Winter, Robert, Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS-Feldpolizei und Organisation Gehlen. Militzke Verlag, Leipzig 2010. 189 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Bezüglich zweier in der Einleitung zu diesem schmalen Büchlein angesprochener Punkte ist dem Verfasser unbedingt Recht zu geben: Im Vergleich zu anderen Terrorinstrumenten des NS-Staates wie SS, Gestapo, Sicherheitsdienst (SD) und anderen ist unser Wissen über die Geheime Feldpolizei (GFP) der Wehrmacht und deren Beteiligung an Kriegsverbrechen insbesondere an der Ostfront eher bescheiden. Und zweitens: Noch aufklärungsbedürftiger ist, auf welchen Wegen und mit wessen Hilfe schwerbelastete GFP-, aber auch SS- und Gestapo-Angehörige nach 1945 bei der Organisation Gehlen, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND), und später bei diesem selbst Unterschlupf fanden. Vor diesem Hintergrund ist es prinzipiell zu begrüßen, dass Winter eine, wenn auch knappe Biographie Wilhelm Krichbaums vorlegt, die sowohl dessen Rolle als Chef der GFP wie auch dessen geheimdienstliche Tätigkeit in der Bundesrepublik behandelt.

 

Freilich ist der Forschungsstand nicht gar so trist, wie Winter behauptet. Sein nicht einmal vierseitiges Literaturverzeichnis belegt nämlich nicht weiße Flecken der Forschung, sondern die oberflächlichen Recherchen des Autors. Die großen Überblickswerke zur Besatzungspolitik in der UdSSR 1941-1944, die sehr wohl – wenn auch verstreute – Hinweise zur GFP enthalten, fehlen ebenso wie Michael Wildts grundlegende Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), in dem Krichbaum laut Winter eine prominente Stellung innehatte. Unverständlich ist im Zeitalter der Internet-Recherchen, wie der Verfasser den schon 2003 publizierten Aufsatz von Paul B. Brown: The Senior Leadership Cadre of the Geheime Feldpolizei, 1939-1945 (in: Holocaust and Genocide Studies 17, 2003, S. 278-304) übersehen konnte, obwohl er ausführlich die von Winter herausgestrichenen Netzwerke behandelt. Browns Monographie zu Krichbaum von 1998 wird zwar des Öfteren zitiert, fehlt jedoch in der Bibliographie. Nimmt man zu Browns Biographie noch zwei (von Winter zitierte) Arbeiten Klaus Geßners hinzu, insbesondere seine 1986 vorgelegte Monographie über die GFP, gibt es also durchaus einige Literatur, auf die sich der Verfasser stützen kann.

 

Seltsam sind die über die Person des Autors mitgeteilten Informationen (S. 189): 1962 in der damaligen DDR geboren, veröffentlichte er „unter seinem Geburtsnamen Joachim Bornschein“ eine Reihe von Büchern, deren Themenbogen sich von religiösen Erweckungsbewegungen bei den Indianern Nordamerikas bis zur Magdeburger Rock- und Undergroundszene 1962-1989 spannt; einschlägig ist immerhin die 2004 publizierte Biographie des Gestapochefs Heinrich Müller, mit dem Krichbaum zahlreiche Berührungspunkte hatte und als dessen Stellvertreter er zeitweilig fungiert haben soll. Warum Joachim Bornschein zu Robert Winter mutierte, bleibt ungesagt.

 

Auf rund 110 Seiten Text bietet Winter eine klassische Biographie Krichbaums und seines Umfeldes, deren Methode sich mehr oder weniger auf ein simples Nacherzählen der Lebensstationen des Protagonisten beschränkt. Darüber hinausgehende Ansprüche erhebt der Autor nicht und so liest sich die Arbeit reichlich monoton als eine schier endlose und wegen der häufigen Wechsel auch verwirrende Abfolge von dienstlichen Verwendungen im Polizeiapparat vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik. Der 1896 in Wiesbaden geborene Krichbaum kam schon im Ersten Weltkrieg zur damaligen kaiserlichen GFP. Nach 1918 gehörte er einer Vielzahl von Freikorps und sonstigen paramilitärischen Verbänden der Rechten an, für die er durchgängig nachrichtendienstliche und Spionageabwehr-Aufgaben zu erfüllen hatte. Diesen erstaunlich geradlinigen Weg setzte Krichbaum vor und nach der Machtergreifung Hitlers in der sächsischen Polizei fort, bevor er seine Karriere in der Zentrale der Gestapo und schließlich als GFP-Chef der Wehrmacht krönte. Interessant ist, neben den unzähligen Versetzungen, die Zwitterrolle Krichbaums, der sowohl einen militärischen als auch einen SS-Dienstgrad (Oberst bzw. SS-Oberführer) bzw. entsprechende Dienstposten bekleidete.

 

Die zentralen Abschnitte sind die Kapitel 6 und 7 (von insgesamt 13), die dem Zweiten Weltkrieg gewidmet sind. Auf über 20 Seiten werden die Verbrechen der GFP in den besetzten Gebieten, insbesondere bei der brutalen Bekämpfung der jeweiligen Widerstandsbewegungen, überaus detailreich nachgezeichnet, wobei allerdings ein direkter Bezug zu Krichbaum – abgesehen von dessen übergeordneter Verantwortung für die ihm unterstellten Einheiten – nicht direkt ersichtlich ist. Was hier ausgebreitet wird, konnte man cum grano salis schon vor einem Vierteljahrhundert bei Geßner nachlesen. Krichbaum fungierte, wie Kapitel 7 ausführt, als personelles wie institutionelles Bindeglied zwischen GFP und Gestapo und verkörperte deren zunehmende Verschmelzung. Zwischen 1945 und 1948 befand sich Krichbaum in alliierter Haft („automatical arrest“ aufgrund seines SS-Ranges), doch wurde gegen ihn niemals Anklage erhoben. Eine deutsche Spruchkammer stufte ihn 1948 gar als „entlastet“ ein (S. 79).

 

Schon kurz nach seiner Freilassung kam Krichbaum teils dank alter Seilschaften, teils durch Vermittlung der Amerikaner in Kontakt mit der Organisation Gehlen, die der frühere Chef der Feindaufklärung des Heeres, Generalmajor Reinhard Gehlen, unter US-Patronanz als rudimentären Nachrichtendienst der jungen Bundesrepublik aufbaute. Niemand fragte bei Krichbaum und anderen NS-belasteten Spionageexperten nach deren Vorleben. Krichbaum fungierte zeitweilig als Gehlens Personalchef, eine Position, die er weidlich nutzte, um ehemalige GFP-Männer in die Organisation einzubauen. 1957 starb Krichbaum in München.

 

Die Frage NS-belasteter Mitarbeiter des frühen BND bzw. dessen Vorläufers ist erst in den letzten Jahren aufgerollt worden und wegen unzugänglicher Akten nur ansatzweise beantwortet. So kann auch Winter immer wieder bloß Spekulationen anbieten, beispielsweise jene über Krichbaums Rolle bei „Gladio“, dem Aufbau eines Netzes sogenannter schlafender Agenten, oder gar über Krichbaum als Sowjetagent (S. 106f., 114). Deutlich wird, dass bundesdeutsche, aber auch amerikanische Nachrichtendienste bei der Auswahl ihres Personals alles andere als zimperlich waren. Dieses Wegschauen ermöglichte es Männern wie Krichbaum, nicht nur jeglicher Strafverfolgung zu entgehen, sondern über vier Jahrzehnte hinweg, unter wechselnden politischen Systemen, einer abwehrpolizeilichen Tätigkeit nachzugehen. Winter hat völlig Recht, wenn er hier großen Forschungsbedarf ausmacht.

 

Obwohl sich zweifellos eine Spur der Gewalt durch Krichbaums Leben zieht, lässt Winter nichts unversucht, seinen Protagonisten zusätzlich in ein denkbar schlechtes Licht zu rücken. Dies führt zu manchen fragwürdigen Urteilen. Beispielsweise postuliert der Verfasser ohne jeden Beleg eine Freundschaft Krichbaums zu RSHA-Chef Reinhard Heydrich, während es im Widerspruch dazu an anderer Stelle heißt: Ob diese Kontakte „jedoch über das rein Berufliche hinausgingen, ist nicht bekannt“ (S. 89, 118). Nach einer Aufzählung der Krichbaum von Seiten der SS zu Teil gewordenen Ehrungen heißt es mit insinuierendem Unterton: „Bereits im Ersten Weltkrieg war Krichbaum mit diversen Auszeichnungen und Ehrungen bedacht worden“ (S. 92). Sind etwa auch solche Orden jetzt nicht mehr political correct? Irreführend, weil unvollständig ist im Abschnitt „Krichbaum – Der Leutesammler“ (S. 103) Winters Hinweis auf den „früheren SS-Sturmbannführer und Gestapo-Beamten Alfred Naujocks“, der nach 1948 Teil von „Krichbaums geheime(m) Netzwerk“ war. Winter verschweigt die ungewöhnliche Tatsache, dass Naujocks 1944 in Frankreich zu den Alliierten übergelaufen war, ein „Verrat“, der erstaunlicherweise seinen freundschaftlichen Beziehungen zu einstigen Kameraden wie Krichbaum keinen Abbruch tat.

 

Ein längerer Anhang präsentiert Kurzbiographien von insgesamt 34 „Personen aus dem Umfeld Krichbaums“, gefolgt von einem Glossar, das im Text erwähnte Organisationen und sonstige Begriffe teils sehr eigenwillig und einseitig erklärt (siehe etwa S. 137 zum „Stahlhelm“, ein Verband von Weltkrieg-I-Veteranen, den Winter ausschließlich als KZ-Wachmannschaft vorstellt). Einige Organisationsübersichten sowie mehrere Quellen in Faksimile (mit falscher Beschriftung auf S. 152-154) runden den Anhang ab. Wie schon im Text festzustellen, verliert der Autor auch im Anhang mitunter den Durchblick in dem verwirrenden Geflecht von Organisationen und Behörden, die Krichbaum in seinem gar nicht so langen Leben durchlief. Gelegentliche falsche Bezeichnungen (S. 78f.: Wehrmachtoperationsstab statt Wehrmachtführungsstab u. a.) belegen ebenso die nicht immer sattelfesten Kenntnisse des Verfassers wie die peinliche Verbalhornung des Propagandaministers als Josef Göbbels (recte Joseph Goebbels, S. 53 und Personenverzeichnis). Winter hat erneut auf ein wichtiges Thema und dessen interessanten Protagonisten aufmerksam gemacht; die aus diesem Buch resultierenden Erträge für die Forschung halten sich jedoch in Grenzen.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll