Austin, Greta, Shaping Church Law Around the Year 1000. The Decretum of Burchard of Worms. Ashgate, Farnham/Surrey 2009. XII, 344 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Greta Austin hat mit ihrer profunden Studie über das Dekret Burchards von Worms einen Grenzstein der Wissenschaftsgeschichte verschoben. Während die Forschung den Beginn methodisch-systematischer Kanonistik bisher im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert verortert und mit den Namen Ivo von Chartres und Gratian verbunden hat, kann Greta Austin diesen Zeitpunkt nun in die Zeit kurz nach dem Jahr 1000 vorverlegen. Überzeugend gelingt ihr der Nachweis, dass die Kanonessammlung Burchards von Worms gegenüber den Vorgängerarbeiten nicht nur qualitativ einen erheblichen Entwicklungsschritt darstellt, sondern bereits die Schwelle zu wissenschaftlicher Kanonistik erreicht hat. Greta Austins Buch darf daher als bahnbrechend bezeichnet werden.

 

Schon die bisherige Forschung hatte das hohe Ansehen bemerkt, das Burchards Werk bei den Zeitgenossen während des ganzen 11. Jahrhunderts und bis weit in das 12. Jahrhundert hinein genoss (S. 15ff.). Horst Fuhrmann hat daher von der einflussreichsten rechtlichen Arbeit des 11. Jahrhunderts gesprochen. Unter dem Einfluss Paul Fourniers rühmte die Forschung jedoch einseitig die Praxistauglichkeit des Dekrets und bemängelte zugleich, der Sammlung Burchards fehle ein theoretischer Anspruch. Neuere Erkenntnisse zu frühen Handschriften des Dekrets[1], die heute in Frankfurt und in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrt werden, erlauben aber nunmehr Einblicke in den Entstehungsprozess des Dekrets und in die Arbeitsweise des Wormser Bischofs (S. 9ff.). Auf dieser Basis geht Greta Austin mit großer Entdeckerfreude zu Werke, die sich schnell auch auf den Leser überträgt. Die Einleitung spannt den Bogen von der Unzufriedenheit Burchards mit den zeitgenössischen Kompilationen des Kirchenrechts hin zu seinem Ziel einer in sich konsistenten, widerspruchsfreien Sammlung autoritativer Texte für die kirchenrechtliche Praxis. Dieses Arbeitsprogramm wird im Verlauf des Buches Schritt für Schritt entfaltet und in detailreiche Einzelstudien umgesetzt. Dass sich dabei manches wiederholt, ist kein Nachteil, sondern gewährt den Ergebnissen vielmehr die notwendige Transparenz.

 

Greta Austin gibt dem Leser zunächst Rechenschaft über ihre eigene Arbeitsmethode und erläutert sodann anhand des Prologs ausführlich die Beweggründe Burchards (S. 2f., 15ff., 75ff.). Drei Missstände werden dort von Burchard besonders beklagt: die Widersprüchlichkeit der bisherigen Sammlungen, die dem Benutzer das Finden der richtigen Lösung erschwert (S. 51), deren Unvollständigkeit und die fehlende Autorität der Kanones aufgrund der verwendeten Quellen minderen Gewichts. Tatsächlich tendierten zeitlich frühere Kanonessammlungen (Regino von Prüm, die Collectio Anselmo dedicata), aber auch die etwa gleichzeitige Collectio duodecim partium dazu, möglichst viele verfügbare Kanones zusammenzustellen (S. 33ff.). Burchards erklärter Wunsch war es demgegenüber, eine Kanonessammlung zu schaffen, die jungen Klerikern als Lehrbuch und zugleich dem Bischof und Priester in der Praxis als Nachschlagewerk dienen konnte. Zu diesem Zweck habe Burchard Kriterien entwickelt, um eine in sich konsistente Sammlung von Texten mit dem Anspruch hoher Autorität zu schaffen (S. 9ff.).

 

Ehe Greta Austin diese These sachkundig begründet, wird der Leser mit unentbehrlichem Hintergrundwissen versorgt. Eine kurze Biographie Burchards von Worms gibt Auskunft über seine Herkunft und Ausbildung, seinen Bildungshorizont, seine Bestrebungen um einen weltlichen Herrschaftsbereich für die Kirche von Worms sowie seine Einstellung zu monastischen und kirchlichen Reformbestrebungen (S. 53ff.). Burchards Beteiligung an einer Vielzahl von Synoden im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts und sein Hofrecht für die familia der Wormser Kirche lassen seinen Wunsch nach einer guten Ordnung für die Welt erkennen.

 

Mit äußerster Gründlichkeit erläutert Greta Austin sodann Burchards Methodik. Kurz weist Austin auf die Benutzerfreundlichkeit des Dekrets durch Seitenlayout, Präzisierung der Rubriken und nummerierte Inhaltsübersichten hin (S. 93). Schon äußerlich ist hier ein systematischer Anspruch erkennbar. Auch die Erweiterung auf 20 Bücher sollte dem Leser das Auffinden der passenden Kanones erleichtern.

 

Bemerkenswert sind aber vor allem die inhaltlichen Grundentscheidungen. Anders als Regino von Prüm überlässt es Burchard nicht dem Nutzer selbst, eine Wahl zwischen sich widersprechenden Bestimmungen zu treffen. Vielmehr trifft Burchard die Auswahl selbst und verwirklicht so das selbst gesteckte Ziel eines in sich konsistenten Werks. Das Problem der Autorität der Kanones löst Burchard durch den Rückgriff auf ein von ihm selbst als autoritativ angesehenen Quellencorpus (S. 103ff.). Burchards Anspruch, eine Sammlung autoritativer Normen zu schaffen, verlangte somit nach einer strikten Quellenauswahl, die nach dem Prolog zum Dekret auf die Bibel, die Dekrete der Konzilien und Päpste, die Schriften von sieben namentlich bezeichneten Kirchenvätern sowie drei Bußbücher beschränkt sein sollte (S. 75ff., 80, 86f.): „Thus, for Burchard, ‚authority’ was the ability of a text to command obedience upon all Christians. A text had legal value only if it appeared to Burchard’s readers to represent the legal opinion of an ‘inspired witness’.“ (S. 103). Weltliches Recht und Bischofskapitularien sieht er dagegen als ungültige Quellen für das kirchliche Recht an (S. 103ff.). Eine durchdachte Rechtstheorie und die Vorstellung einer Normenhierarchie werden hier erkennbar. Tatsächlich konnte Greta Austin kaum einen Text im Dekret auffinden, der sich nicht auf diese materiellen Quellen zurückführen lässt. Nimmt Burchard ausnahmsweise gleichwohl eine Norm aus anderen Quellen auf, ändert er deren Quellenangabe in der Inskription, um der Norm wenigstens formal den Anschein von Autorität zu geben (S. 105ff., 122ff., 131ff.). Hier von Fälschungen zu sprechen wäre sicher vorschnell, denn beispielsweise lassen sich – wie Greta Austin nachweisen kann - einige Texte, die Burchard zwar zunächst von Hrabanus Maurus übernimmt, auf Augustinus zurückführen, so dass die Änderung der Inskription hier (aber nicht immer) eine Korrektur darstellt (S. 133f.).

 

Ein zweites Charakteristikum des Dekrets ist das Postulat einer klaren Trennung zwischen der Kirche mit ihrer geistlichen Gewalt einerseits und der weltlichen Herrschaft andererseits. Burchard unterscheidet bei der Abfassung des Dekrets und des Hofrechts zwischen den jeweiligen Rechtsquellen und differenziert auch für die Rechtsfolgen präzise zwischen kirchlicher Buße und weltlicher Reaktion durch Ausgleich (S. 70ff.). Deutlich lehnt er jede Form weltlicher Herrschaft über oder in der Kirche ab und verzichtet daher – wie schon erwähnt - auf die Aufnahme römischen Kaiserrechts und fränkischer Kapitularien. Schon Kanones, die auf Synoden unter Beteiligung eines fränkischen Königs entstanden sind, werden möglichst aussortiert. Hier scheint Burchard die Position der päpstlichen Politik seit der Mitte des 11. Jahrhunderts vorwegzunehmen (S. 104f.). Erklärungen bietet Greta Austin bewusst nur mit Vorsicht an: Ob Burchards Haltung gegenüber weltlicher Herrschaft in der Kirche auf seine Auseinandersetzung mit den salischen Herzögen zurückzuführen ist, bleibt fraglich, denn seine eigene weltliche Herrschaft über Worms konnte er nur mit Hilfe Kaiser Heinrichs II. sichern (S. 124). Wenn auch die begriffliche Differenzierung zwischen Temporalia und Spiritualia erst auf Ivo von Chartres zurückgeht, so bleibt der bemerkenswerte Befund, dass ein ottonischer Reichsbischof trotz seiner eigenen Doppelfunktion auf der Basis des Herrenwortes in Mk. 12, 17 streng zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt unterscheidet (S. 126).

 

Burchards Rechtstheorie beantwortet auch die Fragen der Widersprüchlichkeit von Normen und der Unvollständigkeit einer Rechtssammlung. Zunächst wird ausführlich Burchards Methode zur Harmonisierung von Widersprüchen untersucht (S. 137ff.). Während Regino von Prüm in die Libri duo noch eine Vielzahl teilweise sich widersprechender Kanones aufgenommen hatte, versucht Burchard, ein Prinzip herauszuarbeiten, mit dem sich die Lösungen der einzelnen Kanones verträgt. Während bei Regino für Meineid teils drei Jahre, teils sieben Jahre Buße angeordnet wurde, nimmt Burchard das Herrenwort in Mt. 15, 19 zum Ausgangspunkt: „Denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung.“ Burchard folgert daraus, dass für die genannten Delikte eine gleiche Behandlung angezeigt ist (S. 139, S. 152ff.). Durch gezielte Auswahl von Kanones aus den Libri duo Reginos gelingt ihm eine in sich schlüssige Darstellung anwendbarer Normen: „By choosing Libri duo canons, by adding others from other formal sources, and by altering the texts of Libri duo canons, Burchard used his power of editorial selection, omission, and even alteration in order to ensure that the Decretum provided readers with a consistent body of rulings and laws.“ (S. 143).

 

Burchard thematisiert schließlich das Problem der Vollständigkeit des Kirchenrechts und damit zugleich die Frage der Lückenausfüllung. Burchard erkennt, dass eine Rechtsammlung nicht für jeden erdenklichen Lebenssachverhalt eine Antwort enthalten kann. Er versucht daher erst gar nicht, eine kasuistische Überfülle zu bieten. Sein Dekret enthält sogar deutlich weniger Kanones als andere zeitgenössische Sammlungen. Er entwickelt vielmehr eine Theorie des Rechts und sieht die Lösung des Lückenproblems in der Methode der Rechtsanwendung. Burchard erkennt, dass einige Kanones generelle Regeln enthalten, andere dagegen spezielle Fälle betreffen (S. 145). Sein innovatives Lösungsmodell liegt also im Auffinden von Prinzipien für bestimmte Fallgruppen. Exemplarisch erörtert Greta Austin dafür die Bücher 6, 10, 11 und 12, die sich mit den Themen Totschlag, Magie und Aberglaube, Exkommunikation, Eid und Meineid befassen (S. 163ff.).

 

Den Prinzipien stellt Burchard spezielle Regelungen für bestimmte Sachverhalte als Erläuterung zur Seite, die als Beispiele dienen, wie die Prinzipien unter bestimmten Umständen zur Anwendung gebracht werden sollen. Er stellt also spezifische Regeln und allgemeine Prinzipien in eine Beziehung zueinander: „Burchard apparently realized that a compiler could try to isolate canons which identified general principles indicating how Christians should behave. By general principles I mean overarching concepts which provided unity to the canonical tradition. To clarify how a principle would be applied, a compiler could also include examples of how these principles were applied in specific circumstances. These canons I call ‘specific rulings’. … Taken together, the principles and rulings present a comprehensive and consistent body of law. The principles allowed an attentive reader or student to identify the unifying threads between apparently unconnected rulings. Taken together, the principles and rulings also gave readers tools with which to reason out new rules for unprecedented problems.” (S. 145f.). Editorisch greift er dabei teilweise auch in den Wortlaut der Kanones ein, um das tragende Prinzip deutlicher herauszuarbeiten.

 

Dabei sind die Prinzipien häufig unmittelbare Zitate aus der Bibel oder Anspielungen auf Bibeltexte (S. 147ff.). Das wird behutsam anhand Mt. 15, 19 und bestimmter Verbrechen begründet (S. 152ff.): „In selecting canons, he apparently checked the specific rules that he found in the tradition against the general, scripturally-based principles, both implicit and explicit in the canons. By including only specific canons that were consistent with these principles, he eliminated conflicts.” (S. 161).

 

Tatsächlich kann Greta Austin nachweisen, dass rund 45 % der Texte des Dekrets inhaltlich gegenüber ihren Vorlagen geändert sind (S. 163ff.). Die Änderungen betreffen besonders häufig die Rubriken, die in ihrer neuen Formulierung den Inhalt des Kanons präziser bezeichnen und damit die Auffindbarkeit des einschlägigen Textes erleichtern sollten.

 

Anders als Ivo rund ein Jahrhundert später bietet Burchard allerdings keine Methodenlehre für den Leser an, Konflikte zwischen einander widersprechenden Kanones eigenständig aufzulösen. Diese Aufgabe übernimmt er – wie gesehen - vielmehr selbst (S. 161). Die Veränderungen im Text der Kanones ermöglichen es Burchard jedoch, sein Ziel zu erreichen, eine in sich konsistente, auf innerer Autorität gegründete Sammlung zu schaffen und dem Rechtsanwender ein Werkzeug an die Hand geben, mit den Prinzipien und unter Rückbindung an die bereits getroffenen spezifischen Regeln auch neuen Problemen  angemessen in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift zu begegnen (S. 78ff., 81, 212). So wird die Lösung neuer Fälle möglich, die explizit nicht bereits spezifisch geregelt waren.

 

Abschließend stellt Greta Austin Burchard und sein Werk in den Zusammenhang von Theologie und Kirchenrecht um das Jahr 1000 (S. 223ff.). Beide Bereiche, deren Eigenständigkeit Burchard sehr bewusst ist, dienen dazu, den Menschen im diesseitigen Leben auf den Weg des Heils durch die schmale Pforte zum ewigen Leben zu leiten. Hier liegt der eigentliche Grund für Burchards intellektuelle Bemühungen: „The canons, after all, served a grander purpose, that of salvation – which was also the ultimate goal of theology. To know what it meant to be saved, Burchard studied theology. And so that Christians could know how to act in order to be saved, he created the Decretum, where theological speculation was applied to concrete situations and translated into practical action. Ultimately, Burchard was not concerned about how humans could know God’s commands. His answer, I believe, was that humans could find these commands in canon law.” (S. 234). Die heilsgeschichtliche Komponente im Prozess der Verrechtlichung ist hier unübersehbar.

 

Der Rezensent erlaubt sich noch den Hinweis auf zwei Bücher von Wilfried Hartmann, (Hrsg.), Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900, München 2007, sowie Kirche und Kirchenrecht um 900, Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht, Hannover 2008, in denen sich wichtige Beiträge für die Zeit vor Burchard finden. Hrabanus Maurus war im übrigen nicht Bischof, sondern Abt von Fulda (S. 229).

 

In der Zusammenfassung stellt Greta Austin nochmals fest, mit dem Dekret habe Burchard eine zusammenhängende, systematische und autoritative Sammlung des Kirchenrechts erarbeitet. Die bisher von Stephan Kuttner, Manlio (nicht: Massimo) Bellomo und Harold Berman vertretene traditionelle Linie, erst die Wiederentdeckung der Digesten um 1070 und die gregorianischen Reformen hätte den Aufstieg modernen westlichen Rechtsdenkens ermöglicht, wird hier überzeugend in Frage gestellt (S. 235ff.). Anders als noch bei Regino von Prüm kann hier bereits von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Recht und einem reflektierten Umgang mit Rechtstexten sowie der Vorstellung einer Normenhierarchie gesprochen werden.

 

Indem Greta Austin die Umsetzung der programmatischen Sätze des Prologs präzise in den einzelnen Arbeitsschritten verfolgt, gelingt ihr der Nachweis, dass Burchard über eine durchdachte Rechtstheorie verfügt. Ihr Buch erhellt das Phänomen der Verrechtlichung der abendländischen Gesellschaft in seiner frühen Phase, zu dessen Intensivierung das Kirchenrecht zumindest in erheblichem Maße beiträgt. Die Arbeit Greta Austins ist somit ein wesentlicher Baustein in der Geschichte der Entwicklung des Rechtsdenkens in der westlichen Welt. Dieser mit spürbarer Begeisterung geschriebenen und profunden wissenschaftlichen Arbeit seien viele Leser gewünscht.

 

München/Würzburg                                                                            Steffen Schlinker



[1] Hartmut Hoffmann / Rudolf Pokorny, Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms: Textstufen – Frühe Verbreitung – Vorlagen, München 1991.