Carl Schmitt Tagebücher 1930
bis 1934, hg. v. Schuller, Wolfgang in Zusammenarbeit mit Giesler,
Gerd. Akademie, Berlin 2010. XII, 517 S., 10 Abb. Besprochen von Bernd
Rüthers.
I. Quellenlage
Nach den Tagebüchern Schmitts von Oktober 1912
bis Februar 1915 und denen seiner Militärzeit von 1915 bis 1919 sowie dem
„Glossarium“ mit den Aufzeichnungen von 1947 bis 1951 sind nun seine Tagebücher von 1930 bis 1934 erschienen,
ediert von Wolfgang Schuller und Gerd Giesler.
Die Edition umfasst fünf „Haupttagebücher“ von
1930 bis 1934 (S. 3-333), einen Taschenkalender Schmitts vom 1. Januar bis zum
September 1934 (S. 334-354) sowie drei „Parallel-Tagebücher“ (S. 355-454). Zur
„Wahrheit“ und dem Quellenwert dieser Dokumente sowie ihrem komplizierten
Verhältnis zueinander vergleiche man das editorische Vorwort und das Nachwort
Wolfgang Schullers (S. VIIf. und 456.).
Im „Anhang“ findet der Leser u. a. ein
informatives Nachwort des Herausgebers Schuller mit seiner Würdigung zur Politik
und Person Carl Schmitts (S. 459-467); ferner den lesenswerten Entwurf der
Ansprache Schmitts am „Begrüßungsabend der Juristischen Fachschaft am 31. Mai
1933“ in Berlin, in dem er von der „Verbrennung undeutscher Schriften vor
unserer Kölner Universität“ am 17. Mai 1933 berichtet.
II. Inhalte
451 Seiten Tagebücher aus vier Jahren sind eine
mühsame Lektüre, zumal die Inhalte auch den an Person und Werk des Autors
interessierten Leser nicht unbedingt vom Stuhl reißen. Dazu tragen einige
Stereotype bei der Schilderung des Tagesablaufes bei.
1. Die häufigsten sind „müde“ beim Erwachen und „todmüde“
beim zu Bett Gehen. Nur in den Tagen erhöhter politischer Anspannung oder
Aktivitäten – etwa beim Reichsgerichtsprozess zum „Preußenschlag“ 1932, in den
für ihn unsicheren Wochen um die „Machtübernahme“ sowie bei dem Beginn seiner NS-Karriere
(Mitglied des Preußischen Staatsrates“) – verschwinden sie zeitweise.
2. Eine zweite Stereotype in den Aufzeichnungen
des Autors sind permanent dokumentierte, meist undefinierte Traurigkeiten und
Depressionen, Verzweiflungen, vor allem aber häufige, teils personenbezogene,
teils gruppenbezogene pauschale Angstzustände des Autors aller Art (z. B.
„„Attendorn. Scheußliches Pfaffennest, Angst vor den Paffen“, S. 103; „Wut über
die Pfaffen“, S. 259; „unheimlich, Juden und Sozialisten“, S.130; „…traurig
über die Herrschaft der Juden und Freimaurer und Sozialdemokraten“, S. 198).
Seine Ängste erscheinen oft als ein Reflex
seines starken fachlichen und politischen Ehrgeizes, der schon in den früheren
Tagebuchaufzeichnungen als ein Kennzeichen seiner Lebenseinstellung durchgehend
auftritt. Es geht ihm lebenslang um Anerkennung, fachlichen, gesellschaftlichen wie finanziellen
„Aufstieg“, politischen Einfluss, um das „Dabeisein“ ganz „vorn“ bei der
Ausübung politischer Macht.
Dem starken Ehrgeiz auf dem Weg „nach oben“
entspricht eine permanente Angst, nicht genügend beachtet, anerkannt,
kritisiert, missachtet oder gar verachtet und zum Gespött zu werden, was ihm
bei seinen privaten Eskapaden seit dem Scheitern seiner ersten Ehe als ein
permanentes Risiko erscheinen konnte.
Entsprechend sensibel, nicht selten panisch
reagiert er auf kritische Einwände gegen seine wissenschaftlichen Beiträge und
Warnungen vor deren politischen Konsequenzen. Sein „Freund-Feind-Schema“ als
Kriterium des „Politischen“ wendet er rigoros und ständig auf seine kollegialen
und gesellschaftlichen Beziehungen an. Wer nicht für ihn ist, wer Auffassungen
vertritt, die den seinen zuwider laufen oder wer als kollegialer Konkurrent
seiner Karriere gefährlich werden könnte, ist für ihn ein „Feind“ im Sinne
seiner Definition. ‚Er muß ausgeschaltet werden’.
Die aus Stimmungsschwankungen, Launen und
Ängsten entstehenden Gefühlswallungen betreffen auch seine Einstellungen zu
seinen „Freunden“, Gönnern und Lieblingsschülern, etwa Hugo am Zehnhoff (vgl.
S. 17), Ernst Jünger und Ernst Forsthoff. Das ist bereits aus den früher
publizierten Tagebüchern bekannt. Sie werden, wie zum Beispiel Ernst Forsthoff
(S. 306), mit so freundlichen Beiwörtern wie „scheußlicher Kerl, Ekel und Wut“
bedacht. Die Gegensätze zwischen den Tagebuchnotizen und den publizierten
Briefwechseln rechtfertigen den mündlichen Kommentar seines Biographen Reinhard
Mehring, der von einem „fortgesetzten Freundesverrat Schmitts“ spricht.
3. Das dritte Stereotyp, das alle Haupttagebücher von Anfang bis Ende
durchzieht, ist Schmitts unverhohlene, oft leidenschaftliche Abneigung gegen
und Angst vor „den Juden“ und allem „Jüdischen“. Sie richten sich gegen
einzelne Personen („Redakteur Kayser, ein scheußlicher Ostjude“, S. 4; seinen
früheren Förderer M. J. Bonn „eklig, dieser Jude“, S. 229; gegen den „jüdischen
Nihilismus“ (S. 20) und gegen die von „den Juden“ drohenden Gefahren („Angst
vor den Juden und ihrem Haß“, S. 92, 147; „Furchtbare Angst vor den Juden, auch
Erwin Jacobi“, S.255 und passim). Durchgängig wird fast jede Begegnung mit
jüdischen Menschen in den Aufzeichnungen mit dem Zusatz „Jude“ versehen
(„Scheußliche Judenweiber als Publikum“, S. 92). Einen Auftritt vor Angehörigen
des Postzentralamtes kommentiert er: „schöne Vorlesung… kein einziger Jude!“
(S.27).
Wenige jüdische Kollegen finden zeitweise Akzeptanz (etwa O. Kirchheimer, S.146: „ich
habe ihn gern“; später schreibt er über ihn: „scheußlich, dieser Jude“, S.231;
anders zu Leo Strauß, S.149: „ein feiner Jude“), zu Ernst Wolff (S. 17)
gleichlautend: „ein feiner Jude“). Die Gründe für die Schwankungen und
Differenzen bleiben unklar. Solche Ausnahmen gibt es mehrfach, weil er
jüdischen Freunden und Gönnern in den Anfängen seiner Laufbahn viel zu
verdanken hat, etwa der Familie Eisler oder seinem Förderer Moriz Julis Bonn,
dem er seine erste Berufung nach der Habilitation zu verdanken hatte. Sein
entschiedener Antisemitismus hinderte ihn jedoch nicht, im Jahr 1930 zwei
Huldigungen auf den jüdischen Staatsrechtslehrer und Politiker Hugo Preuß zu
veröffentlichen, der die Grundlagen der Weimarer Verfassung gelegt hatte. Das
brachte fachliches Prestige.
Seine Notizen dokumentieren insgesamt
durchgängig einen oft geradezu geifernden Antisemitismus – speziell gegen missliebige
Gönner und Kollegen. Die Tiraden gegen jüdische Kollegen, besonders wenn sie
abweichende Auffassungen vertreten, .sind fast zahllos: R. Smend, E. Kaufmann,
M.J. Bonn („elender Jude“, S. 247), H. Kelsen, H. Heller, H. Kantorowicz;
„scheußlich diese Juden, ihr hinterlistiger, intriganter, taktloser
Geschäftssinn“; „Vorsicht und Angst“, „Wut über die Juden“ S. 184f., 204 und
passim). Diese Haltung ist tief verwurzelt und beherrscht ihn lange vor der
NS-Zeit. Dabei spielen offenbar auch Ängste gegenüber fachlichen Konkurrenten
mit abweichenden Positionen eine erhebliche Rolle.
Schmitts intellektuelle wie charakterliche
Entgleisungen auf der von ihm organisierten und geleiteten Tagung zum „Kampf
der deutschen Rechtswissenschaft gegen den jüdischen Geist“ im Oktober 1936
waren also keine opportunistische Wendung seiner antisemitischen Überzeugungen.
Die Wahl des Zeitpunktes der Tagung mag durch seine Angst vor den Angriffen der
Gestapo und einiger missgünstiger Kollegen (Eckhardt, Höhn, Koellreutter)
veranlasst gewesen sein. Sie hielten – vielleicht zu Recht – seine Bekenntnisse
zum Nationalsozialismus für blanken Opportunismus. Seine Judenfeindschaft entsprach
andererseits einer lange vorhandenen, tief verwurzelten Überzeugung, die in den
Tagebüchern vielfach bestätigt wird. Auch der von Schmitt auf dieser Tagung
organisierte und proklamierte „literarische Judenstern“[1]
wird in den Tagebüchern schon Jahre vorher durchgängig praktiziert, indem alle
ihm begegnenden Juden als solche und überdies meistens mit schmähenden
Adjektiven (“eklig“, „scheußlich“) gekennzeichnet werden.
Am 26. 2. 1933 erzählt ihm ein Bekannter aus
Marburg, er habe erlebt, wie einem Rabbiner der Bart abgeschnitten worden sei.
Er als katholischer Priester habe ihn schützen wollen. Schmitts Kommentar: „Wir
lachten ihn aus“ (S. 286).
Auffällig sind die Auslassungen bemerkenswerter
Vorgänge in den Tagebüchern. So fehlt etwa bei den zahlreichen Notizen zu
seinem Ruf nach Köln 1932 die Tatsache, dass er bei dieser Gelegenheit seinem
damals schon weltweit berühmtem Kollegen Kelsen einen devoten Antrittsbesuch in
dessen Wohnung gemacht hat.[2]
Unter dem 18. 4. 1933 berichtet er, dass der Dekan Nipperdey wegen der
Vertreibung Kelsens von seinem Lehrstuhl in Köln mit einer von allen übrigen
Kollegen unterschriebenen Eingabe der Fakultät nach Berlin reist: „…ich
unterschrieb die lächerliche Eingabe…nicht, elende Gesellschaft, sich für einen
Juden derartig einzusetzen, während sie tausend anständiger ‚Deutscher
kaltblütig verhungern und verkommen lassen…. Diese Macht der Juden, hielt mich
aus der Sache heraus. Nipperdey ist vielleicht auch ein Jude.“
Der Name „Gurian“ taucht in Schmitts Notizen ein
einziges Mal (1. Paralleltagebuch, 15. April 1934, S. 378 auf. „Warum die
jüdischen Apostel beim praktischen Katholizismus? Gurian“. Waldemar Gurian, zur
katholischen Kirche konvertierter jüdischer Publizist, langjähriger Schüler,
Verehrer und häufigere Gast im Hause Schmitt, war in die Schweiz emigriert und
hatte dort die seltsame Wendung Schmitts zum Nationalsozialismus 1933
öffentlich gemacht.
4. Schmitt unterhielt ein gastfreies Haus.
Vielfältig waren seine gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Aktivitäten. Sie entsprechen seinem weiten Bildungs- und Interessenhorizont.
Hinzu kommen zahlreiche Vortragsreisen. Das alles dient gleichzeitig dazu,
Netzwerke zur Verfolgung seiner ehrgeizigen Lebensziele (soziale Anerkennung,
wissenschaftliche Karriere, politischer Einfluss) aufzubauen. Daneben spielen
auch seine Wünsche nach vielfältigen Informationskontakten, Unterhaltungsbedürfnisse
und sein Verlangen nach Geselligkeit eine Rolle.
Ausgeprägt ist seine Kontaktsuche in gehobenen
Kreisen der Regierungs-, Verwaltungs- und Medienhierarchie sowohl vor wie nach
1933. Gern hätte er den Reichskanzler Brüning beraten, aber dazu kam es nicht.
Die Reichsregierung berief ihn im Sommer 1932 zunächst als Berater, später als
Prozessvertreter in dem Streit über den Preußenschlag. Das Verfahren vor dem
Reichsgericht verschaffte ihm die ersehnte politische Aufmerksamkeit. Im Herbst
bekam er engere Kontakte mit der Führung des Reichswehrministeriums und dessen
Minister von Schleicher, dem späteren kurzzeitigen Reichskanzler. Auch zu von
Papen hatte er engere Kontakte. Von Schleicher wollte noch im Dezember 1932 den
Machtantritt Hitlers verhindern, wovon Schmitt Kenntnis hatte. Der
Zentrumsvorsitzende Prälat Kaas griff
Schmitt deshalb Ende Januar 1933 in einem Brief an den Reichspräsidenten
als Verfassungsfeind an.
Der Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933
betrifft die Grundlagen seiner Karrierepläne und erzwingt aus seiner Sicht eine
politische Neuorientierung. Von den einschneidenden Ereignissen der
unmittelbaren Folgezeit (Reichstagsbrand, Notverordnung vom 28. 2. 1933,
Reichstagswahlen und Ermächtigungsgesetz) ist in den Tagebuchblättern kaum die
Rede. Aber Schmitt stellt sich auf den Boden der neuen Tatsachen.
Am 31. 3. 1933 wird er aufgefordert, am
Reichsstatthaltergesetz (Gleichschaltung der Länder mit der Hitlerregierung)
mitzuwirken. Am 27. 4. 1933 beantragt er zusammen mit Frau Duschka die
Mitgliedschaft bei der NSDAP und kauft am selben Tag „erleichtert“ das
Parteiabzeichen. Am 29. 4. und 1. 5. berichtet er vom begeisterten Mitsingen
des Horst-Wessel-Liedes – in Frack und Zylinder im Gürzenich.
Es beginnt eine Zeit hektischer Aktivitäten und
Veränderungen seines Tagesablaufs. In den Tagebuchnotizen finden sich nur noch
spärliche, stichwortartige Hinweise. Er lernt Göring kennen, der ihn am 11.
Juli 1933 in den Preußischen Staatsrat beruft und von dem er sich auch später
geschützt fühlt. Er hat ständig „Angst, zur Strecke gebracht zu werden“ (S.
315). Der „Reichsrechtführer“ Hans Frank machte ihn im November 1933 zum
„Reichsfachgruppenleiter“ Gruppe Hochschullehrer im NS-Rechtswahrerbund. (Er
freudig: „Ich bin Ihr Gefolgsmann“, S. 310).
Es beginnen drei Jahre hektischer Produktion des
Autors von „Wendeliteratur“ (ca. 40 Beiträge in drei Jahren), in denen er die
NS-Diktatur als „Nationalsozialistischen Rechtsstaat“ feiert.
5. Auffällig schweigsam sind die Tagebücher zu
den Vorgängen um den 30. Juni 1934. Auf den Befehl Hitlers wurden mindestens
vier dem Autor bekannte, ja geistig nahestehende Menschen ermordet, die mit der
SA und einem angeblichen „Röhm-Putsch“ mit Sicherheit nichts zu tun hatten.
Unter den etwa 85 Getöteten – ganz überwiegend Nicht-Nationalsozialisten und
NS-Gegner – waren das Ehepaar von Schleicher (Schmitt hatte mit dem vormaligen
Reichskanzler eng zusammengearbeitet), Edgar Jung (Sekretär und Redenschreiber
des Schmitt eng bekannten Vizekanzlers Franz von Papen) und Erich Klausener
(Ministerialdirektor im preußischen Innenministerium und Vorsitzender der
Katholischen Aktion in Berlin).
Das Haupttagebuch schweigt zu diesen
Ereignissen. Am 13. Juli hielt Hitler vor dem Reichstag eine Rede zu dem
ominösen Gesetz vom 2. Juli 1934, das die
„Maßnahmen der Staatsnotwehr“ für rechtmäßig erklärte (RGBl. 1934, I, S.
529).
Im 1. Augustheft der „Deutschen Juristenzeitung“
erschien von Schmitt der Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ (DJZ 1934, Sp.
945-950). Der Beitrag feierte Hitler quasi als Retter des Vaterlandes. Die
ersten Massentötungen des Regimes ohne Gerichtsverfahren wurden als Staatsnotwehr
gerechtfertigt. „Der Führer schützt das Recht…, wenn er im Augenblick der
Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht
schafft…“ Im Taschenkalender vermerkt der Autor am 22. Juli: „Aufsatz Der
Führer schützt das Recht, guter Dinge“.
Der Herausgeber hält die Intentionen des
Aufsatzes für ungeklärt, meint sogar, mit Schmitt-Verehrern wie E. W. Böckenförde
übereinstimmend, eine versteckte defensiv-rechtsstaatliche Absicht darin
entdecken zu können (S. 462). Er führt an, als Helfer und Berater von
Schleichers sowie als Autor in katholischen Publikationen und Verlagen habe
sich Schmitt in diesen Tagen gefährdet gefühlt. Unterstellt man seine Angst um
die eigene Existenz als Motiv, so hätte Schmitt, um die eigene Haut zu retten, gegen
alle rechtlichen und moralischen Grundsätze, den Lobpreis der Mörder
angestimmt. Warum konnte er nicht schweigen? Was hatte ihn gezwungen, wenige
Tage nach den Morden diesen Artikel zu schreiben? Sah er eine Karriere-Chance?
Offen sei, so Schuller, auch die Frage, ob
Schmitt den Artikel vielleicht in Absprache mit der Reichswehrführung verfasst
habe. Die Reichswehrführung hat zu den Mordaktionen Hitlers beharrlich
geschwiegen, obwohl zwei ihrer Generäle, von Schleicher und von Bredow,
umgebracht worden waren. Die Motive für dieses Schweigen sind viel diskutiert
worden. Mit diesem Schweigen hat die Reichswehr jedenfalls die Chance eines
Widerstandes gegen den skrupellosen Diktator versäumt und zugleich die Ehre der
Armee verloren. Hätte es die vom Herausgeber als möglich unterstellte Absprache
mit Schmitt gegeben, so wäre der Aufsatz eine Beihilfe zur Verschleierung der
Mordtaten gewesen.
Die großen Formulierungskünste Schmitts helfen
nicht über die Frage hinweg, warum sich der Staatsrechtslehrer überhaupt
angesichts dieser offenkundigen Morde zu einem Beitrag bereit fand, der in der
Öffentlichkeit nur als Rechtfertigung des offenkundigen Staatsverbrechens
gelesen werden konnte. Warum konnte oder wollte er nicht, betroffen von der
Dimension des Verbrechens, schweigen? Zusätzlich ist daran zu erinnern, dass
die Publikation Anfang August 1934 erschien. Bedenkt man die Vorlaufzeit der
Drucklegung, so wurde der Aufsatz geschrieben, als die Ermordeten, darunter
ehemalige enge Partner des Autors, noch nicht beerdigt waren. Hier wie an
vielen anderen Stellen der Tagebücher, taucht die Frage auf, welches Verhältnis
der Autor zu Begriffen wie Loyalität oder gar Treue hatte.
6. Ein durchgehendes Thema der Tagebücher ist
der Umgang des Autors mit seiner Sexualität. Regelmäßig verzeichnet er eigene
Lust auf Geschlechtsverkehr mit Hinweisen auf Gefühle der Geilheit und
Erregung. Seine Notizen dazu sind von ungewöhnlicher Offenheit. Sie sind vor
dem Hintergrund seiner zwei Ehen zu sehen, die erste mit der vermeintlichen
serbischen Reichsgräfin Pawla
Dorotic, einer Tänzerin, die zweite mit seiner früheren serbischen Studentin
Duska Todorovic. Einer seiner namhaften Schüler und Gefährten, Rüdiger Altmann[3],
hat gegenüber dem Verfasser mehrfach geäußert, man könne C. Schmitt nur
verstehen, wenn man die Geschichte seiner ersten Ehe mit einer „Hochstaplerin
aus dem Rotlichtmilieu“ kenne.[4]
Die einschlägigen Notizen beginnen am 29. 1. 1930:
„Angeregt über die Friedrichstraße, mit Hure zur Augsburger Straße; sie ist
blond und dumm, aber nett und falsch… Gleichgültig nach Hause… Mit Duschka zu
Abend gegessen, durch den Tiergarten spaziert.“ Es folgt dann eine sorgfältige,
wie es scheint lückenlos konzipierte Dokumentation seiner breit gestreuten
sexuellen Aktivitäten, die der Herausgeber (vielleicht etwas euphemistisch?)
„Liebesleben“ nennt (S. 465). Seine Neigung zu regelmäßigen Kontakten mit
Prostituierten ist bereits aus seiner Bonner Zeit bekannt. Magda, eine seiner
Bonner Geliebten, spielt in seinen heißen erotischen Erinnerungen noch in
diesen Berliner Notizen an fünfzehn Stellen eine von Sehnsucht geprägte Rolle.
Die Lektüre führt für die Jahre 1930-1934 zu einer beachtlichen Liste. Der
„Hure“ von der Friedrichstraße folgen viele weitere namenlose von anderen ihm
bekannten Treffpunkten in Berlin. Elf Damen mit Mehrfachkontakten werden mit
Vornamen aufgeführt. Unter den „Geliebten“ sind auch solche aus gehobenen
Milieu, darunter nicht wenige Studentinnen und verheiratete Frauen. Die „Liebe“
findet an allen denkbaren Orten, etwa auf Parkbänken oder im Auto, in der Regel
nach Alkoholgenuss statt.
Eine Sonderrolle spielt Frau Hella Ehrik. Sie
war schon 1924 seine Geliebte gewesen. Am 11. 2. 1930 wird diese Beziehung neu
aufgenommen und dauert über vier Jahre. Jeder Geschlechtsverkehr mit Hella wird
eingehend aufgezeichnet. Auch vor der erkrankten Ehefrau Duschka wird die
Beziehung nicht verheimlicht. Er bringt die alte und neue geliebte auch mit in
die eheliche Wohnung (S. 158f.): „Dann aßen wir, während Duschka das Kind (die
Tochter Anima) versorgte, tranken sehr schönen Bernkasteler Doktor …, war
wieder sehr verliebt und glücklich.“ Er verfällt der Anziehungskraft ihres
„süßen weißen Fleisches“ zeitweise bis zur „Raserei“. Die Liaison ??? währt – parallel zu
dauernden, zeitnahen Erwähnungen seiner „lieben“, „freundlichen“, „schönen“,
„klugen“ und „guten“ Duschka – bis zum April 1934. Die Nebenfrau führt zu
Konflikten mit der Gattin. Auch während dieser Beziehung sind andere
Seitensprünge nicht ausgeschlossen.
Der Leser fragt sich, welche Beweggründe den
Autor zu solchen Dokumentationen seiner Intimsphäre veranlasst haben könnten.
Die Frage ist nicht neu. Auch frühere Tagebücher mit ähnlichen Passagen, speziell
zu den Jahren 1915-1919, wurden bereits veröffentlicht. Der Herausgeber äußert
dazu eigene Vermutungen (S. 458). Er meint ferner, die biographischen Fakten
Schmitts würden im Verhältnis zu seinen Schriften für ein Gesamturteil über
Person und Werk zunehmend Bedeutung gewinnen. Für ein solches Urteil seien
schnelle Deutungen und Bewertungen gerade im Hinblick auf die Brisanz der
Aufzeichnungen dieser Jahre des Umbruchs unangebracht. Jedenfalls geben die
Notizen Auskunft über das Innenleben einer Person der Zeitgeschichte, die in
ihrer Epoche und bis heute ein beträchtliches Echo findet.
7. Interesse verdienen schließlich die täglichen
Notizen zum regelmäßigen Alkohol-, vor allem Weingenuss des Autors. Seine
Bemerkungen dazu bezeugen Kennerschaft der nationalen und internationalen Spitzenweine sowie einiger Trinkfestigkeit.
Die eher seltenen Abstinenztage werden sorgfältig vermerkt. Akribische Berichte
über Ausschweifungen und folgende Übelkeiten runden das Bild. Ein innerer
Zusammenhang mit seinen häufigen Angstzuständen verschiedenster Art scheint
nicht fernliegend.
III. Fazit
Tagebücher sind Selbstdarstellungen. Sie sind
primär aus der Sicht und Erlebniswelt des Autors zu deuten. Gerade für die
bewegten Jahre 1930-1934 bieten die Tagebuchblätter Anhaltspunkte für eine
realistische Sicht von Person und Werk. Schmitt war zweifellos ein hochbegabter
und wortmächtiger Staatsrechtslehrer. Seine Fähigkeit, politische und
gesellschaftliche Entwicklungen wahrzunehmen, treffsicher zu analysieren und
auf den Begriff zu bringen, hatte genialische Züge. Sein Bildungshorizont
reichte weit über die Jurisprudenz hinaus.
Sein Ehrgeiz wetteiferte mit seiner Intelligenz.
Missgünstige Kollegen haben das mit seiner relativen Kleinwüchsigkeit in
Verbindung gebracht. Auch als die Skrupellosigkeit des NS-Regimes offen zu Tage
lag (spätestens nach dem 30. Juni 1934), stellte er sich weiter mit
gesteigertem Eifer unbedenklich „auf den Boden der neuen Tatsachen“.
Sein politisches Denkschema der Einteilung der
Welt in Freunde und Feinde übertrug er auch auf seine Karrierevorstellungen.
Konkurrenten, Kritiker und Vertreter abweichender Auffassungen waren „Feinde“.
Als „Freund“ war er unzuverlässig, kritikempfindlich und launischen Stimmungen
unterworfen. Zu Begriffen wie Loyalität oder gar Treue in freundschaftlichen
Beziehungen, zu Dankbarkeit gegenüber Gönnern und Wohltätern hatte er ein
distanziertes Verhältnis. Als Ehemann unterhielt er, neben ständigen
Beteuerungen über seine „gute, liebe, verständige, zärtliche, kluge, schöne
Duschka“, permanent Beziehungen zu insgesamt mehr als 15 Dirnen und anderen
Nebenfrauen. Seine mehrjährige geliebte Hella lud er in die eheliche Wohnung zu
Zärtlichkeiten ein. Ohne einer schnellen Deutung oder Bewertung zu verfallen,
vor welchen der Herausgeber warnt (S. 458), wird man fragen dürfen oder müssen,
ob Adenauer, der als Oberbürgermeister zu der Berufungsliste Stellung nehmen
musste, vielleicht doch Recht hatte, als er 1932 den juristischen Dekan vor der
Berufung Schmitts warnte, weil dessen „schwieriger Charakter“ bekannt sei?
Seine Tagebücher, die jetzt veröffentlichten wie die schon früher publizierten,
geben Auskunft über einen getriebenen, nur selten glücksfähigen Menschen. Seine
Vorstellung von einem „totalen Staat“ hat vielleicht sein ganzes Leben
überschattet.
Konstanz Bernd
Rüthers
[1] Vgl. B. Rüthers, Carl Schmitt im Dritten
Reich, 2. Aufl., München 1990, S. 62.
[2] Vgl. die Schilderung bei Hans Mayer, Ein
Deutscher auf Widerruf, Bd. I, Frankfurt am Main 1982, S. 144. Der spätere
Literatursoziologe Mayer war damals Assistent bei Kelsen und zufällig Zeuge dieser
Begegnung. Kelsen hatte sich trotz oder wegen der fachlichen Differenzen zu
Schmitt in der Kölner Fakultät für diese Berufung eingesetzt.
[3] Dr. Rüdiger Altmann (1922-2000), Schüler
von C. Schmitt und Wolfgang Abendroth,
später Berater von Ludwig Erhard, Leiter der Politischen Akademie der
Konrad-Adenauer-Stiftung, stellvertretender. Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages.
[4] Der dramatische Verlauf ist in den
Kriegstagebüchern Schmitts von 1915-1919 eingehend dokumentiert.