Weichbrodt, Stephan, Die Geschichte des Kammergerichts von 1913-1945. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2009. 410 S., Abb. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das Kammergericht (KG) gehörte zu den profiliertesten Oberlandesgerichten Preußens, das insbesondere über umfassende Zuständigkeiten im Bereich der FGG-Sachen (S. 27) und ab 1934 in Hoch- und Landesverratssachen (S. 39) verfügte. Mit der Geschichte des Kammergerichts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hat sich Friedrich Holtze in Bd. 4 seiner „Geschichte des Kammergerichts“ (Bd. 4, Berlin 1904) und in der Festschrift von 1913: „Fünfhundert Jahre Kammergericht“ befasst. Friedrich Scholz hat 1982 unter dem Titel „Berlin und seine Justiz, Geschichte des Kammergerichtsbezirks 1945-1980“ eine umfassende Geschichte auch des Kammergerichts für die Nachkriegszeit vorgelegt. Mit dem neuen Werk Stephan Weichbrodts ist nunmehr die Geschichte des Kammergerichts für die Zeit des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Zeit und der NS-Zeit erschlossen.

 

Nach der Einleitung, die den „historischen Erwartungshorizont“ erschließt (Müller-Arnold-Prozess; Zopfschulzen-Fall, Fall des Turnvaters Jahn und Fall Jacoby; S. 18ff.) folgen Abschnitte über die Namens- und Baugeschichte (S. 25ff.), die Zuständigkeiten (S. 35ff.) und die Richter (Ausbildung, Diensteide, S. 47ff.). Für die Weimarer Zeit beschreibt Weichbrodt zwölf „Einzelereignisse“ (S. 83ff.), u. a. die Ablehnung jüdischer Richter, den Fall des Senatspräsidenten beim preußischen Oberverwaltungsgericht Grützner gegen den Kammergerichtsrat Dr. Fränkel und die Probleme, die mit der politischen Betätigung von Justizangehörigen zwischen 1930 und 1932 verbunden waren.

 

Auch für die NS-Zeit bringt Weichbrodt keine Gesamtdarstellung, sondern zunächst wiederum lediglich „Einzelereignisse“. Allerdings wäre es hilfreich gewesen, wenn er in diesem Zusammenhang und nicht erst im Schlusskapitel auf den neuen Kammergerichtspräsidenten Heinrich Hölscher, der am 1. 6. 1933 Dr. Eduard Tigges ablöste, näher eingegangen wäre. Hölscher, ein „links stehender Zentrumsmann“ (nach einer Äußerung des Gauleiters der Kurmark Kube; S. 352), 1927 Staatssekretär im preußischen Justizministerium und von Juli 1932 bis März 1933 dessen kommissarischer Leiter, war aus dem Justizministerium herausgedrängt worden, um Roland Freisler als Staatssekretär Platz zu machen. Hölscher führte das Gesetz vom 7. 4. 1933 zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mit großer Härte durch, war aber im Übrigen bemüht, das Gericht weitgehend von nationalsozialistischen Einflüssen und Pressionen freizuhalten. Hierauf weist Weichbrodt wiederholt im 5. Kapitel „Einzelereignisse“ nach dem 30. 1. 1933 (S. 149ff.) hin (u. a. Unterstützung eines Amtsrichters, der sich der Anwesenheit von SS-Ärzten bei Leichenöffnungen im Konzentrationslager Sachsenhausen widersetzt hatte). In einem weiteren Kapitel behandelt Weichbrodt die Tagungen des Reichsjustizministeriums mit den Chefpräsidenten (11./12. 11. 1936 Kritik an der nach Meinung des Reichsjustizministeriums zu milden Hochverratsjudikatur kammergerichtlicher Strafsenate; 23./24. 4. 1941 Unterrichtung über die Durchführung des Euthanasieprogramms, gegen das keiner der Chefpräsidenten protestierte; Pläne von 1943 für ein neues Richtergesetz; Quellen hierzu bei W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. VI, Frankfurt am Main 1997, S. 735ff.). Die Berichte Hölschers an das Reichsjustizministerium von 1940 bis 1943 zeichnen sich durch Sachlichkeit aus (Kritik an Neuerungen zur Zivilrechtspflege und an der Aushöhlung der Justiz insbesondere durch den „Ausbau der Polizeigerichtsbarkeit“; S. 247), während die Berichte seines Nachfolgers Johannes Block (1943-1945) weitgehend mit der Ideologie des Nationalsozialismus konform gingen. Auf eine breite Darstellung der Urteilspraxis des Kammergerichts, zu der bisher so gut wie keine Vorarbeiten vorliegen, hat Weichbrodt mit Recht verzichtet, da dies den Rahmen des Werkes gesprengt hätte. Die Auswahl der besprochenen Urteile des Kammergerichts beschränkt sich auf die Zeit von 1933 bis 1945 (S. 263-345) und geht von den beiden Kriterien aus, nämlich ob die Entscheidungen „den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen“ und ob „überhaupt und in welchem Maße sie die Sprache des Nationalsozialismus in den Gründen erkennen lassen“ (S. 236). In diesem Zusammenhang ist die Darstellung der Rechtsprechung in Ehescheidungssachen (S. 277-279), in der sich Weichbrodt vornehmlich auf die Untersuchungen von Marie Mammery-Latzel, „Justizpraxis in Ehesachen im Dritten Reich. Eine Untersuchung von Prozessakten des Landgerichts Berlin unter besonderer Berücksichtigung der Ideologie des Nationalsozialismus“ (2002) stützt, etwas sehr knapp ausgefallen. Neuland betritt Weichbrodt mit der Auswertung von 154 erstinstanzlichen, unter den Beständen des Justizministeriums im Bundesarchiv Berlin verwahrten Strafurteilen – überliefert sind 750 Entscheidungen – zu den Delikten des Hoch- und Landesverrats sowie der Wehrkraftzersetzung. Für das Zivilrecht erstrebten nach Weichbrodt insbesondere die Urteile, die einem Juden die gesetzlichen oder vertraglichen Rechte nur deswegen verweigerten, weil er als Jude aus dem Volksleben ausgeschlossen werden sollte, keine Gerechtigkeit (S. 342). Im strafrechtlichen Bereich sind nach Weichbrodt nur wenige der überprüften Urteile objektiv rechtswidrig; viele der verhängten Strafen seien nach heutigen Maßstäben zu hoch, gemessen an dem Strafrahmen der damaligen gesetzlichen Vorschriften hätten sie aber oft an deren unterem Ende gelegen, weshalb sie das Reichsjustizministerium oft kritisiert habe (S. 344).

 

Das Werk wird abgeschlossen mit Biographien der Präsidenten des Kammergerichts, eines Teils seiner Vizepräsidenten und einiger weiterer Kammergerichtsräte, mit in der Darstellung nicht immer detailliert ausgewerteten Übersichten (S. 38f. über die Parteizugehörigkeit der Richter) und mit einem Personenregister. Abschließend stellt Weichbrodt in seinem Nachwort fest, dass Hölscher das Kammergericht „zwar in das nationalsozialistische Regime eingeordnet, es aber nicht darüber hinaus in besonderer Weise mit dessen Ungeist durchdrungen hat“ (S. 375), so dass man dem Gericht nicht vorwerfen könne, „den Ungeist des nationalsozialistischen totalitären Staates in besonderer Weise gefördert und gestärkt zu haben“ (S. 376). Insgesamt war eine in sich geschlossene und umfassende Darstellung des Kammergerichts zwischen 1913 und 1945 schon deswegen nicht möglich, da die Generalakten des Gerichts und wohl auch die meisten Personalakten im Krieg verloren gegangen sind. Auch die Überlieferung im Geheimen Staatsarchiv und im Bundesarchiv (für die Zeit ab 1934) ist hinsichtlich des Kammergerichts nicht vollständig. Ungeachtet der Überlieferungslücken erschließt das Werk Weichbrodts die wichtigsten Bereiche der Geschichte des Kammergerichts zwischen 1913 und 1945 und bietet damit insgesamt eine gute Grundlage für weitere Forschungen über das Kammergericht, die auch die gesamte Kaiserzeit berücksichtigen und die Geschichte anderer, insbesondere preußischer Oberlandesgerichte vergleichend heranziehen sollten.

 

Kiel

Werner Schubert