Bismarck, Otto von, Gesammelte Werke - Neue Friedrichsruher Ausgabe, hg. v. Afflerbach, Holger/Canis, Konrad/ Gall, Lothar/Hildebrand, Klaus/Kolb, Eberhard, Abteilung III 1871-1898. Schriften, Band 6 1884-1885, bearb. v. Lappenküper, Ulrich. Schöningh, Paderborn 2011. CXXIII, 855 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Fünf Bände der von der Otto-von-Bismarck-Stiftung publizierten „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“, der historisch-kritischen Edition der umfangreichen schriftlichen Hinterlassenschaft des „Eisernen Kanzlers“, sind an dieser Stelle bereits eingehend erörtert worden: Der erste Band für die Jahre 1871-1873 von Andreas Thier (ZRG GA 125 [2008]), die folgenden vier, den Zeitraum von 1874 bis 1883 umfassend, vom Rezensenten selbst (ZRG GA 128 [2011]). Im Sinne einer ökonomischen Nutzung des Druckraums und zur Vermeidung von Wiederholungen sei daher, was die Konzeption und die Editionskriterien der Reihe betrifft, auf die dortigen Ausführungen verwiesen, zumal der nun vorliegende sechste Band, der Dokumente der Jahre 1884 und 1885 erfasst, in dieser Hinsicht seinen Vorgängern unverändert folgt. Holger Afflerbach verjüngt und verstärkt mittlerweile das bewährte Herausgebergremium; die Bearbeitung des aktuellen Werks liegt, wie schon die des fünften Bands, beim Geschäftsführer der Stiftung, Ulrich Lappenküper, in kompetenter Hand.

 

Für die genannte Periode konnten an die 3100 Dokumente ermittelt werden, wovon 563 für den Abdruck ausgewählt wurden. Es handelt sich dabei neben Schreiben, Telegrammen, Aufzeichnungen, Erlassen, Voten und Diktaten vor allem um Weisungen, die von engen Mitarbeitern im Auftrag des Kanzlers verfasst wurden. Sechzig Prozent der edierten Schriftstücke sind bisher noch nicht veröffentlicht worden. Aus der Themenvielfalt der Schriften spreche „ein Anspruch auf Allzuständigkeit“, der sicherlich nicht nur durch die Kumulation seiner Ämter, sondern auch durch die Absicht des Reichskanzlers zur Sicherung seiner Machtposition zu erklären ist. Bismarck intervenierte beim Hamburger Senat gegen die Vergabe von Pässen an polnische Emigranten (Dok. 404: 17. April 1885), griff in die Zeremonie der Grundsteinlegung des neuen Reichstagsgebäudes ein (Dok. 138: 26. Mai 1884), warnte vor den Folgen einer Senkung der Portogebühren (Dok. 205: 8. August 1884), rief zu mehr Flexibilität bei der Prüfung konzessionspflichtiger Gewerbeanlagen auf (Dok. 489: 9. September 1885), vertiefte sich in die Details des Gesetzes über die Anhebung der Rübenzuckersteuer (Dok. 128: 21. Mai 1884), kämpfte für eine ‚kräftigere Strafjustiz‘ (Dok. 370: 1. März 1885), plädierte gegen eine Reform der Anfang der 1870er Jahre vereinheitlichten Maß- und Gewichtsordnung (Dok. 30: 3. Februar 1884) und veranlasste eine Erhebung über die Ursachen der Preisschwankungen wichtiger Verbrauchsgüter (Dok. 508: 10. Oktober 1885)“ (S. XIII). Aus rechtshistorischer Perspektive kann diese allseitige Umtriebigkeit des gesundheitlich häufig angeschlagenen Kanzlers nur als großer Glücksfall gewertet werden, eröffnet sie uns doch erhellende Einblicke in vielfältige normative Materien.

 

Naturgemäß reflektieren die ausgewählten Unterlagen aber in erster Linie Bismarcks Staatsgeschäfte als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, Vorsitzender des Bundesrats und Handelsminister. In der Innenpolitik vom Bestreben geleitet, die monarchische Ordnung und die Rechte der Krone zu wahren, galt seine Fürsorge insbesondere dem Militär und den deutschen Bundesstaaten. Geschickte Personalrochaden – beispielsweise die Versetzung des zu eigenständig operierenden Botschafters in London, Graf Münster, nach Paris und die Berufung des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Graf Hatzfeldt, auf den Londoner Posten, womit für den Kanzlersohn Herbert von Bismarck der Weg an die Spitze des Auswärtigen Amtes geebnet wurde - wurden dazu instrumentalisiert, „die von ihm (Otto von Bismarck; W. A.) als richtig angesehene Politik durchzusetzen“ (S. XIX). Hauptbetätigungsfelder dafür waren vor allem die Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, die Sozialgesetzgebung und der Kulturkampf, der- wie die gesamte Innenpolitik -1884/1885 einer gewissen Entspannung zugeführt werden konnte.

 

Anders verhielt es sich mit der seit jeher dominierenden Außenpolitik, die Bismarck weiterhin „nicht nach Empfindlichkeiten, sondern nach Staatsraison“ gemäß dem Motto „Noth kennt kein Gebot“ steuerte und die „trotz der unverkennbar vorhandenen Züge ins Globale […] nach wie vor hauptsächlich um die Beziehungen zu den europäischen Großmächten, allen voran zu Russland, das seit 1881 mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn im Drei-Kaiser-Vertrag verbunden war“, kreiste (S. XXIV). Letzterer konnte zwar am 27. März 1884 verlängert werden, doch wurde damit der zentrale potentielle Konfliktherd, die konträren Machtambitionen des Habsburger- und des Zarenreichs auf dem Balkan, wie sie im Herbst 1885 im bulgarisch-serbischen Konflikt einmal mehr virulent wurden, nicht behoben. Daneben forcierte der Reichskanzler, motiviert durch die „Sorge um sichere Märkte, die nahenden Reichstagswahlen und einen etwaigen Thronwechsel“ (S. XXXV) und zur Unterbindung einer „englischen Kolonialsuprematie“ der liberalen Regierung Gladstone – Stichworte Ägypten, Süd-Westafrika, Kongo und die Südsee – seit 1883/1884 eine offensive deutsche Kolonialpolitik und die Annäherung an Frankreich, einen Weg, den er erst mit der Regierungsübernahme Lord Salisburys und einem Stimmungsumschwung in Frankreich Ende 1885 aufzugeben gezwungen war. Während somit Bismarcks innenpolitisches Resümee für die betrachteten Jahre nach Ulrich Lappenküper befriedigend ausfällt – „ihm (war) durchaus mancher Erfolg gelungen“ - , sieht die außenpolitische Bilanz „nicht anders als trübe“ aus (S. XXXIX), sei doch die Änderung der Grundkonstellation von 1871 misslungen und seien zudem mit dem Balkankonflikt sowie der schwelenden Krise im deutsch-französischen Verhältnis elementare Gefährdungen des Bündnissystems präsent geblieben.

 

All dies an Hand der Gedankengänge des Kanzlers im Detail und in originaler Diktion nachvollziehen zu können, macht den besonderen Reiz von Quellensammlungen der Art, wie sie hier vorliegt, aus. Damit gewinnt der Mensch hinter den politischen Entscheidungen auch in seiner Unvollkommenheit Kontur. Von einer deftigen bis grenzwertigen Ausdrucksweise zeugt es zumindest, wenn dem englischen Premierminister Gladstone attestiert wird, dass ihm „jede Eigenschaft eines Staatsmannes in dem Maaße fehlt, daß ich geneigt bin, ihn als geisteskrank anzusehen“, sodass es, „wenn die Möglichkeit dazu überhaupt vorläge, nützlich sein würde, jenes große Reich (das britische Empire; W. A.) zur Wahrnehmung seiner Interessen unter eine Curatel der übrigen Christenheit zu stellen“ (Dok. 56: 26. Februar 1884). Und wer hätte schon angenommen, dass – wie nachgelesen werden kann - Otto von Bismarck es nötig gehabt haben könnte, die anlässlich seines 70. Geburtstags am 1. April 1885 als „Bismarckspende“ eingegangenen, ursprünglich zu seiner „freien Verfügung für öffentliche Zwecke“ gewidmeten, beträchtlichen Finanzmittel dann zum überwiegenden Teil im Wege des Rückkaufs des elterlichen Gutes Schönhausen II seinem Privatvermögen zuzuschlagen? (Dok. 395 u. 396, jeweils 4. April 1885)

 

Auch derlei Decouvrierendes und wenig Schmeichelhaftes kann der Leser also, nebst innovativen Einsichten in die Bismarck’sche Kolonialpolitik, dem ansprechenden und vielseitigen Quellenband entnehmen, der, wie schon seine Vorgänger, sorgfältig lektoriert und durch ein umfangreiches Personenregister erschlossen ist; auf ein Schlagwortverzeichnis, das dem Suchenden noch wertvollere Dienste leisten würde, haben die Herausgeber allerdings auch hier verzichtet.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic