Beer, Mathias, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen (= beck’sche reihe). Beck, München 2011. 205 S., 17 Abb., 7 Tab. 6 Kart. Besprochen von Martin Moll.

 

Die Auswahl historischer Themen für die boomenden Kurz- und Kürzest-Darstellungen, die fast alle großen Verlage in ihrem Programm haben, liefert ein untrügliches Indiz für die Aktualität eines Gegenstandes bzw. das öffentliche und mediale Interesse an ihm. Allein beim Verlag C.H. Beck bildet Mathias Beers Büchlein nunmehr bereits die dritte Synopse des Generalthemas „ethnische Säuberungen“. Der Autor stellt sich der Frage nach der Relevanz seines Stoffes: In seiner abschließenden Zusammenfassung beschreibt Beer „Flucht und Erinnerung“ als – vor allem deutschen – Erinnerungsort. Dieser sei, bei gewissen Schwankungen über die Jahre, immer präsent gewesen, denn es habe seit 1945 niemals ein Tabu existiert, darüber zu reden und zu schreiben (Ansätze hierzu in der DDR zeitigten kaum Resultate). Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 habe das Thema erneut an Bedeutung gewonnen, wenngleich nun die bis dahin theoretisch offene, deutsch-polnische Grenzfrage endgültig geklärt und die Integration der einstigen Vertriebenen längst abgeschlossen war. Um die Jahrtausendwende setzten dann Initiativen der unverändert höchst aktiven Vertriebenenverbände ein, ein Mahnmal oder Zentrum gegen Vertreibungen ins Leben zu rufen; ursprünglich als gesamteuropäisches Unternehmen gedacht, kam aufgrund der Zurückhaltung seitens Polens und der Tschechischen Republik 2008 eine deutsche Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zustande.

 

Nicht nur im Schlusskapitel widmet dieser mit rund 160 Seiten recht kurze, mit zahlreichen Abbildungen und Grafiken versehene Text viel Raum den komplexen Fragen rund um die wissenschaftliche Deutung des Geschehens wie auch dessen Weiterwirken im kollektiven Gedächtnis. Das zweite und dritte Kapitel analysieren die Bedeutungsfelder der zentralen Begriffe „Flucht und Vertreibung“ und zeichnen den Gang der Forschung nach. Die Abschnitte 4 bis 7 sind ereignisgeschichtlich ausgerichtet: Sie behandeln die Voraussetzungen (insbesondere die NS-Umsiedlungsmaßnahmen während des Zweiten Weltkrieges), die Entstehung der gegen die Deutschen gerichteten Aussiedlungspläne, deren Umsetzung und kurzfristige wie langfristige Folgen. Beer liegt hierzu einen dichten Text vor, der gleichwohl alle relevanten Fakten enthält und den europäischen Kontext für ein breites, mit dem Gegenstand wenig vertrautes Leserpublikum aufzeigt. Dabei versteht es der Autor blendend, zwischen den auf der Ebene der großen Politik getroffenen Entscheidungen und den verheerenden Auswirkungen für die Betroffenen zu wechseln; letztere kommen durch wenige, aber aussagekräftige Zeitzeugenberichte zu Wort.

 

Auch dank seiner zahlreichen Illustrationen, Landkarten und Tabellen ist der schmale Band ein ausgezeichneter Einstieg für Leser mit geringem Vorwissen, wenngleich auch Kenner der Materie von Beers multiperspektivischer Zugangsweise profitieren werden. Eine parallel zu den acht Kapiteln gegliederte Auswahlbibliographie erleichtert gezieltes Weiterlesen. Schade ist nur, dass der Autor „Flucht und Vertreibung“ zwar als europäisches, ins 19. Jahrhundert zurückreichendes Phänomen versteht, er die Aufnahme und Integration der Vertriebenen jedoch als eine (bundes-)deutsche Erfolgsgeschichte (mit anfänglicher Beteiligung der alliierten Besatzungsmächte) präsentiert – ohne freilich die immensen Schwierigkeiten dieser Integration zu verschweigen. Völlig unerwähnt bleibt hingegen zum Leidwesen des Rezensenten, dass nach 1945 auch Österreich eine große Zahl deutscher bzw. deutschsprachiger Vertriebener aufnahm, wenngleich für die Innen- und Außenpolitik der Alpenrepublik „Flucht und Vertreibung“ niemals eine Bedeutung hatten, die den beiden deutschen Staaten vergleichbar gewesen wäre. Hier hätte ein komparativer Blick (z. B. darauf, warum sich in Österreich im Gegensatz zur BRD niemals eine schlagkräftige Vertriebenen-Lobby, geschweige denn eine eigene Partei bildete) noch einigen analytischen Gewinn gebracht.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll