Das Deutsche Kaiserreich 1890-1914, hg. v. Heidenreich, Bernd/Neitzel, Sönke. Schöningh, Paderborn 2011. 368 S., zahlr. Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Ein - die Herausgeber eingeschlossen - von 18 Autoren und einer Autorin gestaltetes Forschungspanorama des Zweiten Deutschen Kaiserreiches der Nach-Bismarck-Ära bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in den Bereichen Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaft und Kultur entfaltet der vorliegende Sammelband, den Bernd Heidenreich als Hausherr (die Hessische Landeszentrale für Politische Bildung richtete im Mai 2008 die dem Buch zugrunde liegende Tagung in Berlin aus) und Sönke Neitzel als spiritus rector gemeinsam auf den Weg gebracht und mit einem Vorwort und einer rasche Orientierung schaffenden Einleitung versehen haben. Nicht erhebe man den Anspruch, so Neitzel, ein neues Bild des Kaiserreiches zu entwerfen, vielmehr wolle man für ein breites Publikum ein Spektrum skizzieren, „das in zentralen Bereichen neue Forschungsergebnisse und alte Gewissheiten zu einem prägnanten Bild verdichtet“ (S. 12). Nach Studium des Bandes verbleibt beim Leser tatsächlich der Eindruck, dass entgegen traditionell-dogmatischen, mit klaren Positionierungen operierenden Forschungsmeinungen heute für die Wilhelminische Ära salopp gesagt eher der Spruch gilt, dass man nichts Genaues (noch) nicht sagen könne; vieles, was ehedem Geltung als feststehende Erkenntnis beansprucht hat, wird heute aus einer differenzierten Perspektive mit guten Argumenten wieder infrage gestellt.
Dies gilt auf verschiedenen Ebenen zunächst einmal für die Kontinuitätsfrage, das viel strapazierte Bild eines wie auch immer gearteten „deutschen Sonderwegs“. Dem Diktum des im Holocaust endenden deutschen Sonderwegs nimmt Dieter Langenwiesche, der sich mit dem historischen Ort des Deutschen Kaiserreichs auseinandersetzt, die Überzeugungskraft, indem er unter Hinweis auf Arbeiten des jüdischen Historikers Yosef Hayin Yerushalmi und dessen Wortlaut übernehmend aus transnationaler Sicht darlegt, dass „das beispiellose Phänomen eines Staates, der die gezielte Vernichtung der Juden betrieb, umso unerwarteter war, als es sich bei diesem Staat um Deutschland handelte“ (S. 33). Thomas Brechenmacher konstatiert ergänzend in seinem Beitrag zum jüdischen Leben im Kaiserreich, dass dieses Gemeinwesen, „verglichen mit anderen Epochen, eine staatliche und gesellschaftliche Rahmenordnung (bildete), innerhalb derer Juden leben konnten, ohne gravierenden Verfolgungen, gewalttätigen Übergriffen oder gar Pogromen ausgesetzt zu sein“, wenn auch „die Integration […] in die Gesellschaft […] insgesamt misslungen ist“ (S. 141). Dass aus dem deutschen Kolonialismus eine „direkte Kontinuitätslinie ‚vom Waterberg nach Auschwitz‘“ gezogen werden könne, wie einst Jürgen Zimmerer behauptete, widerlegt Horst Gründer mit Blick auch auf legistische Konzepte und der klaren Schlussfolgerung: „Das Dritte Reich war keine Geburt aus dem Geiste des Kolonialismus“; der historische Befund spreche mehr „für eine Einordnung des deutschen Kolonialismus in den Gesamtkomplex der modernen europäischen Expansions- oder Kolonialgeschichte, die ein hohes Maß an Gewalt, auch gegenüber Zivilisten, enthielt“(S. 154f). Für den oft beschworenen Militarismus beklagt Stig Förster in seinem Beitrag das Fehlen vergleichender Studien und hält ebenfalls die Wahrscheinlichkeit für „groß, dass derartige Untersuchungen die These vom deutschen Sonderweg zumindest erheblich relativieren würden“ (S. 159). Selbst für die Innenpolitik sei die Annahme eines solchen Wegs höchst zweifelhaft; Roger Chickering beantwortet die von ihm aufgeworfene und untersuchte Frage, ob das Kaiserreich auf diesem Sektor denn nun durch Dynamik oder Stillstand charakterisiert gewesen sei, zwinkernden Auges mit einem „Ja“ (S. 73).
Seit der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre bildet die Frage, wie es zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommen konnte, einen konstant präsenten Topos der historischen Forschung. Hier spüren Konrad Canis, der die internationale Stellung und die Außenpolitik Deutschlands beleuchtet und die Politiker unter einem „Zwang“, nicht unter Siegeszuversicht handeln sieht, sei es doch „für Deutschland und Österreich-Ungarn […] ein Kampf um die Existenz, um Sein oder Nichtsein“ (S. 186) gewesen, und Jürgen Angelow, der Neudeutungen zum Kriegsausbruch analysiert und resümiert, „die herrschenden Eliten hätten die Chancen der neuen, globalisierten Welt erkennen können und geistig verarbeiten“ und „rechtzeitig die Weichen im Sinne der Kontrolle von Affekten und des Aufbaus von langen, deeskalierenden Handlungsketten stellen müssen“ (S. 199), diesem Problem nach. In der Vergangenheit immer wieder hervorgehoben hat man den kriegsfördernden Charakter des deutschen Flottenausbauprogramms, wie ihn Magnus Brechtken in seinem Beitrag zu „Britannias Bild von Wilhelms Deutschland“ neuerlich betont. Ihm setzt Andreas Rose nach einer Untersuchung der internen Zusammenhänge der englischen Sicherheitspolitik die plausible These entgegen, dass hinter der anti-deutschen Hysterie in England weit mehr „militärpolitische Partikularinteressen und parteipolitische Erwägungen“ (S. 240) steckten als eine reale militärische Bedrohung durch deutsche Schlachtschiffe. Weitere Beiträge behandeln den Blick auf das wilhelminische Deutschland aus der Außensicht Frankreichs (Gerd Krumeich), Österreich-Ungarns (Günther Kronenbitter), Russlands (Jan Kusber) und Japans (Sven Saaler); in Summe sei eine „starke Komplexitätsreduzierung der gegenseitigen Wahrnehmungen meist […] nicht aufzuhalten“ gewesen (S. 21).
Darüber hinaus bearbeitet der Sammelband noch andere, hinsichtlich ihres Erklärungspotentials vielleicht weniger spektakuläre, aber dennoch unverzichtbare Themenfelder. Das betrifft vor allem den durch den Übergang von einer Agrarnation zur Industrienation geprägten, massiven ökonomischen Wandel, den Werner Plumpe mit der Feststellung kommentiert: „Dass das Reich im Jahr 1914 in einer Krise steckte, kann man zumindest aus wirtschaftshistorischer Perspektive glatt verneinen. Das Gegenteil war der Fall“ (S. 59). Ernst Piper und Sabine Meister zeigen in ihren Beiträgen die Vielfältigkeit der Kultur zwischen den Polen der kaiserlichen, reaktionär-restriktiven Kulturpolitik und der Etablierung der Avantgarde auf, Michael Salewski porträtiert den vor allem durch die ökonomischen Veränderungen indizierten Wandel der Rolle der Frau in der Gesellschaft, wobei mit Kriegsbeginn „die Erste Frauenbewegung kläglich scheiterte, indem sie nicht nur nicht die politische Gleichberechtigung der Frauen erringen konnte, sondern das, was sie bisher errungen hatte, wohlgemut auf dem ‚Altar des Vaterlandes‘ opferte“ (S. 123).
Die Herausgeber haben den Inhalt des Bandes in zwei etwa gleich umfangreiche Komplexe („Wirtschaft/Innenpolitik/Gesellschaft“ und „Außenpolitik“) eingeteilt, die jeweils acht in Schwarzweiß illustrierte Studien beinhalten. Die Anmerkungen aller Beiträge sind – neben einem Autorenverzeichnis - als Endnoten im Anhang gesammelt, was umständliches Blättern notwendig macht. Dennoch sollte man an diesem Buch keinesfalls vorbeigehen; wenn auch eigentümlicher Weise kein die prägende Persönlichkeit Kaiser Wilhelms II. behandelnder Text enthalten ist (der Nutzer muss sich mit dem den umstrittenen Regenten in großer Pose präsentierenden Umschlagbild zufriedengeben), bietet es doch eine vorzügliche Einführung in die Geschichte des Wilhelminismus und in die damit verbundenen, heute stärker vergleichend operierenden Forschungsansätze, die zunehmend die Problematik simplifizierender Erklärungsmodelle offenlegen.
Kapfenberg Werner Augustinovic