Bryant, Thomas, Friedrich Burgdörfer (1890-1967). Eine diskursbiographische Studie zur deutschen Demographie im 20. Jahrhundert (= Pallas Athene 32). Steiner, Stuttgart 2010. 430 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Friedrich Burgdörfer gehörte seit der späten Weimarer Zeit und in der NS-Zeit zu den wohl bekanntesten und einflussreichsten Bevölkerungsstatistikern und befürwortete als solcher staatliche Interventionen zur Stärkung der Familie und zur Geburtenförderung, die er erstmals in seiner Dissertation von 1917: „Das Bevölkerungsproblem, seine Erfassung durch Familienstatistik und Familienpolitik mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Reformpläne und der französischen Leistungen“ unterbreitete (S. 59). Mit Unterbrechungen war er von 1907 bis 1919 Assistent Friedrich Zahns, des späteren Präsidenten des Statistischen Bureaus in München. Nach kurzer Tätigkeit bei der Stadt München kam er 1921 an das Statistische Reichsamt in Berlin, bei dem er Generalreferent für die Volkszählung von 1925 war. Von 1929 bis 1939 war er Direktor der Abteilung IV des Statistischen Reichsamts und organisierte die Volkszählungen von 1933 und 1939. Von 1939 bis 1945 stand er dem Bayerischen Statistischen Landesamt als Präsident vor. In seinem Werk befasst sich Bryant mit dem persönlichen, wissenschaftlichen und publizistischen Werdegang Burgdörfers von der späten Kaiserzeit an bis zu den ersten beiden Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Insgesamt handelt es sich bei dem Werk um eine „biographische Studie mit vorwiegend wissenschafts- und kulturgeschichtlichem – genauer gesagt: diskurs- und disziplingeschichtlichem Erkenntnis-Interesse bzw. um einen diskursbiographischen Beitrag zur historischen Altersforschung sowie zur historischen Demographie“ (S. 14), die von den Phänomenen des Geburtsrückgangs und der demographischen Alterung bestimmt war.

 

Nach einem biographischen Abriss behandelt Bryant den Beitrag Burgdörfers zur deutschen Bevölkerungsstatistik und deren Deutung bis 1933 (S. 38-87). Es folgt ein Exkurs über das Hauptwerk Burgdörfers: „Volk ohne Jugend“ von 1932. Im nächsten Abschnitt analysiert Bryant den Beitrag Burgdörfers zur deutschen Bevölkerungsstatistik während der NS-Zeit (S. 88-198). In diesem Zusammenhang geht Bryant, wenn auch von der Zielsetzung seines Werkes nur knapp, auf die rechtspolitischen Initiativen Burgdörfers zu einem Familienlastenausgleich im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik im Reichsministerium des Innern und im Ausschuss für Rechtsfragen der Bevölkerungspolitik der Akademie für Deutsches Recht ein (u. a. Errichtung einer Reichsfamilienkasse mit detaillierten Vorschlägen; hierzu W. Schubert [Hrsg.], Akademie für Deutsches Recht, Protokolle der Ausschüsse, Bd. XII, Frankfurt am Main 2001, S. 149ff., 186ff., 272ff., 389f.; vgl. auch Schubert, Festschrift für Hans Hattenhauer, Heidelberg 2003, S. 520ff.). Jedoch scheiterte eine durchgreifende Verbesserung des Familienlastenausgleichs am Widerstand insbesondere des Finanz- und Arbeitsministeriums. In einem weiteren Exkurs befasst sich Bryant mit Burgdörfers familienpolitischer Konzeption, ohne auch hier detailliert auf die Familienförderungsprogramme Burgdörfers näher einzugehen. Im dritten Hauptteil: „Friedrich Burgdörfer und die bundesdeutsche Bevölkerungsstatistik nach 1945/49“ (S. 204-268) behandelt Bryant zunächst die Entnazifizierung Burgdörfers, die 1947/48 zu seiner Einordnung in die Kategorie der Mitläufer (Gruppe IV) und gleichzeitig zu einem Freispruch aufgrund der sog. Weihnachtsamnestie von 1947 führte. Mit der Wiedereinsetzung in sein früheres Amt wurde er gleichzeitig im September 1948 pensioniert. In der Folgezeit befasste sich Burgdörfer mit den demographischen Folgen des 2. Weltkriegs, dem raschen Anwachsen der Weltbevölkerung und im Auftrag der FDP mit einem Gesetzentwurf von 1952 zum Ausgleich der Familienlasten (S. 237).

 

Burgdörfer, der vor 1933 politisch so gut wie nicht hervorgetreten war und erst 1937 der NSDAP beitrat, gehörte zur staatlichen Funktionselite der NS-Zeit, die sich durch ihre „bereitwillige Zu- und Mitarbeit voll und ganz in den Dienst des NS-Regimes“ stellte (vgl. S. 222). Sein Antisemitismus, in dessen Fahrwasser er ab 1936 geriet (S. 177 f.), hatte keine „eliminatorische Stoßrichtung“ (S. 145, vgl. auch S. 188). Ob die personalisierten Zensus-Daten der Volkszählung von 1939, bei der auch nach der rassischen Abstammung gefragt wurde, im großen Umfang auch zur Aufstellung der Deportationslisten benutzt wurden, lässt sich nicht mehr klären (S. 175, vgl. auch S. 187f.). Burgdörfer, der den Bevölkerungsrückgang und die demographische Alterung insgesamt „als ein abnormes, dringend korrekturbedürftiges Phänomen“ (S. 311) verstand, trat für pro- und gleichzeitig antinatalistische Maßnahmen ein – so befürwortete er bereits Ende der 1920er Jahre die Einführung eines Ehetauglichkeitszeugnisses für heiratswillige Paare –, ohne dass man ihn als Eugeniker oder Rassenhygieniker bezeichnen kann. Für ihn standen die statistischen Fakten im Vordergrund, die er allerdings mit großem publizistischem Geschick in zahlreichen Schriften verbreitete (S. 293). Bryant ordnet Burgdörfer dem „völkischen Nationalismus“ zu (S. 293), der durch einen dezidierten Konservatismus und Antikommunismus gekennzeichnet war (S. 291). Seine Schriften, in denen er mit zahlreichen Tabellen sowie mit sog. Kollektivsymbolen (Volkskörper, Vergreisung, Volkstod) und mit Scharnierbegriffen (Volk, Raum, Jugend, Geburtenrückgang) arbeitete (S. 281), schwankten zwischen politisierter und politisierender Wissenschaft und verwissenschaftlichter Politik (S. 286; zu den Ausläufern einer posthumen Burgdörfer-Rezeption bis in die aktuelle Gegenwart S. 266ff.).

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einer kurzen „Schlussbetrachtung und Zusammenfassung“ (S. 310-315), einem chronologischen Abriss zum Leben und Werk Burgdörfers (S. 316-327), mit von Bryant zusammengestellten Übersichten zur demographischen Entwicklung Deutschlands zwischen 1871 und 1945 (S. 327-337) und mit einem umfangreichen Schriftenverzeichnis (S. 346-366). Nützlich wäre noch ein Personenregister gewesen. Mit Recht weist Bryant auf die großen Forschungslücken hin, insbesondere auf das Fehlen einer wissenschaftlich fundierten institutionellen Gesamtdarstellung des Statistischen Reichsamts und der statistischen Landesämter. Auch fehlt es an einer detaillierten Darstellung der rechtlichen Grundlagen statistischer Erhebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In gleicher Weise bedürfen die wissenschaftlichen Beiträge Burgdörfers zur Methodik der Volkszählungen, die Bryant nur am Rande behandelt (vgl. S. 134ff., 313) noch einer gesonderten Darstellung. Insgesamt hat Bryant die Arbeiten Burgdörfers und deren Einordnung in den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs mit seinem Werk umfassend erschlossen, das es nunmehr auch dem Rechtshistoriker ermöglicht, insbesondere die rechtspolitischen Beiträge Burgdörfers zum Familienlastenausgleich umfassender einzuordnen, als dies bisher möglich war.

 

Kiel

Werner Schubert