Curilla, Wolfgang, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945. Schöningh, Paderborn 2010. 1035 S., 23 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Nachdem Wolfgang Curilla 2006 sein über tausend Seiten starkes Opus zum Thema „Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944“ auf den Markt gebracht hatte, war Christian Hartmann von der Qualität dieser Publikation so angetan, dass er in seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anregte, dass - bei aller Zurückhaltung, die in der Verwendung des Begriffes „Standardwerk“ angebracht sei, „der Curilla“ als unentbehrliches Nachschlagewerk wohl als solches zu gelten habe. Nun hat der 1942 geborene Verfasser, der als Jurist und Politiker in seiner Heimat Hamburg sowohl in der Bürgerschaft als auch im Senat lange Jahre wirkte, sein Augenmerk auf die Vorgänge in Polen gelegt und für diesen Raum eine nicht minder umfangreiche Arbeit vorgelegt.
Polen: darunter versteht die Studie „das Gebiet zwischen der polnischen Westgrenze vor 1939 und der polnischen Ostgrenze nach 1945“, also nur die Räume, „die zur Zeit des Holocaust bereits zu Polen gehörten und auch heute noch Polen sind“ (S. 12); die ehemals ostpolnischen und die ehemaligen deutschen Ostgebiete seien bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt worden. Für den bezeichneten Raum, in dem auch die sechs Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz-Birkenau lagen, untersucht der Verfasser erstmalig flächendeckend den Einsatz der Ordnungspolizei, soweit er sich mit der Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen, wovon dort 1939 und 1941 insgesamt rund 2 Millionen in die Gewalt der Deutschen fielen, befasste. Darunter fällt auch die Begleitung der zusätzlich aus dem ganzen Kontinent anrollenden Deportationstransporte in die Lager, womit dann „deutlich mehr als die Hälfte aller während des Zweiten Weltkriegs ermordeten Juden“ in diesem „Schlachthaus Europas“ zu Tode gebracht wurden (S. 15).
Die deutsche Ordnungspolizei bestand im Wesentlichen aus drei Elementen: den Polizeibataillonen, der Schutzpolizei in den größeren Städten und der Gendarmerie auf dem Land; diese Struktur wurde von den Zeugen häufig nicht durchschaut und dann terminologisch entsprechend inkorrekt wiedergegeben. Das Ordnungsmuster, dem der zentrale Teil des Buches folgt, sind die eingesetzten Einheiten der Ordnungspolizei, nur in begründeten Ausnahmefällen wird eine regional orientierte, zusammenfassende Darstellung vorgezogen; Entwicklungen bei den jeweiligen Einheiten sollen damit beobachtbar und Rückschlüsse auf die subjektiven Motivationen der beteiligten Polizisten möglich werden. Die Einheiten operierten in den annektierten Gebieten, dem Bezirk Bialystok sowie in den Distrikten Krakau, Radom, Warschau und Lublin; in Summe „nahmen eher 30.000 als 20.000 deutsche Ordnungspolizisten am Judenmord in Polen teil“ (S. 837). Für Polen und die Sowjetunion ergebe sich, dass „mindestens 59 Polizeibataillone, 4 weitere Polizeiregimenter, 9 zusätzliche Polizeikompanien, 7 Reitereinheiten, eine Polizei-Nachrichtenabteilung, eine Ausbildungs-Abteilung, eine Artillerieabteilung, eine Polizeischule und zahlreiche Einheiten der stationären Schutzpolizei sowie der Gendarmerie an der Exekution von Juden oder ihrer Deportation in Vernichtungslager teilhatten“, die Gesamtzahl der Tatbeteiligten aus den Reihen der Ordnungspolizei habe „eher bei 40.000 als bei 30.000“ gelegen. Wie der Verfasser errechnet, wirkten somit Ordnungspolizisten am Tod von mindestens 62,6 Prozent aller Holocaust-Opfer (das sind 3,6 von 5,75 Millionen Toten) mit, wegen der Dunkelziffer und anderer Unschärfen liege aber „der tatsächliche Anteil […] mit Sicherheit noch deutlich höher“ (S. 850f.).
Der sich aufdrängenden Frage nach den Motiven und dem individuellen Verhalten der Täter geht Wolfgang Curilla anhand von überlieferten Fallbeispielen und von Erklärungsmodellen der Fachliteratur nach. „Zahlreiche fanatische Nationalsozialisten, unerbittliche Judenverfolger und freiwillige Schützen“ (S. 875), denen zum Teil pervers-sadistische Gewaltexzesse zuzurechnen sind, standen neben Ordnungspolizisten, „die die Verfolgung und Ermordung der Juden ablehnten und eine Teilnahme an Exekutionen verweigerten oder sich ihrer zu entziehen versuchten“ (S. 879). Die große Mehrheit der Männer mag wohl durch systematische Vorbereitung, Verübung und Gewöhnung an den Mord, durch Autoritätsgläubigkeit, Gruppendruck und Furcht vor Sanktionen auf der einen, Karrierestreben auf der anderen Seite, durch Polarisierung und situative Radikalisierung des Feindbildes und einen durch die Nationalsozialisten forcierten, neuen normativen Referenzrahmen, der „die Erniedrigung und Verfolgung anderer Menschen nicht verurteilte, sondern forderte und in späteren Jahren auch vorsah, dass es notwendig und gut sei, zu töten“ (S. 885), schuldig geworden sein. Während die in Polen und der Sowjetunion nach Kriegsende strafrechtlich zur Verantwortung gezogenen Polizisten mit relativ strengen Sanktionen bis hin zur Todesstrafe belegt wurden, fielen die später von Gerichten der Bundesrepublik Deutschland verhängten Urteile - nicht zuletzt aufgrund von Beweisproblemen - recht moderat aus. Mehrere Beschuldigte haben sich durch Suizid einem drohenden Strafverfahren entzogen.
Der aktenmäßige Niederschlag dieser justiziellen Aufarbeitung, im Einzelnen mehr als 160 Urteile, über 220 staatsanwaltliche Entscheidungen und hunderte im Zuge der Ermittlungsverfahren protokollierte Zeugenaussagen, zu einem großen Teil publiziert in Christiaan Frederik Rüters und Dick W. de Mildts umfangreichen Urteilssammlungen „Justiz und NS-Verbrechen“ (1968ff., bisher 44 Bde) sowie „DDR-Justiz und NS-Verbrechen“ (2002ff., 14 Bde), dazu viele in verschiedenen Archiven lagernde, bislang unveröffentlichte Schriftsätze, liefert die materielle Hauptquelle des vorliegenden Werks. Die Unterlagen dokumentieren die erfassten Einsätze minutiös und in unterschiedlichem Umfang – vom lapidaren Zweizeiler, wie: „Der 3. Zug der 2. Kompanie [des Reserve-Polizeibataillons 101] erschoss am 2. 10. 1942 über 100 Juden in Parczew, womit die Liquidierung des dortigen Ghettos abgeschlossen war“ (S. 716), bis hin zur mehrere Seiten umfassenden, minutiösen Schilderung, so jene der überaus grausamen Exekution der jüdischen Einwohner von Jozefow durch den selben Verband (S. 709: „[…] Diese Nahschüsse führten zu grauenhaften Verletzungen. Schädel wurden auseinandergerissen, die Uniformen der Schützen waren bald mit Knochensplittern, Gehirnteilen und Blutspritzern bedeckt. Der Polizist Brä. bemerkte an seinem Seitengewehr ein halbes Kindergehirn. Er schnippte es mit dem Daumen weg, wischte die Hände am Laub ab und musste sich übergeben […]“), der am 13. 7. 1942 gut 1000 bis 1500 Menschen zum Opfer fielen und die ein teilnehmender Bataillonsangehöriger später mit den vielsagenden Worten kommentierte: „In der Kaserne haben sie uns zu anständigen Polizisten erzogen, und was sind wir draußen geworden? Schweine und Mörder!“ (S. 710).
Wenn sie auch nicht immer selbst töteten, sondern oft „nur“ begleiteten, eskortierten und absperrten, sei nach Curilla „angesichts der Intensität und des zahlenmäßigen Umfangs der Teilnahme von Ordnungspolizisten an der Shoah […] die Schlussfolgerung unausweichlich: Neben SS-Angehörigen und Hilfswilligen in den Vernichtungslagern stellte die deutsche Ordnungspolizei das entscheidende Instrument bei der Durchführung des Judenmords dar“, war sie doch „räumlich flächendeckend, zeitlich permanent und zahlenmäßig meist stärker als die anderen Besatzungsorgane vorhanden“ (S. 898). Dieser Befund stellt somit ein weiteres Korrektiv älterer Forschungspositionen dar, die die in Nürnberg zur verbrecherischen Organisation erklärte SS gleichsam als Alleinverantwortliche für die Judenvernichtung identifizierte; nach der Entzauberung des Mythos von der „sauberen“ Wehrmacht durch Erforschung ihrer Tatbeiträge und dem kritischen Blick auf die Verwicklung unterschiedlicher Verwaltungsinstitutionen offenbart nun die tragende Rolle, die der Ordnungspolizei in diesem Kontext zukam, immer mehr die breite Basis, auf die sich der nationalsozialistische Staat bei der Umsetzung der Judenvernichtung stützen konnte und die diese wohl erst möglich machte.
In der Ausstattung des Bandes ist besonders das 20 Seiten umfassende Verzeichnis gerichtlicher und staatsanwaltlicher Entscheidungen hervorzuheben, das zusammen mit dem Register der Einheiten und Dienststellen gezielte Einzelrecherchen optimal unterstützt. In diesem Sinne ist es auch ein Vorteil, dass die Namen fast aller angeführten Polizeiangehörigen im vollen Wortlaut genannt werden.
Kapfenberg Werner Augustinovic