Bilgenroth-Barke, Heike, Kriminalität und Zahlungsmoral im 16. Jahrhundert. Der Alltag in Duderstadt im Spiegel des Strafbuches (= Göttinger Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters, Band 8). Edition Ruprecht, Göttingen 2010. 179 S. Besprochen von Carsten Fischer.
Die Studie der Historikerin Heike Bilgenroth-Barke nimmt sich zum Ziel, am Beispiel der frühneuzeitlichen Niedergerichtsbarkeit Duderstadts das Spannungsfeld zwischen Normwortlaut und Rechtspraxis auszuleuchten. Damit möchte die Verfasserin einen „weiteren Mosaikstein“ (S. 18) in das noch sehr unvollständige Bild der Kriminalitätsgeschichte einfügen und verweist darauf, dass bislang nur eine Handvoll anderer Detailstudien zu Kriminalität und Devianz in Mittelalter und früher Neuzeit für das deutschsprachige Gebiet vorliegen.
Ihrem Thema nähert sich Bilgenroth-Barke über die bislang ungedruckte Quelle des Duderstädter Strafbuchs aus den Jahren 1530 bis 1546. Das Strafbuch enthält stichpunktartige Aufzeichnungen zu Verhandlungen vor dem Duderstädter Ratsgericht, das die städtische Niedergerichtsbarkeit ausübte. Gegenstand der Aufzeichnungen sind Normübertretungen in den Bereichen des Strafrechts und der Policey. Die kargen Notizen gehen zumeist nicht über die Erwähnung der Verurteilten, der Strafen und Bemerkungen zur Straferfüllung hinaus. Insbesondere enthalten sie keine Hinweise auf den Prozessverlauf und regelmäßig keine näheren Angaben zu den Tatvorwürfen oder Tatumständen. Verhängt wurden größtenteils Geldstrafen. Gelegentlich tritt an deren Stelle die Verurteilung zur Leistung von Naturalien, insbesondere von Lebens- und Futtermitteln oder von Baumaterialien. Mit Hilfe dieser Strafbucheintragungen stellt Bilgenroth-Barke die tatsächliche Kriminalitäts- und Strafpraxis Duderstadts den in den städtischen Statuten enthaltenen Ge- und Verboten gegenüber.
Die Untersuchung ist klar gegliedert: Auf die Einleitung und eine Darstellung des Duderstädter Gerichtswesens am Übergang von Spätmittelalter zur frühen Neuzeit folgt eine Beschreibung der Hauptquelle, des Duderstädter Strafbuchs für den Zeitraum von 1530 bis 1546. Es schließt sich in zwei weiteren Kapiteln die Behandlung der beiden titelgebenden Themen an, „Kriminalität in Duderstadt im 16. Jahrhundert“ und „Strafgelder und Zahlungsmoral“. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt dabei deutlich, auch ersichtlich am ungefähr viereinhalbmal so langen Seitenumfang, auf dem ersten Thema. Insbesondere in diesen beiden Hauptteilen der Arbeit kann die Verfasserin viele spannende Einblicke entwickeln. Der Leser erfährt zum Beispiel, dass in Duderstadt Feldfrevel, wie das Ausbrechen von Vieh oder vorsätzliches Hüten von Vieh auf fremden Weiden, das Reiten und Fahren über fremde Felder und Wiesen oder der Diebstahl von Futtermitteln (S. 113ff.), die mit Abstand am häufigsten verhandelten Fälle städtischer Niedergerichtsbarkeit darstellten.
Zwei wichtige Erkenntnisse sind Haupterträge der Studie Bilgenroth-Barkes: 1.) Normanspruch und Strafrechtspraxis fielen im Bereich der Niedergerichtsbarkeit des frühneuzeitlichen Duderstadt deutlich auseinander und 2.) auch der durch Verurteilungen ausgedrückte städtische Strafanspruch wurde nicht konsequent verfolgt. Zum ersten Aspekt, dem Abweichen von Normanspruch und Strafrechtspraxis, gehört, dass die verhängten Strafgelder häufig von den in den Statuten vorgesehenden Beträgen abwichen (S. 139). So musste Heine Sommer eine Strafe von zweieinhalb Mark entrichten, weil er jemanden einen „hundebruderen geheithen“ hatte, Hans Roleves für die Bezeichnung einer Frau als Diebin hingegen 12 Mark – obwohl die städtischen Statuten für Ehrverletzungen wie diese eine Strafe von fünf Mark vorsahen (S. 89-91). Auf Grund solcher Abweichungen blendet Bilgenroth-Barke konsequenterweise bei der Betrachtung der „Strafgelder und Zahlungsmoral“ (Kapitel 5) die Strafgeldvorgaben der Statuten aus.
Die Gegenüberstellung der verhängten Strafen mit den häufig nur schleppend eingehenden oder sogar ausbleibenden Strafgeldzahlungen führt die Verfasserin zu ihrem zweiten Hauptergebnis, der nicht konsequenten Durchsetzung des im Urteil ausgesprochenen städtischen Strafanspruchs. Die insgesamt nur in ungefähr halber Höhe gezahlten Strafgelder stellten damit eine städtische Einnahmequelle nur sehr geringen Umfangs dar; ihre Höhe rechtfertigte den um sie betriebenen Aufwand wohl nicht. Da Hauptzweck des Strafbuchs nach Bilgenroth-Barke die Kontrolle der Strafgeldzahlungen als Einnahmequelle der Stadtkämmerei war, erscheint der Abbruch der Aufzeichnungen nach 1546 auf Grund solch zu geringen fiskalischen Ertrags konsequent.
Die gelungene Darstellung der Untersuchungslinien und ihrer Resultate wird abgerundet durch eine Zusammenfassung sowie ein Literaturverzeichnis und ein Register.
Ein wenig störend wirken in der ansonsten durchweg überzeugenden Arbeit zwei methodische Stolpersteine, die aber – dies sei betont – den Wert der Untersuchungsergebnisse für die rechtsgeschichtliche Forschung letztlich nicht beeinträchtigen: So erscheint zunächst der Umgang Bilgenroth-Barkes mit dem Werk des Historikers Julius Jaeger als bedenklich. In ihren methodischen Ausführungen weist sie darauf hin, dass der häufig mit Duderstädter Verhältnissen befasste Jaeger in seinen späteren Abhandlungen seine Quellen nicht mehr offen lege, eine kritische Überprüfung seiner Aussagen daher nicht möglich sei. Eine stichprobenartige Überprüfung erweise jedoch seine „profunde Quellenkenntnis …, so dass seine Aussagen auch ohne Quellenangabe als gültig angesehen und dieser Arbeit an vielen Stellen zugrunde gelegt werden können“ (S. 23) – ein Befund, den Bilgenroth-Barke selbst nicht ernst zu nehmen scheint, wenn sie mindestens einmal in ihrer Arbeit Jaegers Ansichten entgegentritt (S. 64, Fn. 69). Anstelle den im Laufe der Arbeit vielzitierten Jaeger gleichsam in den Rang einer Primärquelle zu erheben, wäre hier vielleicht ein pauschalierendes caveat angesichts der Nichtüberprüfbarkeit von Jaegers Aussagen am Platze gewesen.
Ferner gerät der vergleichende Blick Bilgenroth-Barkes auf die Verhältnisse anderer frühneuzeitlicher Städte an einigen Stellen in die Nähe eines Ergebnistransfers: Die Verfasserin bearbeitet stets gewissenhaft die Duderstädter Quellenlage. Dabei scheut sie sich auch nicht, Erkenntnisschwierigkeiten aufzuzeigen und sich angesichts häufig nur dürftiger Quellenaussagen damit zu begnügen, auf die Lückenhaftigkeit der Überlieferungslage hinzuweisen. Aber anstatt konsequent ihrem sorgfältig erarbeitetem Befund treu zu bleiben und aus den Duderstädter Quellen ein – wenn auch lückenhaftes – Bild der lokalen Kriminalitäts- und Sozialgeschichte, des Sozialgefüges, der Herrschaftsverhältnisse und stadtpolitischen Tendenzen zu entwickeln, überträgt sie gelegentlich Einzelschlüsse aus Arbeiten zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Köln, Konstanz, Zürich, Basel und Nürnberg auf die Duderstädter Verhältnisse. Damit bewegt sich Bilgenroth-Barke jenseits des Vergleichs. Das ist unnötig. Denn dort, wo sie tatsächliche Vergleiche mit den Verhältnissen in anderen frühneuzeitlichen Stadtgemeinden des deutschsprachigen Raumes anstellt, kann sie auf diesem Wege methodisch sauber helfen, den Raum zwischen den bislang wenigen Mosaiksteinen der frühneuzeitlichen Kriminalitätsforschung zu vermessen und das Gesamtbild erahnen zu lassen. Die Übertragung der für andere Städte durch andere Forscher erzielten Erkenntnisse vermag die Duderstädter Quellenlücken jedoch nicht zu schließen und liefert an diesen Stellen lediglich Scheinergebnisse.
Weniger Kritik denn Hinweis für den Leser sind die folgenden Überlegungen zur Titelwahl: Betrachtet man die Gewichtung der beiden inhaltlichen Hauptteile – Kriminalität einerseits, Strafgelder und Zahlungsmoral andererseits –, so kann man daran zweifeln, dass die „Zahlungsmoral“ ohne qualifizierenden Zusatz in den Buchtitel gehört. Denn Bilgenroth-Barke nimmt nicht zuvorderst die allgemeine Zahlungsmoral der Duderstädter in den Blick, sondern vielmehr die Praxis der Begleichung von Geldstrafen. Darüber hinaus hätte der von der Verfasserin als erkenntnisleitend eingesetzte Begriff der Zahlungsmoral in Kapitel 5 schärfer umrissen werden können. Die Nichtzahlung oder nicht vollständige Zahlung einer Geldstrafe mag nicht nur als Ausdruck fehlenden Einstehenwollens der Verurteilten für als berechtigt wahrgenommene Strafen gesehen werden, sondern auch als stillschweigender Strafverzicht seitens der Stadtobrigkeit. In dieser Auslegung kann die Geldstrafenpraxis gerade den Grenzverlauf ungeschriebener, von der verschriftlichten Norm abweichender Rechtswahrnehmung nachzeichnen. Aber auch diese Unschärfe beeinflusst den schönen Gesamteindruck der Arbeit nicht nachhaltig und tritt angesichts der Leistungen Bilgenroth-Barkes in den Hintergrund.
Es bleibt ein positives Fazit: Der Verfasserin ist es gelungen, den Mikrokosmos der städtischen Niedergerichtsbarkeit einer frühneuzeitlichen deutschen Stadt in rechtlicher, sozialer und politischer Hinsicht kundig, sorgfältig, quellennah und gut nachvollziehbar darzustellen. Bilgenroth-Barke hat damit das sich selbst gesteckte Ziel erreicht. Mit ihrer Darstellung eines spannenden Teils der Kriminalitätsgeschichte Duderstadts ist es ihr gelungen, dem lückenhaften Mosaik frühneuzeitlicher Strafrechtspraxis und Devianz einen weiteren Stein hinzuzufügen. Ihre Untersuchung wird ein Referenzpunkt zukünftiger vergleichender Forschungen insbesondere zur Kriminalitäts- und Städtegeschichte sein.
Abschließend ist hinzuweisen auf die im Buch angekündigte Verfügbarkeit der Hauptquelle im Internet. Unter der Adresse http://www.archive.geschichte.mpg.de/duderstadt/ab/reihe56/AB4251.htm war vorübergehend das Duderstädter Strafbuch vollständig digitalisiert hinterlegt. Jedem folio vorangestellt war die jeweilige Transkription Bilgenroth-Barkes. Momentan (Stand: 18.10.2011) ist diese Internetadresse inaktiv. Nach Auskunft des Verlags Edition Ruprecht sollen Digitalisat und Transkription alsbald wieder zugänglich sein. Für die dann erneut mögliche einfache Nutzung des Duderstädter Strafbuchs werden Bilgenroth-Barke sicherlich nicht nur Rechtshistoriker sehr dankbar sein.