Bleek, Wilhelm, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie. Beck, München 2010. 472 S. Besprochen von Hans-Christof Kraus.

 

Leopold von Ranke hat Dahlmann einmal als einen Mann bezeichnet, „in welchem sittlicher Adel und theoretische Kälte sich doch mit tiefer innerer Leidenschaft für die Sache, die er einmal ergriffen hatte, verband“ – und diese Formulierung charakterisiert einen der bekanntesten und auch angesehensten deutschen Historiker und typischen „Professorenpolitiker“ des 19. Jahrhunderts sicher besonders treffend. Schon kurz nach seinem Tod verfasste der ihm eng verbundene Bonner Kollege Anton Springer, gestützt auf ausgewählte Teile des Nachlasses, die erste umfassende Dahlmann-Biographie, erschienen 1870-1872. Würdigungen seiner Schüler und Verehrer kamen hinzu, von denen die glänzenden Abhandlungen Heinrich von Treitschkes (1861) und Wilhelm Diltheys (1866) hervorzuheben sind. Im 20. Jahrhundert folgten grundlegende Arbeiten zur geistigen Entwicklung des jungen Dahlmann von Hermann Christern (1921) und Otto Scheel (1925), und nach 1945 wurde der bedeutende Kieler, Göttinger und Bonner Historiker u. a. von Hermann Heimpel (1957), Karl Dietrich Bracher (1961) und Reimer Hansen (1972) eingehend gewürdigt. Als Vordenker des gemäßigten, anglophil orientierten frühen deutschen Liberalismus, als einer der „Göttinger Sieben“ sowie als „Achtundvierziger“ und einflussreiches Mitglied der Paulskirchenversammlung ist Friedrich Christoph Dahlmann aus der deutschen politischen und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht wegzudenken.

 

Zum einhundertfünfzigsten Todestag ist nun eine neue Biographie erschienen, verfasst von dem emeritierten Politikwissenschaftler Wilhelm Bleek, einem Nachkommen des Dahlmann-Schülers Friedrich Bleek. Mit Empathie geschrieben und im allgemeinen wohlinformiert ist ein detailliertes, abgerundetes, in sich schlüssiges Bild des Historikers entstanden, das geeignet ist, ihn der zunehmenden Vergessenheit zu entreißen. Bleek zeichnet in seinem Buch ein farbiges, pointiertes, in jeder Hinsicht überzeugend wirkendes Bild seines Protagonisten, der von den Zeitgenossen stets als wortkarger, nüchterner, in sich gekehrter Norddeutscher charakterisiert worden ist. Nur mühsam gelang es ihm, diese Charaktereigenschaft zu überwinden, etwa im Rahmen seiner nur kurzzeitigen Freundschaft mit dem einige Jahre älteren Heinrich von Kleist, mit dem der junge Dahlmann im Kriegsjahr 1809 eine – später von ihm detailliert beschriebene – Reise zu den Schlachtfeldern des österreichisch-französischen Krieges unternahm. Das Kleist-Erlebnis hat er nicht nur niemals vergessen, sondern als eigentlichen Höhepunkt seines Lebens begriffen; dem damals noch kaum bekannten Dichter bewahrte er zeitlebens ein treues Andenken.

 

Geboren 1785 im zu jener Zeit noch schwedischen Wismar, begann Dahlmann seine wissenschaftliche Karriere in Kopenhagen und Kiel, und dies erklärt auch die Tatsache seiner lebenslangen geradezu leidenschaftlichen Anteilnahme am Schicksal des Doppelherzogtums Schleswig-Holstein. Den bekannten „Ripener Freiheitsbrief“ von 1460, nach dessen Bestimmungen die Herzogtümer „up ewig ungedeelt“ bleiben sollten, hat Dahlmann im Rahmen der Studien zu seinem wichtigsten historiographischen Werk, einer (bis zum Ende des Mittelalters reichenden) dreibändigen Geschichte von Dänemark, erst eigentlich wiederentdeckt – und er wurde auf diese Weise, so Bleek, im Grunde zum „Erfinder der Unteilbarkeit Schleswig-Holsteins“ (S. 73). Im Revolutionsjahr 1848 plädierte er als einer der einflussreichsten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung im Konflikt um die Zukunft Schleswig-Holsteins leidenschaftlich für den Krieg Deutschlands gegen Dänemark. Den ihm als Historiker eigentlich naheliegenden Gedanken einer Störung des europäischen Gleichgewichts durch Angliederung beider Herzogtümer an Deutschland ließ er als Argument nicht gelten: In der Tat, so sagte er in seiner wohl berühmtesten parlamentarischen Rede, werde das Gleichgewicht Europas verrückt, „wenn unser Deutschland aus einem schwachen, versunkenen Gemeinwesen, aus einer im Ausland geringgeschätzten Genossenschaft zur Würde, Ehre und Größe hinaufsteigt. Diese Verrückung des Gleichgewichts von Europa wollen wir aber haben und festhalten, und auf dieser Verrückung des Gleichgewichts von Europa wollen wir bestehen, bis der letzte Tropfen Blutes uns entströmt ist“ (S. 319).

 

Die ungewöhnlich ausgeprägte Leidenschaft, mit der sich der sonst so nüchterne, ja überaus zurückhaltende Dahlmann hier und auch bei anderer Gelegenheit für eine von ihm als richtig, gerecht und gut erkannte Sache öffentlich einzusetzen vermochte, erklärt der Biograph mit der von dem Historiker zeitlebens entschieden vertretenen Grundhaltung einer Einheit von Wissenschaft und Leben. Dahlmann wollte bereits als junger akademischer Lehrer „nicht  als gelehrter Professor, sondern als Hochschullehrer, der die Einheit von wissenschaftlicher Erkenntnis und sittlichem Handeln des Einzelnen in der politischen Gemeinschaft verkörperte, … im Andenken seiner Zuhörer bewahrt werden“ (S. 107). Eben hierin gründete auch sein Protest gegen die Aufhebung des (von ihm übrigens einst mit entworfenen und geplanten) Staatsgrundgesetzes des Königreichs Hannover durch dessen neuen König Ernst August im Jahr 1837. Der damals an der Universität Göttingen Geschichte und Politik lehrende Dahlmann protestierte mit sechs anderen Professoren seiner Hochschule gegen die Maßnahme des Königs und musste zusammen mit ihnen (es waren neben den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm auch Georg Gottfried Gervinus, Wilhelm Weber, Wilhelm Eduard Albrecht und Heinrich Ewald) die Universität verlassen.

 

Egal, wie man den politisch lange nachwirkenden hannoverschen Verfassungskonflikt aus politisch-historischer, wissenschaftsgeschichtlicher oder rechtshistorischer Sicht heute auch interpretieren mag: Bleek ist mit seiner Diagnose Recht zu geben, dass die Kontrahenten im Grunde völlig verschiedenen historischen Zeitaltern angehörten: „Die königliche Seite verkörperte die vormoderne Epoche der feudalen und absoluten Herrschaft, und Dahlmanns Seite repräsentierte … den Fortschritt zum modernen konstitutionellen Staat“ (S. 199). Bedauerlich ist nur, dass Bleek manche Zusammenhänge in allzu holzschnittartiger Weise darstellt, denn einige der von ihm als Ultrareaktionäre abgetanen Konservativen des deutschen Vormärz, wie etwa Ernst Ludwig von Gerlach, standen durchaus nicht an der Seite des Königs von Hannover, sondern empfanden (wie der Rezensent schon vor Jahren einmal nachgewiesen hat) deutliche Sympathie für die Göttinger Protestler.

 

Eine wichtige Leistung der neuen Biographie besteht ebenfalls darin, dass Dahlmanns im eigentlichen Sinne historiographisches Werk, das lange unterschätzt wurde, in seiner Bedeutung von Bleek umfassend und mit überzeugenden Argumenten rehabilitiert wird. Dahlmann arbeitete (wie übrigens auch andere prominente Historiker, etwa Leopold von Ranke) als studierter Philologe quellen- und textkritisch, wie vor allem die Geschichte Dänemarks zeigt, an der Dahlmann viele Jahre schrieb und für die er intensive archivalische Forschungen betrieb. Gegen seine fachliche Kompetenz spricht ebenfalls nicht die Tatsache, dass er später auch populäre, für einen größeren historisch interessierten Leserkreis geschriebene, nur auf gedruckten Quellen und Literatur beruhende Bücher verfasste, wie etwa die beiden bekannten Geschichten der englischen und der französischen Revolution aus den Jahren 1844 und 1845, die Treitschke bekanntlich einmal als die „Sturmvögel“ der deutschen achtundvierziger Revolution bezeichnen sollte. Die Dahlmann-Kritik eines Georg Iggers, laut Bleek „auf Unkenntnis seines Werkes“ (S. 71) beruhend, weist der Biograph mit aller Entschiedenheit zurück, indem er mit besonderem Nachdruck auf den ethisch-pädagogischen Impuls der Arbeiten Dahlmanns verweist: „In seinen wissenschaftlichen Details mag das historiographische Werk Friedrich Christoph Dahlmanns überholt sein, doch nicht nur die von ihm vertretene Methodik, noch mehr sein Verständnis von der politisch-staatsbürgerlichen Bedeutung von Geschichte und Geschichtsschreibung kann uns heute noch lehrreich sein“ (S. 72).

 

Eingehend befasst sich Bleek ebenfalls mit Dahlmanns politischem Denken im engeren Sinne; dessen staatswissenschaftliches Hauptwerk: „Die Politik., auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt“, hat Bleek (in der Erstfassung von 1835) im Rahmen der von Hans Maier und Michael Stolleis herausgegebenen „Bibliothek des deutschen Staatsdenkens“ schon 1997 in einer vorzüglichen Neuedition herausgebracht. Dahlmann verbindet in diesem Werk eine sich eng an historische und zeithistorische Analysen – eben die „gegebenen Zustände“ – anknüpfende Empirik mit einer sich an die klassische politische Theorie anlehnenden methodisch-theoretischen Grundorientierung. In dem Historiker und politischen Lehrer Dahlmann haben wir, so Bleek, „einen der letzten Aristoteliker im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts vor uns“ (S. 150), dessen Staatsverständnis eben nicht dem modernen, auf Machiavelli, Hobbes und Bodin zurückzuführenden, von Hegel und Lorenz von Stein präzisierten, schließlich später von Max Weber verbindlich auf den Begriff gebrachten „Staat“ – im Sinne einer politischen Herrschaftsorganisation, eines Macht- und Verwaltungsstaates – entspricht, sondern, im Gegenteil, dem antiken Verständnis einer politischen Gemeinschaft der Menschen (societas civilis sive res publica), die nach Bleek „zugleich uranfänglich und historisch entwicklungsfähig ist“ (S. 149). Bereits Manfred Riedel hat, wie an dieser Stelle anzumerken ist, schon vor Jahrzehnten diese theoriegeschichtliche Verortung Dahlmanns überzeugend vorgenommen.

 

Ob Dahlmann damit aber zugleich, wie Bleek wenigstens suggeriert, das moderne „demokratische Paradigma einer Zivilgesellschaft“ im Kern vorweggenommen hat und sich deshalb „in seiner politischen und politikwissenschaftlichen Konzeption als gleichermaßen altertümlich und aktuell“ (151) erweist, wird man am Ende doch als eher in Frage stellen müssen. In Formulierungen dieser Art geistern die politikwissenschaftlichen Wunschvorstellungen der alten Bonner Bundesrepublik noch ein wenig herum, die einer Zeit entstammen, als man sich den harten Realitäten des modernen, sich im internationalen Konkurrenzkampf behauptenden, auch konkret machtpolitisch agierenden Staats im Schatten der transatlantischen Schutzmacht noch enthoben wusste und daher dem politischen Idealismus unterschiedlichster Spielarten (etwa auch dem „Verfassungspatriotismus“) frönen konnte. Anders steht es dagegen mit Dahlmanns genuin historisch-empirischem Ansatz, den Bleek durchaus zu Recht in die „Tradition der historisch vergleichenden Politikwissenschaft, die schon in der antiken Politlehre angelegt war und im 18. Jahrhundert vor allem von Montesquieu verkörpert wurde“ (S. 153), stellt – nicht ohne am Ende anzumerken, dass gerade dieser Ansatz „im Gefolge der sozialwissenschaftlichen Wende des Faches seit den 1960er Jahren – leider – weitgehend untergegangen“ (S. 154) ist.

 

Mehrfach hebt Bleek die entschieden „kleindeutsche“ und preußenfreundliche Haltung seines Protagonisten hervor; bereits im Jahr 1832, als die Bismarcksche Reichsgründung noch in sehr weiter Ferne lag, trat Dahlmann mit großer Konsequenz und unbeirrt für eine führende Stellung Preußens innerhalb des damaligen Deutschen Bundes ein. Für die besonderen Probleme der Habsburgermonarchie hat Dahlmann indessen keinerlei Verständnis besessen; die Wesensart und die historischen Traditionen des katholischen West- und Süddeutschland sind ihm, dem typischen Exponenten des norddeutschen kulturprotestantischen Bürgertums, zeitlebens – auch als später im rheinischen Bonn lehrender Professor – zutiefst fremd geblieben. Hiermit mag es wohl auch zusammenhängen, dass sich Dahlmann, trotz seines zeitweise sehr intensiven politischen Engagements, das in der Revolution von 1848/49 seinen Höhepunkt erreichte, niemals als Politiker im eigentlichen Sinne verstanden hat. Sein (von Bleek sehr eindringlich dargestellter) Versuch, auf dem Höhepunkt der Revolution eine Regierung zu bilden, scheiterte am Ende kläglich; der Rückzug ins Gelehrtendasein nach dem Ausklingen der Revolution war daher nur konsequent. Man wird dem abschließendem Urteil des Autors zustimmen können: „So engagiert dieser Politik-Professor seine Lehre auch vertrat, im Grunde seines Herzens war er eigentlich unpolitisch und froh, wenn er sich aus der politischen Arena wieder in Hörsaal und Gelehrtenstube zurückziehen konnte“ (S. 365).

 

Wilhelm Bleek hat mit seiner Dahlmann-Biographie ein Standardwerk vorgelegt, das Bestand haben wird. Kleinere Fehler sind hier und da zwar vorhanden, halten sich aber in Grenzen (S. 15 muss es Gottlob Frege heißen; der Name des auf S. 145 erwähnten Halleschen Staatswissenschaftlers ist Ludwig Heinrich von Jakob, und der u. a. auf S. 246 genannte preußische Kultusminister Moritz August von Bethmann Hollweg schrieb sich, wie sein berühmterer Enkel und Reichskanzler, ohne Bindestrich). Nur eines ist sehr bedauerlich: Der in Kanada lebende und arbeitende Autor hat es leider versäumt, obwohl er auch Archivalien benutzt hat, die Dahlmann betreffenden Akten im Berliner Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz auszuwerten. Denn die dort vorhandenen Unterlagen über Dahlmanns Berufung nach Bonn und seine ersten dort verbrachten Jahre (1843-1846) enthalten nicht nur eine Reihe ganz unbekannter, aufschlussreicher Briefe Dahlmanns, sondern zeigen auch das übergroße Misstrauen, das die preußische Kultusbürokratie (inklusive des damaligen Kultusministers Eichhorn) dem neuberufenen Bonner Professor entgegenbrachte. Deutlich wird auch, in welch starkem Maße Dahlmann seine Berufung dem persönlichen Willen König Friedrich Wilhelms IV. zu verdanken hatte, der dafür auch Proteste aus dem Königreich Hannover und die starke Verärgerung des dort regierenden Monarchen in Kauf nahm.

 

Insgesamt gesehen ist es Bleek jedoch gelungen, das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, dem Wechselverhältnis von persönlicher sittlicher Überzeugung, akademischer Gelehrsamkeit und praktisch-politischem Engagement am Beispiel Dahlmanns nachzuspüren und dabei dem Leser klarzumachen, warum Dahlmann unter den wechselvollen Bedingungen der Epoche zwischen den napoleonischen Kriegen und der Reichsgründungszeit bereits in frühen Jahren „zum Helden des deutschen Bildungsbürgertums seiner Zeit“ (S. 8) werden konnte. Und wenigstens in einem Punkt bleiben seine Bestrebungen, wie Bleek treffend formuliert, von unverminderter Aktualität: Wenn auch manche der Ideen und Vorschläge Dahlmanns heute antiquiert erscheinen mögen, so stellt sich „die ihnen zugrunde liegende Frage nach dem Wert einer ‚guten Verfassung‘ … uns auch heute noch“ (ebenda).

 

Passau                                                                                         Hans-Christof Kraus