Das preußische Kultusministerium
als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817-1934) (= Acta Borussica
Neue Folge, 2. Reihe Preussen als Kulturstaat, Abteilung 1), Band 2, 1 Das
Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen,
Künste und Medizinalwesen, Darstellung, Band 2, 2 Das Kultusministerium auf
seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen,
Dokumente. Akademie Verlag, Berlin 2009. XXXIII, 784, XXVIII, 820 S.
Besprochen von Werner Schubert.
Nach der Darstellung der Geschichte des 1817 begründeten Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (seit 1918 Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung; sog. Kultusministerium) als Behörde in den Bänden 1.1 und 1.2 der Acta Borussica n. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat bringen die Bände 2.1 und 2.2 eine schwerpunktmäßig ausgerichtete Geschichte der wichtigsten Wirkungsfelder des Kultusministeriums bis zu dessen Auflösung 1934. Zu Beginn des Bandes 2.1 ist noch einmal die Einleitung des Leiters der Forschungsreihe Wolfgang Neugebauer wiedergegeben (S. XIII-XXIII). Eine spezielle Einleitung in den Band 2.1 erübrigte sich, da die Autoren des vorliegenden Bandes jeweils die Zielsetzung ihrer Beiträge aufzeigen. Der Darstellungsband wird eröffnet mit dem Beitrag von Bärbel Holtz, Christa Rathgeber, Hartwin Spenkuch und Reinhold Zilch über die Politik des Kultusministeriums gegenüber dem schulischen Bildungswesen (S. 1-134). Die drei Einzeldarstellungen befassen sich mit der Thematik für die Zeitabschnitte von 1817 bis 1866 (Lokale Schulhoheit und Intensivierung des Staatsdurchgriffs), von 1866 bis 1914/18 (kulturstaatliche Intervention, schulische Expansion und Differenzierung als Leistungsverwaltung) und von 1918 bis 1933/34 (Kulturstaat im partiellen Ausbau mit Verstaatlichung der Schule und Ausweitung der Erwachsenenbildung). Behandelt werden vor allem die Volks- und Mittelschulen sowie die zunehmende Ausdifferenzierung des höheren Schulwesens (Gymnasium, Realgymnasium, Lyzeum). Die Alphabetisierungsquote lag 1849 in Preußen bei 80% der Gesamtbevölkerung. Das höhere Schulwesen wurde 1834 mit dem Abiturreglement und 1837 mit dem normierten Lehrplan vereinheitlicht. Von den vier Millionen Schülern um 1870/71 besuchten nur 1,5% von ihnen ein Gymnasium (S. 57). Die Darstellungen und der Anhang (S. 749ff.) enthalten zahlreiche Statistiken und Zahlenangaben. Ausgangspunkt für die schulpolitische Entwicklung war ALR II 12 §§ 1 ff. Sämtliche Versuche, ein Schul- bzw. Unterrichtsgesetz zu schaffen, schlugen fehl (S. 13ff. für die Zeit ab 1819; S. 28 für die Zeit von 1859-1861). Auch der umfangreiche Entwurf des Kultusministers Falk zu einem Unterrichtsgesetz mit 700 Paragraphen (vgl. Bd. 2, 2, S. 243ff.) scheiterte ebenso wie in der Weimarer Zeit ein Reichsschulgesetz. Lediglich das 1920 ergangene Reichsgrundschulgesetz verpflichtete alle Schüler, die ersten vier Schuljahre gemeinsam zu absolvieren (S. 101). Mit der zunehmenden Bedeutung der Zentralverwaltung nahm die Verrechtlichung des Schulwesens zu unter dem Einfluss der seit den 1870er Jahren verstärkt im Kultusministerium beschäftigten Verwaltungsjuristen (S. 120). Insgesamt bringt der Beitrag viele Hinweise auf das preußische Schulrecht, für das eine Gesamtdarstellung noch immer fehlt. Wie komplex sich das preußische Schulrecht am Ende der Weimarer Zeit darstellte, zeigt die Herausgabe eines Handwörterbuches des gesamten Schulrechts und der Schul- und Unterrichtsverwaltung in Preußen durch Walter Vorbrodt und Karl Herrmann (Leipzig 1930).
Die Politik des Kultusministeriums gegenüber den Wissenschaften und den Hochschulen ist Gegenstand des Beitrags Spenkuchs (S. 135-287). Der Überblick über die Tätigkeit des Ministeriums steht unter der Leitfrage, inwieweit das Ministerium „Wissenschaft und Hochschulen formal verwaltet, großzügig gefördert oder gezielt gelenkt hat“ (S. 137). Für die Zeit von 1817 bis 1866 geht es um die institutionellen und wissenschaftspolitischen Grundlegungen (Gründung der Universität Bonn, wissenschaftspolitisch motivierte Professorenberufungen, Kontroverse über die Einführung von konversatorischen Übungen ab 1843). Im umfangreichsten Abschnitt für die Zeit von 1866 bis 1914/18 befasst sich Spenkuch u. a. mit der Gründung der Universität Münster (1912 abgeschlossen), dem deutsch-amerikanischen Professorenaustausch (zum Besuch amerikanischer Studenten u. a. der Universitäten Berlin und Halle jetzt Peter Watson, Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI., Gütersloh 2010, S. 341ff.; Daniel T. Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform. Aus dem Englischen, Stuttgart 2010, S. 101ff.), mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, den Technischen Hochschulen (1899 formelle Legalisierung des Dipl.-Ing. und des Dr.-Ing.; S. 211) und mit dem sog. „System des Hochschulreferenten Althoff“ (Berufungspolitik, Neugründungen von Hochschulen; S. 172ff.). In diesem Zusammenhang sei auf Bd. 2.2 hingewiesen, wo zwei Schreiben Georg von Belows von 1902 wiedergegeben sind, in denen sich dieser selbst um die freie Professur für mittelalterliche Geschichte bewarb (S. 422ff.). Die Betreuungsrelation an den Universitäten bewegte sich 1880 zwischen 15 (Berlin) und 4 Studenten (Kiel) je Hochschullehrer. Als Kritikpunkte der kaiserzeitlichen Wissenschaftspolitik Preußens stellt Spenkuch u. a. die schlechte Stellung der Nichtordinarien, die Benachteiligung von Katholiken, Sozialliberalen und Sozialisten und den latenten bzw. evidenten Antisemitismus heraus (S. 232ff.). In der Weimarer Zeit, in der zwei liberale und zwei sozialdemokratische Minister dem Kultusministerium vorstanden, ergingen 1923 Grundsätze einer Neuordnung der preußischen Universitätsverfassung und Grundsätze einer Neuordnung der Verfassungsstatuten der Technischen Hochschulen (S. 248ff., 252ff.). Hochschulrechtliche Fragen werden entsprechend der Zielsetzung des Beitrags nur am Rande angesprochen. Anders als das Schulrecht hat sich ein in sich geschlossenes Hochschulrecht wohl erst spät herausgebildet (vgl. hierzu die Darstellung von Erich Wende, Grundlagen des preußischen Hochschulrechts, Berlin 1930). Wichtige Teile des Hochschulrechts waren in den bisher kaum zusammenhängend erschlossenen Universitätssatzungen und Prüfungsordnungen geregelt.
In ihrem Beitrag: „Das Kultusministerium und die Kirchenpolitik 1817 bis 1934“ (S. 289-397) behandelt Rathgeber schwerpunktmäßig zunächst die evangelische Landeskirche bis 1848, den Evangelischen Oberkirchenrat (ab 1850), die neuen Kirchenprovinzen, und die Kirchenverfassung zwischen 1890 und 1914. Das Kultusministerium war nach der Einführung von Union und Agende durch Friedrich Wilhelm III. insbesondere mit dem Agendenstreit und dessen Folgen befasst. Ab 1850 war es dem Ministerium verwehrt, offiziell auf die inneren Angelegenheiten der evangelischen Kirche einzuwirken. Ein Schwerpunkt der Aktivitäten nicht nur des Justiz-, sondern auch des Kultusministeriums war die Ehegesetzgebung (hierzu im Überblick W. Schubert, Gesetzrevision, II. Abt., Bd. 6, 1987, S. XXXIIIff., LXXXIIff.), die 1874 zur Einführung der obligatorischen Zivilehe führte (nicht gleichzeitig im Reich, sondern dies erst 1875, vgl. S. 331, 370). In der Kulturkampfzeit wurde die staatliche Oberhoheit auch gegenüber der evangelischen Kirche gefestigt (u. a. durch Aufsicht über kirchliche Ausbildungsanstalten, Einführung von Staatsexamen für Geistliche usw.). Auf der anderen Seite erhielten die acht älteren Provinzen Preußens eine neue Kirchengemeinde- und Synodalordnung (S. 354f.). Im Gegensatz zur katholischen Kirche, welche die soziale Frage schon früh erkannt hatte, beachtete die evangelische Kirche die sozialen Probleme kaum – Rathgeber spricht insoweit von einer konservativen Wende seit 1890 (S. 334f.) – und entfremdete sich den sozialreformerischen Protestanten. Für die Weimarer Zeit bringt Rathgeber in Bd. 2, 2 den Entwurf eines Gesetzes von 1931 zu dem Vertrag mit den evangelischen Landeskirchen (S. 606ff.). Einen separaten Abschnitt widmet Rathgeber dem Verhältnis des Ministeriums gegenüber der katholischen Kirche. Die Jahre zwischen 1837 und 1840 waren gekennzeichnet durch den Mischehenstreit, der zu fünf später zurückgezogenen Gesetzentwürfen u. a. über gemischte Ehen, über die Abänderung der in der Rheinprovinz bestehenden Gesetze zur Schließung der Ehe sowie über die Gerichtsbarkeit der katholisch geistlichen Gerichte führte (S. 360). In weiteren Abschnitten wird über die weitere Politisierung des Katholizismus, über die Spannungen in der Mitte der 1860er Jahre hinsichtlich der Bischofswahlen und über den Kulturkampf berichtet. Für die Weimarer Zeit wird auf das Konkordat von 1929, wenn auch nur knapp, hingewiesen. Insgesamt behandelt der Beitrag Rathgebers alle wichtigen Fragen der Kirchenpolitik des Kultusministeriums. Bei der Komplexität der Materie wäre mitunter eine etwas ausführlichere Darstellung erwünscht gewesen (etwa für die Kulturkampfgesetze). Vergleichsweise knapp geht Rathgeber auf die Kultusangelegenheiten der Juden, insbesondere auf das grundlegende Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. 7. 1847 ein (S. 380 f.).
Der umfangreichste Beitrag des Bandes beschäftigt sich mit der Kunstpolitik des Kultusministeriums (Bärbel Holtz, S. 399-634). Holtz behandelt nicht sämtliche Künste, sondern ausschließlich die bildende Kunst (S. 403), also nicht die Bereiche Oper und Theater. Neben dem Staat und dem in diesem Zusammenhang vornehmlich tätigen Kultusministerium ergriffen auch Hof und Gesellschaft vielfältige Initiativen zur Kunstpflege und Kunstförderung (S. 402). Der erste Teil befasst sich mit den Künsten „als Interesse der Gesellschaft und Gegenstand der Staatsverwaltung“ (bis 1871), für die erstmals der Kunsthistoriker Fritz Kugler ein umfassendes Programm für die Neugestaltung der Kunstverhältnisse 1846 aufstellte, ein Programm, das erst in den 1860er Jahren sukzessive, insbesondere durch die „sichtbare Zunahme staatlicher Interventionen in den Bereichen der Künste und des Kunstgewerbes“ (S. 611) realisiert werden konnte (erst 1862 Einrichtung eines Kunstfonds). Die Zeit zwischen 1866/71 und 1914/18 wird unter dem Gesichtspunkt der „Vielfalt von Förderinitiativen für bildende Künste und Kunstgewerbe“ behandelt (S. 493ff.). In der Weimarer Zeit war der Grundsatz einer staatlich garantierten Kunstfreiheit zur „generellen Handlungs- und Entscheidungsmaxime“ des Kultusministeriums geworden (S. 613). Rechtsgeschichtlich von Interesse ist vor allem der Beitrag über die Denkmalspflege (S. 574ff.), zu deren rechtlicher Institutionalisierung bereits 1884/87 und dann wieder in der Weimarer Zeit mehrere Gesetzentwürfe vorlagen (S. 591ff.). Ein eigenes Kapitel ist der Naturdenkmalpflege gewidmet (S. 602ff.), zu der in Verbindung mit dem Naturschutz ab 1923 ebenfalls Entwürfe vorlagen, die erst durch das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 zum Erfolg führten.
Über das Gesundheitswesen und die Medizinalpolitik von 1817 bis 1911 berichtet Zilch (S. 635-746), beginnend mit Statistiken zur medizinischen Versorgung in Preußen zwischen 1825 und 1910 (S. 639ff.). Die Zuständigkeiten des Kultusministeriums für das Gesundheitswesen von 1817 an waren das Ergebnis politischer Kompromisse und der Doppelnatur der Medizin als Wissenschaft und angewandter Wissenschaft (Praxis) geschuldet. Die Medizinalpolizei gehörte zwischen 1825 und 1849 zum Innenministerium, das 1911 die volle Zuständigkeit für das Gesundheitswesen erhielt. In dem Beitrag Zilchs geht es u. a. um eine qualifizierte Ausbildung der Ärzte (hierzu das Medizinalreskript von 1825), den Bau von Krankenhäusern, den Ausbau der Gesundheitsfürsorge (Hygiene sowie Seuchen- und Umweltschutz) sowie die Ausbildung von Hebammen und Krankenschwestern. Bahnbrechend war das allerdings nur knapp behandelte Kreisarztgesetz vom September 1899, das die Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsschutzes umfassend regelte. Etwas ausführlicher hätte vielleicht das Arzneimittelrecht behandelt werden sollen (vgl. S. 718ff.); insbesondere wäre insoweit die Mitwirkung Preußens an der Reichsgesetzgebung und im Reichsgesundheitsrat von Interesse gewesen. Aus dem dokumentarischen Teil sei auf die Wiedergabe des Protokolls einer Sitzung der Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen von 1896 hingewiesen, welche die Herauslösung der Ärzte aus der Gewerbeordnung von 1869 forderte (Bd. 2, 2, S. 800ff.), die erst 1935 erfolgte.
Die jeweiligen Beiträge werden abgeschlossen mit einem Literaturverzeichnis und dem Nachweis der einschlägigen archivalischen Quellen insbesondere aus dem Geheimen Staatsarchiv. Leider werden zu den Aktennummern nicht die jeweiligen Inhalte kurz mitgeteilt. In den Darstellungsbänden sollte nachdrücklicher und nicht bloß in den Fußnoten auf die Quellen im Dokumentenband hingewiesen werden, damit diese nicht untergehen. Insgesamt hätte der Dokumentenband angesichts der zunehmenden Verrechtlichung weiter Teile des Wirkungsbereichs des Kultusministeriums vielleicht noch ausführlicher auf die tatsächlich ergangenen und geplanten grundlegenden Regelungen eingehen sollen. Die Kopfzeilen des Quellenbandes sind mit der Mitteilung lediglich des Datums (ohne Nennung der Dokumentennummer und ihrer Zuordnung zu den fünf im Darstellungsband behandelten Wirkungsbereiche) nicht sehr informativ. Ein Sachverzeichnis für beide Bände (insbesondere auch für die vier übergreifenden umfangreichen Tätigkeitsberichte des Kultusministeriums; S. 1-172) wäre für eine detaillierte Erschließung des Inhalts nützlich gewesen. Nicht ganz aus dem Blickfeld sollte dabei für die Zeit ab 1867 die enge Interaktion zwischen den Behörden des Norddeutschen Bundes bzw. des Kaiserreichs und den preußischen Ministerien gelassen werden. Beispielsweise ist die Stellungnahme des preußischen Kultusministeriums zum Entwurf eines Reichsschulgesetzes zur Ausführung des Art. 146 Abs. 2 und 49 der Weimarer Reichsverfassung für die Stellung Preußens zum Schulwesen von nicht unerheblicher Bedeutung (vgl. Walter Londé, Aktenstücke zum Reichsvolksschulgesetz, Leipzig 1928, S. 102-163). Insgesamt vermitteln die oft spannend zu lesenden Beiträge in Bd. 2, 1 im vorgegebenen Rahmen einen umfangreichen Einblick in die Tätigkeitsbereiche des preußischen Kultusministeriums. In den Darstellungen werden viele rechtshistorische Themenbereiche mit genauem Nachweis der einschlägigen archivalischen Überlieferung angesprochen, die für Untersuchungen zur preußischen Rechtsgeschichte von Bedeutung sein dürften.
Kiel |
Werner Schubert |