Wesel, Uwe, Geschichte
des Rechts in Europa - Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon. Beck,
München 2010. X, 734 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Dieses Buch, so beginnt der bekannte Verfasser, wenige
Tage nach der Machtübernahme in Hamburg geboren, nach dem Studium der
klassischen Philologie in Hamburg (Bruno Snell) und der Rechtswissenschaft in
München 1965 bei Wolfgang Kunkel über rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung
der römischen Juristen promoviert und 1968 mit einer in der romanistischen
Abteilung dieser Zeitschrift (Band 85 [1868], 94) veröffentlichten Untersuchung
zur dinglichen Wirkung der Rücktrittsvorbehalte des römischen Kaufs
habilitiert, 1969 an die freie Universität in Berlin berufen und in unruhiger
Zeit umgehend zum Vizepräsidenten gewählt, ergänzt die schon erschienene
„Geschichte des Rechts“ (1997, 2. A. 2001, 3. A. 2006). Die beginnt mit der
vorstaatlichen Welt von Stammesgesellschaften und der Entstehung von Herrschaft,
beschreibt dann Mesopotamien, Ägypten, das alte Israel, Griechenland und Rom
als größeres Bild einer antiken Rechtsgeschichte und verengt sich dann aber
seit dem Mittelalter immer mehr auf den deutschen Sprachraum. Im jetzigen Buch,
das nur mit jahrelanger Unterstützung durch die Alfried Krupp von Bohlen und
Halbach-Stiftung und die Gerda Henkel-Stiftung möglich war, wird - ausgenommen
einige kleinere Länder - die Geschichte des Rechts für ganz Europa beschrieben,
das mit Griechen und Römern beginnt (also Stammesgesellschaften, Mesopotamien,
Ägypten und das alte Israel vernachlässigen kann) und sich später (nicht auf
den deutschen Sprachbereich verengt, sondern) ausdehnt von Spanien bis Norwegen
und von England bis Russland(, die freilich zu einem erheblichen Teil von
Griechen beeinflusst und zeitweise von Römern beherrscht sind).
Gegliedert ist das neue, mit einem Bezug auf Bruno Snell
einsetzende Werk in elf Kapitel. Sie betreffen nacheinander Europa (mit einem
Exkurs Europäische Rechtsgeschichte), Griechenland, Rom, (etwas kürzer) Byzanz,
(ebenfalls kürzer) Kelten, Germanen, Slawen, erste Anfänge (wovon eigentlich?)
das frühe Mittelalter (500 bis 1050), die große Wende (von den ersten Anfängen
wozu?) Hoch- und Spätmittelalter (1050-1500), frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert,
20. Jahrhundert und (kurz) Rückblick und Vergleich - Europäisches Recht.
Zeitlich wird also eine ganzheitliche, die Fächergrenzen nach älteren
Vorbildern überwindende Rechtsgeschichte ganz konventionell von den antiken
griechisch-römischen Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart (Nachtrag vom 10.
Juni 2010) gegliedert.
Das Wesentliche aus den wichtigsten Rechtsgebieten von
Griechen und Römern über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis heute. Das
soll, so erklärt der Exkurs Europäische Rechtsgeschichte, hier europäische
Rechtsgeschichte sein. Von Spanien bis Norwegen , von England bis Russland und
so weiter.
Warum? Weil man aus der Geschichte lernen kann, die
Gegenwart besser zu verstehen und ein wenig in die Zukunft zu denken. Auch im
Recht - dem werden bei allen grundsätzlichen Zweifeln, was der Mensch aus
seiner Geschichte wirklich lernt, alle Rechtshistoriker aus ureigenstem
Interesse sicher zustimmen.
Das eigene Land ist wichtig. Aber die Gemeinschaft mit anderen
nun (anders als noch 1997) ebenso. Nach vielen und grausamen Strapazen der
letzten Jahrzehnte (von ? bis ?) sind wir mit der Europäischen Union als Bürger
endlich in Europa angekommen - obwohl noch manches unklar und schwierig ist,
aber wir sind angekommen, das Blickfeld ist erweitert, Europa ist (anders noch
als 1997) unsere eigene Geschichte geworden.
Erst seit kurzem wird sie (unsere eigene Geschichte?) in
dieser Weise von Historikern beschrieben, meistens in mehreren Bänden verteilt
über einzelne Epochen von verschiedenen Autoren, weil ein einzelner mit der
Vielfalt von zweieinhalb Jahrtausenden
überfordert ist. Von Spanien bis Norwegen und so weiter. Für die
Rechtsgeschichte wird das hier von einem, der kein Genie ist, aber ziemlich
unbekümmert bereits Werke über den Mythos vom Matriarchat (1980), Aufklärungen
über Recht, juristische Weltkunde, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen
Gesellschaften, Recht und Gewalt, Fast alles was Recht ist, den
Honecker-Prozess, Risiko Rechtsanwalt, die verspielte Revolution und die
Folgen, Recht, Unrecht und Gerechtigkeit oder den Gang nach Karlsruhe (2004)
vorgelegt hat, in einem Band versucht, weil man (Autor oder Leser?) sonst die
Übersicht verliert, den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht - das ist das erste
Problem.
Das zweite, damit verbundene Problem ist - soll sich das
beschränken auf die bisher 27 Mitglieder der Europäischen Union? Nein. Erstens
werden noch andere dazukommen und zweitens ist Europas Geschichte (schon
immer?) eine Einheit trotz ihrer Vielfalt, wie im ersten Kapitel beschrieben -
auch die Geschichte des Rechts.
Also alle 46 Staaten? Das ist unmöglich in einem einzigen
Band. Also ab dem Mittelalter Spanien, Frankreich, England, Deutschland,
Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Polen, Böhmen, Ungarn und Russland, in
der frühen Neuzeit auch die Niederlande und die Schweiz, im 19. Jahrhundert
Belgien, Österreich und Griechenland, so dass vernachlässigt werden zum
Beispiel Portugal, Irland, Schottland, Island, Finnland, Slowenien, Kroatien,
Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, die baltischen Staaten, Rumänien,
Bulgarien und andere, aber insgesamt müssten drei Viertel ja reichen.
Das dritte Problem ist die Sprache. Niemand, so der
Verfasser völlig zu Recht, kann alle (europäischen) Sprachen kennen und dann
auch noch alle in diesen Sprachen erschienenen Werke lesen. Deswegen wird es
jedermann einleuchten, dass er seine Versuche nach Maßgabe dessen als vollendet
ansieht, was ihm zu erreichen möglich war.
Innerhalb der elf Kapitel unterscheidet der Verfasser
insgesamt 170 Randnummern. Sie beginnen im Kapitel Griechenland mit Geschichte
und Wirtschaft und reichen über das Problem griechisches Recht, Athen, Gesetze
des Drakon und Solon, die Verfassung von Athen in klassischer Zeit, Prozessrecht,
Privatstrafrecht, Strafrecht, den Prozess gegen Sokrates, Eigentum und Besitz,
Erbrecht, Ehe und Familie, Männer und Frauen, Sklaven, Verträge, Kauf, Darlehen
und Bürgschaft, Pfandrecht und Hypothek, Naturrecht und Rechtsphilosophie bis
zu griechischem Recht. Im 20. Jahrhundert werden Geschichte und Wirtschaft,
Eigenständigkeit des sozialistischen Rechts, Verfassungsrecht,
Verfassungsgerichtsbarkeit, Menschenrechte, Verwaltungsgerichtsbarkeit und
Verwaltungsrecht, Strafrecht, der Reichstagsbrandprozess, Moskauer Schauprozesse,
Allgemeines Privatrecht, The snail in the bottle, Familienrecht, Männer und
Frauen, Arbeitsrecht, Völkerrecht, Nürnberger Prozess, Völkerstrafrecht,
Europäische Integration und Europarecht und Recht im Zeitalter der Extreme
erfasst.
Wenn Iphigenie auf der Vorderseite Uwe Wesel auf der
Rückseite betrachtet, wird sie ihm bescheinigen können, dass er sehr viel
Sachstoff für einen durchaus einleuchtend geordneten Überblick ermittelt und
verarbeitet hat, der durch Fettdruck, Normaldruck und Kleindruck auch noch in
der Wichtigkeit unterschieden wird. Dies ist eine bedeutende Leistung. Sie wird
durch klare Übersichten noch geschärft.
Der Belebung dient die konkrete, jeweils verhältnismäßig
ausführliche Aufnahme der bekanntesten und vielleicht auch wichtigsten Prozesse
der (europäischen) Weltgeschichte. Sie beginnen bei der ausführlichen
Schilderung des Verfahrens gegen Sokrates. Sie enden nach China, Indien und dem
Islam in der Grundsätzlichkeit bei der Kassiererin Barbara E(mme), genannt Emmely,
und der Ungerechtigkeit herrschender Meinungen, die statt im Nachtrag technisch
vielleicht doch auch noch im Text korrigiert hätte werden können.
Als Gewinn sieht der in Berlin und andernorts gestählte Verfasser wohl auch die Unmittelbarkeit seiner Sprache an. Dementsprechend entsteht beispielsweise der Investiturstreit auf S. 197, nachdem schon andere Päpste gewisse Allmachtsphantasien für sich und die Kirche entwickelt hatten. Aber erst Gregor`VII. machte 1075 Nägel mit Köpfen - ein sehr kleiner Mann aus kleinen Verhältnissen, aber ein großer Papst.
Sachlich wird es manche Einzelheit geben, die der Spezialist anders sehen wird als der Generalist. Das kann die gesamte Leistung aber nicht wirklich schmälern, weil es jedermann unbenommen ist, eine gute Leistung durch eine noch bessere Leistung zu ersetzen. Gespannt wird man sein dürfen, wie sich Geschichte des Rechts und Geschichte des Rechts in Europa im Verhältnis zu einander weiter entwickeln werden, da auch Auflagennumern eine gewisse Werbewirksamkeit auszustrahlen pflegen, und wann die Geschichte des Rechts in die Geschichte des Rechts des Universums überführt werden wird.
Innsbruck Gerhard Köbler