Darwin, John, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche
1400-2000, aus dem Englischen von Bayer, Michael/Juraschitz, Norbert.
Campus, Frankfurt am Main 2010. 544 S., Ill. Besprochen von Hans-Christof
Kraus.
Der Autor des Buches – es trägt im englischen Original den Titel ‘After Tamerlane. The Rise & Fall of Global Empires 1400-2000‘ – zählt heute zu den führenden britischen Empire-Historikern; er hat mehrere grundlegende Werke zur Dekolonisation und zum Ende des Kolonialreichs seiner Heimat verfasst. Am Nuffield College in Oxford lehrt er derzeit Geschichte des britischen Commonwealth. In seinem neuen Buch erweitert er die eigene Perspektive (und damit diejenige seiner Leser) noch einmal entschieden; er greift weit über die Grenzen von Commonwealth und Empire hinaus und nimmt in einer ungemein eindrucksvollen, materialreichen Darstellung die neuere Gesamtentwicklung der europäischen Großreiche seit dem 15. Jahrhundert zusammenfassend und vergleichend in den Blick.
Wohlinformiert führt er seine Leser, die Spezialisten ebenso wie die nicht fachlich Vorgebildeten, aber am Gegenstand Interessierten, in die neuere Geschichte der großen Reiche ein, die seit dem Ausgreifen der Europäer nach Asien und Amerika letztlich zu ‚Weltreichen‘ wurden. Bei näherer Erörterung zeigt sich – darauf weist der Verfasser immer wieder mit Nachdruck hin –, dass es vor allem die seetechnischen Fertigkeiten der Europäer waren, die ihnen seit Beginn der Neuzeit nach und nach die militärische ebenso wie die ökonomische Überlegenheit über die asiatischen Völker brachten. Vor allem die Möglichkeiten, die durch die konzentrierte und anhaltende Ausbeutung der immensen Bodenschätze des südamerikanischen Kontinents gegeben waren, sicherten zuerst den Spaniern und Portugiesen, später auch den anderen ‚Seemächten‘, die diesen Vorbildern nacheiferten, einen für Jahrhunderte kaum aufholbaren technischen und materiellen Vorsprung.
Ein entscheidendes Ereignis im Rahmen dieses welthistorischen Prozesses vollzog sich seit dem ausgehenden 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: gemeint ist der Machtkampf zwischen den beiden zeitweilig als gleichrangige Weltmächte auftretenden europäischen Nationen Großbritannien und Frankreich. Die anhaltende ökonomische Schwäche der kontinentalen Macht führte endlich zum Sieg des Inselreichs, dem anschließend für eineinhalb Jahrhunderte fast alle Möglichkeiten zur Ausbreitung seiner ökonomischen und politischen Macht vor allem in Asien und etwas später auch in Afrika offenstanden; mit dem Sieg über Frankreich im Siebenjährigen Krieg begann der endgültige, kaum aufhaltbare Aufstieg des britischen Imperiums zum bis 1914 dominierenden Weltreich, das über seine Kronkolonie Indien nicht zuletzt tief ins Innere Asiens bis nach China vorzudringen vermochte.
Eine weitere Grundbedingung für den Aufstieg des British Empire sieht Darwin sehr zu Recht auch darin, dass in Europa zwischen 1815 und 1914 (mit der einzigen Ausnahme des allerdings eher kurzen und auch nur an der Peripherie Europas geführten Krimkriegs 1854-56) eine lange Friedensepoche erlebte, die dazu führte, dass sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch die übrigen europäischen Mächte, darunter das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich, an der Aufteilung der letzten noch ‚freien‘ Gebiete der Welt, jetzt vor allem in Afrika, beteiligen konnten. Dem Aufstieg der europäischen Großstaaten zu Kolonialmächten und Weltmächten in der Folge einer langen Friedenszeit korrespondierte freilich später deren Abstieg im Zeitalter der Weltkriege, das schließlich in einer Orgie europäischer Selbstzerstörung endete. Parallel hierzu entwickelten sich als neue Konkurrenz auf weltpolitischer Ebene die jungen Vereinigten Staaten, die einst als eine Art ‚Ableger Europas‘ entstanden waren und nach 1945 endgültig zur Führungsmacht des Westens aufstiegen.
Das Verhältnis zwischen Europa und Asien ist ein zentraler Gesichtspunkt der vom Autor dargestellten und analysierten Entwicklung; er umkreist ihn im Rahmen seiner universalhistorischen Reflexionen immer aufs Neue. Es ist kein Zufall, dass die erste asiatische Großmacht, die im Zuge eines zwar schmerzhaften, aber letztlich ungemein erfolgreichen ‚Lernprozesses‘ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam aber sicher zur Konkurrenz der Europäer aufstieg, eine den Briten in mehr als einer Hinsicht vergleichbare insulare Macht war: Japan. Und es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass es heute eine asiatische Landmacht ist, die aufgrund ihrer Produktivität und ihrer immensen bevölkerungsmäßigen Ressourcen im nunmehr globalen Aufstieg begriffen ist: China. Der Glaube an die eigene Überlegenheit, der früher den Erfolg der Europäer begleitete, ist heute in ähnlicher Weise bei den Chinesen vorhanden – und man wird sehen, wohin diese neue Entwicklung führen mag; erfreulicherweise enthält sich der Autor aller ungesicherten Spekulationen. Sein Buch bleibt in jedem Fall eine anregende, informative und gut geschriebene Gesamtdarstellung eines immer noch unabgeschlossenen historischen Prozesses; es liefert Informationen, die zum Verständnis auch der Gegenwart unverzichtbar sind. Etwas ärgerlich ist die nicht immer ausreichende Übersetzung (nur ein Beispiel: Mackinders ‚heartland‘ etwa, ein bekannter, auch ins Deutsche übernommener Begriff, wird hier fälschlicherweise mit ‚Kernland‘ übersetzt), erfreulich sind dagegen die beigegebenen, die Darstellung instruktiv ergänzenden und illustrierenden 23 Karten.