Wilhelm, Uwe, Das
Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik - politische Strafrechtsprechung
- Justizpolitik (= Historische Forschungen 93). Duncker & Humblot, Berlin
2010. 721 S. Besprochen von Hans Hattenhauer.
Es war an der Zeit, dass sich die Forschung eine umfassende Untersuchung der Justiz des zweiten deutschen Kaiserreichs zur Aufgabe machte, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Einzeluntersuchungen dem vorgearbeitet hatte. Dazu bestand um so mehr Anlass, weil wir bei der Erforschung dieser Epoche nicht mehr allein auf den Bestand R 43 (Reichskanzlei) im Bundessarchiv angewiesen sind und wieder den damals schmerzlich vermissten Zugang zu sämtlichen einschlägigen Archivalien haben. Der Verfasser hat dieser Herausforderung entsprochen. Das Ergebnis ist eine materialreiche Darstellung von allen möglichen Aspekten der Justiz und Rechtspolitik dieser Zeit, so dass sein Werk, eine Habilitationsschrift der Freiburger Philosophischen Fakultät, auch dem mit diesem Zeitraum vertrauten Rechtshistoriker noch manche neue Einsicht zu vermitteln vermag. An gründlicher Auswertung der Archivalien aus dem Reich, Preußen, gelegentlich auch Bayern und Hannover, fehlt es nicht. Dass der Verfasser sich dagegen bei den gedruckten Quellen angesichts deren unübersehbaren Fülle auf eine Auswahl beschränken musste und dort vor allem aus Parlaments- und Presseberichten schöpfte, muss jeder Kundige billigen. Der juristische gebildete Rechtshistoriker muss es begrüßen, dass sich nun auch ein Vertreter der allgemeinen Geschichtswissenschaft auf diesem, von seiner Disziplin zumeist gemiedenen Feld umgesehen hat. Wird dabei der Gegenstand nicht mit dem Vorverständnis des Juristen untersucht, so kann es der Sache doch nur gut tun, wenn fachfremde Kritik dem Rechtshistoriker Fragen stellt und ihm Anlass gibt, sich der Sicht des Rechtslaien zu stellen und auf dessen Sichtweise einzugehen.
Nach einer der Einleitung (S. 15-34) wird die Justiz und die Justizkritik der Bismarckzeit von 1848/49 bis 1878/79 vorgestellt. Dem folgen Abschnitte über die nachrevolutionären Justizreform (S. 108-147 in Preußen sowie – besonders gründlich – über die Reichsjustizreform, dem die Darstellung der Kämpfe um das materielle Strafrecht, Presserecht und Koalitionsrecht folgen (S. 147-169), sodann die politische Strafrechtsprechung und das Aufkommen einer öffentlichen Justizkritik (S. 170-218). Im zweiten Hauptteil (S. 219-478) werden das neunte und das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts die Erweiterung und Verdichtung der von Presse und Parlamenten getragenen Justizkritik erörtert. Hier geht es neben dem Strafrecht auch um das Zivilrecht und die Gerichtsverfassung und der Blüte der Justizkritik in den Neunzigerjahren, die der Verfasser mit dem Etikett „Vertrauenskrise“ kennzeichnet. Im dritten und letzten Hauptteil (S. 479-646) steht das Abflauen der Justizkritik in der Mitte des Interesses. Bei alledem werden ständig auch solche Fragen behandelt, die zu ihrer Zeit die Rechtspolitik und das öffentliche Interesse bewegten, etwa den Streit um die Reform der Juristenausbildung, Sozialistengesetzgebung, Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz im Strafprozess und anderes mehr.
Bereits dem juristisch geprägten Rechtshistoriker würde die Bewältigung dieses fast uferlos auseinanderlaufenden Themenvielfalt Mühe machen. Dem juristisch nicht geschulten Historiker stellen sich zudem noch andere gewichtige Schwierigkeiten in den Weg. Worin diese bestehen, macht bereits ein Vergleich des Buchtitels mit dessen Inhalt deutlich. Währender der Haupttitel eine Erörterung der Jahre von 1866/71 bis 1918 erwarten lässt, setzt die Darstellung bereits 1848/49 ein, endet aber bereits 1914, behandelt also die juristisch bedeutsamen Kriegsjahre nicht. Der Untertitel des Buchs dagegen verspricht die Erörterung von drei Gegenständen, die aber den Blick auf die kaiserliche Justiz aus unterschiedlicher Richtung lenken. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der Justizkritik. Diese entzündet sich zu allen Zeiten am liebsten an Strafprozessen, wie denn der Rechtslaie sein Interesse am Recht in der Regel auf das Strafrecht beschränkt und dessen in der Rechtsordnung keineswegs dominierende Bedeutung zumeist überschätzt. Der Verfasser betont zwar, dass er das Schwergewicht seiner Darstellung auf das Strafrecht gelegt hat, fällt der Versuchung einer ausschließlich strafrechtsbezogenen Erörterung nicht anheim, sondern behält auch die Zivilrechtspflege im Blick und sprengt diesen engeren Rahmen mit der Frage nach der Justizpolitik. So kommt es insgesamt zu einer Darstellung der kaiserlichen und parteipolitisch-parlamentarischen Justizpolitik überhaupt, innerhalb welcher die Justizkritik und das politische Strafrecht den Schwerpunkt bilden. Das macht das Werk sehr umfangreich und bringt den Leser in die Versuchung, jeweils nur an den ihn Interessierenden Stellen nachzuschlagen. Um der Lesbarkeit willen hätte eine Konzentration der Darstellung auf sein Hauptthema dem Buch wohl nicht geschadet, zumal der Verfasser nicht daran gehindert gewesen wäre, sein reiches Wissen dennoch in gedrängter Form und weniger ausführlich unterzubringen.
Justizkritik hat es zwar stets gegeben, doch kam sie immer von sehr unterschiedlicher Seite. Diese Herkunft bestimmte je und je ihre Qualität und Wirkungsmacht. Wo sie von den Inhabern der Regierungsgewalt ausging – etwa bei Bismarck, im sozialdemokratisch regierten Preußen der Weimarer Zeit, bei Hitler – ging es vor allem, darum die Richter auf eine neue politische Lage umzuerziehen, um Richterkritik und Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit und Richterdisziplinierung. Wo die parteipolitische Opposition in einer parlamentarischen Demokratie Justizkritik betrieb, suchte sie die Bindung der Richter an die von der regierenden Mehrheit erlassenen Gesetze zu lockern, deren Richterleitbild zu erschüttern und die eigene Regierungsübernahme vorzubereiten. Wo sich juristische Standesgenossen, zumeist Rechtsanwälte, kritisch zu Wort meldeten, war das Hauptziel die Reform der Justiz zugunsten ihrer Berufsinteressen; manchmal geschah dies auch im Interesse des Bürgers, bisweilen ging es um schlichten Standesneid. Wo sich der Bürger über die Justiz beschwert, fühlte er sich in der Regel durch angeblich oder wirklich erlittenes Justizunrecht betroffen. Um bis zum Kern einer Justizkritik vorzudringen, muss man diese unterschiedlichen Gattungen klar voneinander unterscheiden, weil dabei auch die Motive der Kritiker klarer erkennbar werden. Der Verfasser tut dies ansatzweise auch, doch hätte es aus juristischer wie rechtspolitischer Sicht gelegentlich etwas deutlicher geschehen können.
Justizkritik kann auch nicht für sich allein angemessen beurteilt werden, zumal ihr an der Erforschung aller ihrer Motive meist nicht gelegen ist. Sie ruft in der Regel Antikritik und andere Reaktionen hervor. Diese müssen ebenso ernst genommen werden wie jene. Auch davon berichtet der Verfasser, doch liegt ihm die Kritik offenbar am meisten am Herzen. So stutzt man doch bei der Rede von der „Selbstgewissheit, ja Arroganz“, mit welcher der Deutsche Juristentag über die auch von fachlicher Seite vorgebrachten Mängel hinweggegangen sei (S. 346) oder bei der Feststellung: „So überzeugend Oppenheimers Erklärungen im einzelnen sein mögen, so laufen sie im Ganzen doch auf eine Generalexkulpation der Richter hinaus“ (S. 389). Es ist durchaus vertretbar, wenn der Verfasser zu erkennen gibt, dass seine Sympathie eher den Kritikern als den Kritisierten gehört, doch hilft es dem Forscher sehr und schärft sein Urteil, wenn er sich bemüht, auch die ihm unverständlich und abwegig erscheinenden Meinungen zu verstehen. Die Gefahr, dass man dieser Pflicht nicht voll genügt, liegt allerdings besonders nahe, wenn man die Justizkritik zum Hauptgegenstand der Forschung wählt und die Antikritik wie auch die Reaktionen und Reformen vor allem vom Standpunkt der Kritiker aus betrachtet. Dieser Sicht dürfte es zu verdanken sein, dass der Verfasser unter bewusster Anspielung auf die Formel von der „Vertrauenskrise der Justiz“ durchgängig von einer „Vertrauenskrise“ der Justiz der Neunzigerjahre spricht. Er weiß wohl, dass diese Formel erst der Weimarer Republik entstammt. Vielleicht ist ihm dabei aber nicht voll bewusst, worum es in dieser sozialdemokratisch gesteuerten Pressekampagne wirklich ging. Er reißt das Wort Vertrauenskrise aus dessen historischen Kontext und wendet es auf eine andere rechtspolitische Lage an, tut dies aber mit einem schlechten Gewissen, indem er das Stichwort immer in Anführungszeichen verwendet.
Es gehört zum Kernbestand der von Rechtslaien vorgetragenen Justizkritik, dass diese sich an dem von ihnen beklagten Gegensatz von „juristisch-technischen Prinzipien“ einerseits und „elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen und volkstümlichen Erwartungen“ andererseits (S. 269 und 322) reiben und sich auf die Seite der populären Erwartungen stellen. Sie können den Sinn des „Formalismus“ (S. 393) des juristischen Handwerks nicht verstehen und verdammen ihn aus vollem Herzen. Es ist für den Laien entsetzlich schwer, den Sinn von Form und Verfahren in der Rechtspflege zu erkennen, auch wenn man ihn daran erinnert, dass der Umgang mit Form und Verfahren ein mühselig zu erlernendes, schweres Geschäft ist und der Sinn der juristischen Form- und Verfahrensstrenge im Schutz der Bürgerfreiheit besteht, dass sich deren Feinde bei der Abschaffung dieser Rechtsgarantien immer auf das Gerechtigkeitsgefühl und die Billigkeit berufen. Soll sich auch dem Rechtslaien der Sinn für das „Formaljuristische“ erschließen, bedarf es einer gründlichen Ideologiekritik der Justizkritiker und einer Aufdeckung ihrer rechtspolitischen Absichten. Ein solches Vorgehen hätte dem Verfasser zu mehr Vorsicht bei seinem entschiedenen Bekenntnis gegen die Form und für das Rechtsgefühl verhelfen können.
Zeigt die Arbeit auch, wo sich dem Rechtslaien beim Erörtern von Rechtsfragen besondere Herausforderungen stellen und wie schwer es ihm fällt, dem gerecht zu werden, behält dieses Buch wegen seiner Materialfülle doch auch für den Juristen erhebliche Bedeutung. Ein derart umfassender Überblick über das Recht des zweiten deutschen Kaiserreichs birgt auch für ihn viele neue Erkenntnisse. Das Buch gehört in jede rechtshistorische Seminarbibliothek und verdient es, gelesen zu werden. Dass es zu diesem Thema nicht für alle Zeiten das letzte Wort sein wird, hat es schließlich mit jedem anderen wissenschaftlichen Werk gemein.
Speyer Hans Hattenhauer