Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Conze, Eckart/Jendorff, Alexander/Wunder, Heide (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2010. 639 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Die Welt des Adels ist omnipräsent – und doch ist sie eine fremde Welt. Aber sie ist keine Welt, die nicht durch unvoreingenommene Betrachtung und nüchterne Analyse erschlossen und entzaubert werden könnte. Im Gegenteil: Man kann, ja man muss den Adel und seine Welt erklären“ (S. 9). Mit diesem programmatischen Statement leitet Eckart Conze, Inhaber des Lehrstuhls für neuere Geschichte der Universität Marburg und langjähriger Sprecher der „Unabhängige(n) Historikerkommission – Auswärtiges Amt“, deren Endergebnis er unlängst zusammen mit Norbert Frei, Peter Hayes und Shlomo Zimmermann im Abschlussband „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ (2010) auch publizistisch präsentieren konnte, als - neben Alexander Jendorff und Heide Wunder - federführender Herausgeber in das vorliegende Sammelwerk ein. Es materialisiert die Essenz zweier Tagungen, die unter der Ägide der Historischen Kommission für Hessen in Kooperation mit weiteren lokalen Forschungsinstitutionen vom 28. Februar bis zum 1. März 2008 in Marburg sowie vom 20. bis 22. November 2008 im Stift Kaufungen abgehalten wurden.

 

Diese von jeweils unterschiedlichen Tagungsschwerpunkten vorgegebene inhaltliche Teilung prägt sinnvoller Weise auch das Druckwerk: Nach einleitenden Ausführungen der Herausgeber zum Projekt und zum Forschungsstand vereinigt der erste Teil unter dem Rubrum „Adel, Herrschaft und politischer Wandel“ die Bereiche „Adel in Umbruchzeiten“ (3 Beiträge), „Adelige Selbstorganisation“ (5 Beiträge) und „Adeliges Selbstverständnis und Herrschaftsverständnis“ (7 Beiträge). Nahezu ständig berühren die Texte rechtsgeschichtlich relevante Materien, so vor allem die Skizze „Adel und Parlamentarismus in Hessen 1815-1866“ Ewald Grothes (S. 115ff.) und der „Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500-1620. Ein Beitrag zum Konzept der ‚Verrechtlichung sozialer Konflikte‘ in der Frühen Neuzeit“ betitelte Aufsatz Armand Maruhns (S. 269ff.).

 

Der zweite Teil des Bandes widmet sich den „Grundlagen und Ausdrucksformen adeliger Lebensführung“: der „Adelige(n) Ökonomie und Herrschaft“ (3 Beiträge), „Adelige(r) Selbstdarstellung und Lebensstile(n)“ (5 Beiträge) sowie dem „Adelige(n) Selbstverständnis und (der) Vergesellschaftung“ (4 Beiträge). Gelungenes, selbst verfertigtes Fotomaterial im Kleinformat von Residenzen (16 Abb.) bzw. von Grab- und Gedenkstätten Adeliger (20 Abb.) zeichnet die Darlegungen Christian Ottersbachs zu „Burg, Schloss, Herrenhaus“ (S. 449ff.) und Sascha Winters zu „Memorialort und Erinnerungslandschaft“ (S. 471ff.) aus, wobei eine etwas größere Wiedergabe das Auge des Betrachters noch mehr verwöhnen würde. Auch in diesem von wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten dominierten Themenkomplex findet sich mit Eckhart G. Franz‘ Ausführungen zu „Adel und/oder ‚Berufsbeamtentum‘ in der inneren Verwaltung (1821-1945)“ (S. 615ff.) ein Beitrag von vorwiegend rechtsgeschichtlicher Relevanz; unverständlicher Weise wird hier - wie übrigens im gesamten Band - auf Persönlichkeiten darstellendes und damit die Plastizität des Textes unterstreichendes Bildmaterial gänzlich verzichtet. In diesem Zusammenhang ist auch zu beklagen, dass sich nirgendwo ein die zahlreichen erwähnten Adelsfamilien verzeichnendes Register findet.

 

Zur räumlichen Verortung wird festgehalten, dass, wenn vom „hessischen Adel“ die Rede sei, „sich dies allein auf den landsässigen Niederadel im Kernland, auf die Landgrafschaft Hessen und ihre Nachfolgestaaten (die Landgrafschaften Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt) sowie auf die Althessische Ritterschaft im Kurfürstentum Hessen-Kassel und Großherzogtum Hessen-Darmstadt, in der preußischen Provinz Hessen-Nassau, im Volksstaat Hessen und im Bundesland Hessen“ beziehe. Die Adelsformationen in den anderen ehemals selbständigen Landesteilen Hessens hätten „ihre je eigene Geschichte, so dass als übergreifende Bezeichnung ‚Adel in Hessen‘ gewählt wurde“ (S. 13f.). Während der regierende Hochadel als staatsbildend in die Politikgeschichte eingegangen sei und dementsprechend wahrgenommen wird, sei nun in heuristischer Absicht das Augenmerk auf den niederen Adel zu legen und dessen Geschichtsmächtigkeit als Teil der Gesellschaftsgeschichte auszuloten.

 

Der Band führt vor Augen, dass das Ziel des Tagungsvorhabens, „den Adel im historischen Raum ‚Hessen‘ vom Ausgang des Mittelalters bis an die Schwelle der Gegenwart unter der Fragestellung zu analysieren, wie sich die - ganz verschiedenen - Adelsgruppen und Adelsformationen in diesem Raum mit den politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Wechsellagen in Vormoderne und Moderne auseinandergesetzt haben und wie sich dabei ihre Position in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verändert hat“ (S. 9), zumindest dahingehend erreicht werden konnte, dass erste Konturen umrissen und damit Grundlagen für eine komparative Auseinandersetzung mit den Strukturen in anderen historischen Landschaften geschaffen werden konnten. Desiderata werden von den Herausgebern selbst erkannt und auch benannt: Forschungen zur globalen Dimension der Auswanderungen im 19. und 20. Jahrhundert; Adel und Antisemitismus; die Elitenbildung unter dem Gesichtspunkt der Beziehung des Adels zu nichtadeligen Standespersonen und zum aufsteigenden Wirtschaftsbürgertum; Gender-Aspekte, etwa die materielle Emanzipation von Adelstöchtern über eigene Erwerbstätigkeit; ein intertemporaler Vergleich zur lokalen Herrenstellung des Adels; schließlich Untersuchungen zur besonders sensiblen Frage der adeligen  Vermögensverhältnisse, der wirtschaftlichen Beteiligungen und der Lobbyarbeit.

 

Mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft des Adels stellt Herausgeber Eckart Conze fünf prägnante Thesen zur Diskussion (S. 626ff.): Der Adel sei heute, stärker als je zuvor, eine „Erinnerungsgruppe“; Selbstbewusstsein und Stabilität schöpfe  er paradoxer Weise aus der konsequenten Aneignung und Vertretung ursprünglich bürgerlicher Werthaltungen, wie „Fleiß, Arbeit, Leistung, die Betonung von Bildung, Distinktion, Diskretion, Sparsamkeit, die Orientierung auf die Familie, auf die Heimat, die Kirche, die Religion“. Es scheine falsch zu sein, die Begriffe „Adel“ und „Elite“ gleichzusetzen, wenngleich in bestimmten Funktionseliten der Adelsanteil (noch) hoch sei und Beziehungsnetzwerke durchaus Einfluss auf „soziale(s) Kapital“ besäßen. Die ständig zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft gefährde womöglich existentiell die durch eine intensive Gruppenidentität geprägte Konsistenz des Adels. Deshalb sei auch die - vor allem in der medialen Präsenz zum Ausdruck kommende - Anerkennung des Adels durch die Gesellschaft eine elementare Bedingung seines Weiterbestehens.

 

Die mehrere Forschergenerationen repräsentierenden, insgesamt 28 weiblichen und männlichen Autoren der einzelnen Beiträge, in der Mehrzahl Historiker und Germanisten, aber auch Anglisten, Romanisten, Theologen, Mediziner und Anthropologen, Erziehungswissenschaftler, Kunsthistoriker, Volkswirte und Juristen, stehen für eine breite Palette an Kompetenzen und garantieren einen modernen, weit gefächerten und  interdisziplinären Ansatz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Adels (nicht nur) in Hessen, die  in der schönen, wertig gehaltenen und von störenden Fehlern freien Publikation einen würdigen Rahmen gefunden hat.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic