Weber, Judith, Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (= Juristische Zeitgeschichte, Abt. 3 Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung - Materialien zu einem historischen Kommentar 32). De Gruyter, Berlin 2009. XVI, 280 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das sächsische Strafgesetzbuch in der Fassung von 1855/68 nimmt in der deutschen Strafrechtsgeschichte insofern eine besondere Stellung ein, als es als einziges partikulares Strafrecht das gesamtdeutsche Strafgesetzbuch von 1870/71, das im Übrigen ganz dem preußischen StGB von 1851 verpflichtet war, in Randbereichen beeinflussen konnte. Aus diesem Grunde ist es das Hauptziel der Hagener, von Thomas Vormbaum betreuten Dissertation Judith Webers, die Entwicklung der sächsischen Strafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Strafgesetzbuch von 1870 zu erschließen. Hierzu war es erforderlich, auf der Grundlage der Entwürfe und der parlamentarischen Materialien auch auf die Entstehung der sächsischen Strafrechtskodifikationen einzugehen, für die es bisher an einer monographischen Erschließung fehlte. Die Darstellung beginnt mit einem Überblick über die Entwicklung des sächsischen Strafrechts bis zur Einführung des Criminalgesetzbuchs (CGB) von 1838. Bis dahin gab es in Sachsen kein einheitliches Strafgesetzbuch, sondern nur ein „aus verschiedenen Konstitutionen, Mandaten und anderen Normen“ zusammengesetztes Strafrecht (S. 14). Die folgenden Abschnitte des Werkes beschreiben nach der Besprechung der Vorentwürfe Karl August Tittmanns (1811), von Christian Daniel Erhards (1813) und Christian Carl Stübels (1824) die Entstehung des Criminalgesetzbuchs von 1838, des Strafgesetzbuchs von 1855 und dessen revidierter Fassung von 1868. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen jeweils die Regelungen des Allgemeinen Teils der Kodifikationen, die sich abweichend vom preußischen Recht bis 1868 herausgebildet haben. Hierzu gehören die Frage der Dreiteilung der strafbaren Handlungen, das Strafensystem (insbesondere Todesstrafe und Strafrahmenbestimmungen), die Versuchsregelung, der Umfang der Antragsvergehen, der Beginn der Schuldfähigkeit, die bedingte Entlassung sowie Strafausschließungsgründe und Strafmilderungsgründe und die Frage, ob und inwieweit die (Polizei-)Übertretungen im Strafgesetzbuch zu regeln waren. In fast allen diesen Bereichen hatte der sächsische Gesetzgeber Lösungen entwickelt, die grundsätzlich vom preußischen Strafgesetzbuch von 1851 abwichen.

 

Die Entwürfe Tittmanns, Erhards und Stübels kamen, da noch stark naturrechtlichem, nicht jedoch rechtstaatlich-liberalem Denken verpflichtet, als Vorlagen für die weiteren Gesetzgebungsarbeiten nicht in Betracht. Vielmehr beauftragte das sächsische Justizministerium 1833 – Sachsen war 1831 konstitutionelle Monarchie geworden – Johann Carl Groß mit der Ausarbeitung einer neuen Vorlage, die 1835 vorlag und nach geringfügigen Modifikationen im Justizministerium im März 1836 den Ständen (1. und 2. Kammer) vorgelegt wurden, welche den Entwurf zunächst Deputationen zur Vorberatung überwiesen, anschließend im Plenum berieten und 1838 verabschiedeten. Bereits das Criminalgesetzbuch von 1838, das als Ausgangspunkt der neueren partikularrechtlichen Strafrechtskodifikation angesehen werden kann, wies gegenüber der allgemeinen Entwicklung in Deutschland im Allgemeinen Teil einige Besonderheiten (Zurückweisung der Dreiteilung der Straftaten, grundsätzliche Strafbarkeit aller versuchten Delikte) auf. Besonders intensiv war die Diskussion über die Todesstrafe, welche die Stände beibehielten. Jedoch gaben sie gleichzeitig der Regierung auf, darauf hinzuwirken, diese Strafe „allmählich“ abzuschaffen (S. 90, 105). Insgesamt war das Strafgesetzbuch von 1838 von den liberalen Tendenzen der Zeit und den damit verbundenen wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmt. Das Strafgesetzbuch von 1855 stellt eine umfassende Bearbeitung der Kodifikation von 1838 dar, an der bereits der bedeutende sächsische Strafrechtler Oscar von Schwarze (über diesen Achim Lacher, Friedrich Oscar von Schwarze, Diss. iur. Würzburg 2008) beteiligt war. Die in der Revolution nur kurz ausgesetzte Todesstrafe wurde beibehalten, die zwischenzeitlich abgeschaffte körperliche Züchtigung wieder eingeführt. 1862 übernahm Sachsen nach dem Vorbild Großbritanniens und Irlands die „Beurlaubung“ (bedingte Entlassung) Strafgefangener. Mit dem Revidierten Strafgesetzbuch von 1868 wurde auf Wunsch König Johanns die Todesstrafe abgeschafft und an deren Stelle die lebenslange Zuchthausstrafe gesetzt, eine Regelung, die allerdings von einer nicht unbedeutenden Minderheit der Kammern abgelehnt wurde. Im vorletzten Kapitel kennzeichnet Weber zunächst den auf dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 beruhenden Strafgesetzbuch-Entwurf von Friedberg (preußisches Justizministerium) und geht anschließend auf die überwiegend negative Kritik von sächsisch-thüringischer Seite ein. In den Beratungen der Strafrechtskommission des Norddeutschen Bundes (Oktober-Dezember 1869) stellte Schwarze in seinen Anträgen die wichtigsten sächsischen Errungenschaften (u. a. keine Dreiteilung der Delikte; grundsätzliche Strafbarkeit auch des versuchten Vergehens; Wegfall der Todesstrafe und des Adelsverlustes) zur Diskussion, hatte damit aber so gut wie keinen Erfolg. Anschließend geht Weber ausführlich auf die Beratungen des Bundesrats und des Reichstags ein, der zunächst für die Beseitigung der Todesstrafe votierte, jedoch in dritter Lesung am 23. 5. 1870 auf Intervention Bismarcks für die Beibehaltung dieser Strafe mit 127 gegen 119 Stimmen stimmte. Damit verfügte der Norddeutsche Bund und seit dem 15. 5. 1871 das Deutsche Reich über ein einheitliches Strafrecht. In der „Zusammenfassung und Würdigung“ (S. 245-266) stellt Weber die wichtigsten Besonderheiten des sächsischen Strafrechts zusammen und stellt abschließend fest, dass Sachsen kein „quantitativ bedeutender Einfluss auf das Reichsstrafgesetzbuch“ zugesprochen werden könne. Jedoch sei „durch die Arbeit und die Initiative Sachsens das StGB für den Norddeutschen Bund in vielerlei Hinsicht bereits dadurch nach vorn gebracht“ worden, dass das neue Strafgesetzbuch „nicht allein nach preußischen Vorstellungen zustande kam“ (S. 266).

 

Weber hat für ihre Untersuchungen alle Materialien, soweit vorhanden, zu den sächsischen Strafgesetzbüchern herangezogen, wobei es bedauerlich ist, dass die archivalische Quellenüberlieferung im Zweiten Weltkrieg weitgehend verbrannt ist. Insgesamt wäre hinsichtlich des Criminalgesetzbuchs von 1838 ein umfassenderer rechtsvergleichender Blick auf die damals bereits vorliegenden partikularen Strafgesetzbuchentwürfe als auch auf die süddeutschen Strafgesetzbücher der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die sächsischen Besonderheiten förderlich gewesen. Auch die Frage, inwieweit und gegebenenfalls aus welchen Gründen Sachsen sich den französischen Einflüssen wohl weitgehend versagt hat, hätte größere Aufmerksamkeit verdient. Alles in allem liegt mit dem Werk Webers aber erstmals eine detaillierte Untersuchung über die Entwicklung des sächsischen Strafrechts im 19. Jahrhundert und dessen Abweichungen gegenüber dem preußischen Recht sowie über die Entstehung des Strafgesetzbuchs von 1870 unter dem Blickwinkel des sächsischen Rechts vor. Obwohl für die wichtigsten Tatbestände des Besonderen Teils bereits im Kontext der Vorarbeiten zu einem historischen Strafgesetzbuch-Kommentar Längsschnittuntersuchungen vorliegen (S. 2), wäre für den Besonderen Teil der sächsischen Strafgesetzbücher und deren eventuelle Einflüsse auf das Strafgesetzbuch von 1870 eine weitere zusammenfassende Darstellung erwünscht, welche die Fragestellungen der Untersuchungen Webers fortführt.

 

Kiel

Werner Schubert