mit einer luziden Studie zu den oft als machtlos angesehenen Kommunalverwaltungen an. Christine Kuller weist nach, dass die angeblich unpolitische Finanzverwaltung bei der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden eine eigenständige, regime- und ideologiekonforme Rolle spielte. Wolfgang Seibel legt die Dominanz klassischer Verwaltungsbeamter in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien 1940-1944 dar und Sven Jüngerkes liefert eine Skizze der Zivilverwaltung im „Reichskommissariat Ostland“, das zwischen 1941 und 1944 die drei baltischen Länder sowie Teile Weißrusslands umfasste.

 

In sämtlichen Beiträgen gibt es Passagen, bei denen die umstandslose Übertragung gegenwärtiger, vor allem den Wirtschaftswissenschaften entlehnter Newspeak (Netzwerker, Schnittstellenmanager u. ä.) Einwände aufwirft. Ungestellt bleibt nämlich die Frage, inwieweit solche dem kapitalistischen Wirtschaftssystem der Gegenwart entnommene Termini auf eine politisch-ideologisch geformte, obendrein von klassischen Traditionen geprägte Verwaltung übertragbar sind. Gleichwohl liest man die sämtlich auf dem neuesten Forschungsstand stehenden Beiträge, die auf empirisch gesättigten Vorstudien aufbauen, mit Gewinn. Bei mancher Kritik im Detail entwickeln sie ein diskussionswürdiges theoretisches Modell, das plausible Antworten auf die Frage, wie das NS-Regime funktionieren konnte, bis die Sowjets vor Hitlers Berliner Bunker standen, nicht nur in Aussicht stellt, sondern solche Erklärungen unter Anwendung innovativer Modelle bereitstellt.

 

Graz                                                                                                              Martin Moll