Busse, Felix, Deutsche Anwälte. Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945-2009 - Entwicklungen in West und Ost. Deutscher Anwalt-Verlag 2010. 677 S. Besprochen von André Depping.

 

Der ehemalige Präsident des Deutschen Anwaltvereins Felix Busse behandelt in diesem Werk die Geschichte seines Berufsstands von der „Stunde Null“ 1945 bis zur Gegenwart. Vier Jahrzehnte nach dem Buch Fritz Ostlers über „Die deutschen Rechtsanwälte 1871-1971“ gelingt es ihm aufgrund verbesserter Verfügbarkeit von Archivmaterial für die Nachkriegsentwicklung, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik, einen neuen Forschungsstand zu etablieren und eine große Lücke zu schließen. Der Autor ist nicht nur Beobachter, sondern seit den 60er Jahren auch Teil der deutschen Anwaltsgeschichte, die er nicht zuletzt mit zahlreichen Artikeln zum Berufsrecht mit geprägt hat.

 

In Teil 1 des Werkes schildert der Autor den Neuaufbau der Anwaltschaft in den Westzonen 1945-1949. Es ging vor allem um Zulassungsfragen, wobei weniger die Entnazifizierung als der Wunsch nach Begrenzung der Anwaltschaft durch Landeskinderklauseln oder ähnliche Barrieren im Vordergrund stand. Über Einzelschicksale und Anwaltsalltag aus dieser Zeit erfährt man leider nichts.

 

Teil 2 verfolgt die Entwicklung der Anwaltschaft im Westen von 1949 bis 1990 weiter. Zentrale Themen sind Entstehung und Novellierungen der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1959 sowie das Miteinander und Gegeneinander der als Ordnungshüter agierenden Anwaltskammern und der deutlich progressiveren Anwaltsvereine. Die sog. Bastille-Entscheidungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht 1987 die Standesrichtlinien der Bundesrechtsanwaltskammer kippte, bilden eine deutliche Zäsur. Sie ebneten den Weg für eine Neuordnung des Berufsrechts nach 1990 hin zu einem liberaleren Anwaltsbild, das den Anwalt vor allem als Dienstleister versteht. Diese jüngste Entwicklung, die geprägt ist vom Recht zur Werbung, Fachanwaltstiteln, Rechtsanwaltsgesellschaften, Aufgabe des Lokalisationsprinzips und der besonderen Zulassung beim Oberlandesgericht sowie der Zunahme außergerichtlicher Tätigkeit, behandelt der Autor in sachlich-kritischem Ton in Teil 6.

 

Originell, spannend und wertvoll ist das Werk vor allem in den Teilen 3 bis 5, welche die Entwicklung der Rechtsanwaltschaft in der SBZ, in Berlin sowie in der DDR nachzeichnen. Der Autor, der selbst in der DDR aufgewachsen und erst nach seinem Abitur 1958 in die Bundesrepublik geflohen ist, hat für die 150 Seiten umfassende Darstellung anwaltlicher Tätigkeit in der DDR neben Archivmaterial auch selbst geführte Interviews kritisch ausgewertet. Dadurch verleiht er diesem Teil des Werkes eine besondere Lebendigkeit und lässt auch einzelne Akteure hervortreten. Die Anwaltschaft der DDR war überschaubar: Bis in die 80er Jahre gab es überhaupt nur etwa 600 Rechtsanwälte. Im Regelfall stand ein Bürger der DDR ohne anwaltliche Vertretung vor Gericht. Dies mag daran gelegen haben, dass das Recht der DDR deutlich einfacher als das Recht der Bundesrepublik formuliert war, Rechtsanwälte und Richter einen halben Tag pro Woche kostenlos Rechtsauskünfte erteilen mussten und der Grundsatz der Amtermittlung galt. Statistisch gesehen war die anwaltlich vertretene Partei jedoch erfolgreicher. Die höchsten Vertretungsquoten sind im Mietrecht nachzuweisen, da eine neue Mietwohnung nur schwer zu bekommen war. Dagegen ließen sich Angeklagte in Strafverfahren nur selten vertreten. Eine Strafverteidigung war von den Strafverfolgungsbehörden unerwünscht und wurde durch Einschränkung von Akteneinsicht und Kontaktaufnahmemöglichkeiten behindert. Auch Angeklagte bemühten sich nicht immer um eine effektive Strafverteidigung, da insbesondere in politischen Angelegenheiten mit einer Verurteilung gute Chancen auf Ausweisung bzw. einen Freikauf durch die Bundesrepublik bestanden. Insgesamt scheint die Mehrzahl der Rechtsanwälte in der DDR ihre Aufgabe im Dienste des Mandanten gewissenhaft und unabhängig wahrgenommen zu haben, obwohl der Staatsapparat der DDR auf vielfältige Weise versuchte, die Anwaltschaft zu kontrollieren. Man beugte sich nur langsam dem gewünschten Zusammenschluss in Anwaltskollegien, der mit zahlreichen Privilegien schmackhaft gemacht wurde. Einige Anwälte wurden als Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit geführt, jedoch ist selbst durch diese kein systematischer Geheimnisverrat nachweisbar.

 

Insgesamt fällt auf, dass es ein homogenes Berufsbild des Deutschen Anwalts nach 1945 allenfalls in einer sehr kurzen Phase nach der Wiedervereinigung gab. Zuvor waren die Rahmenbedingungen für die anwaltliche Tätigkeit in Ost und West nicht vergleichbar. Nach der Wiedervereinigung haben sich durch Spezialisierung und Internationalisierung sowie durch Verdoppelung der Anzahl der zugelassenen Rechtsanwälte die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der deutschen Anwaltschaft erheblich auseinander entwickelt. Während ein wachsender Teil der Einzelanwälte mit Einkommen knapp über dem Niveau von Hartz IV auskommen muss, beginnen Jahresgehälter angestellter Rechtsanwälte in internationalen Wirtschaftskanzleien bereits im sechsstelligen Bereich. Letztere haben mit dem von Reinhard Pöllath und Ingo Saenger 2009 herausgegebenen Buch 200 Jahre Wirtschaftsanwälte in Deutschland ihr eigenes Geschichtswerk erhalten.

 

Für die deutsche Anwaltsgeschichte gehört das Werk von Busse bereits zur Standardliteratur. Der im April 2011 erschienene Sammelband Anwälte und ihre Geschichte (Hrsg. Deutscher Anwaltverein) kann in einigen Teilaspekten bereits auf ihm aufbauen..

 

München                                                                                                        André Depping