Vormbaum, Thomas, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (=
Springer-Lehrbuch). Springer, Berlin 2009. XV, 311 S., Ill. Besprochen von Arnd
Koch.
„Die Auffassung, dass Rechtsgeschichte überflüssiges
Beiwerk juristischer Ausbildung und für die Rechtspraxis irrelevant sei, ist
ebenso verbreitet wie falsch – selbst dann, wenn man meint ,Bildung’ müsse sich
an ,praktischer’ Verwertbarkeit messen lassen: Unkenntnis historischer
Bedingtheiten des geltenden Rechts macht nicht nur hilflos bei der Lösung
zahlreicher technischer Fragen des geltenden Rechts, sondern auch gegenüber
der Macht.“ (S. 2). Mit diesen Sätzen umreißt Vormbaum das Programm
seines Lehrbuchs, das zugleich ein eindrucksvolles Zeichen gegen die
Marginalisierung des Fachs Strafrechtsgeschichte an deutschen Universitäten
setzt.
„Moderne Strafrechtsgeschichte“ (synonym: „Juristische
Zeitgeschichte des Strafrechts“) beginnt für Vormbaum gegen Ende des
18. Jahrhunderts. Ihr Gegenstand ist die gegenwärtige Rechtsepoche, verstanden
als die Zeit, in der sich die prägenden Bedingungen und Elemente des heutigen
Strafrechts herausbildeten (S. 17, 23). Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt folglich
auf der Schilderung von Verlauf und Inhalt strafrechtlicher- und strafprozessualer
Reformarbeiten. Während sich das eingeführte Konkurrenzprodukt, der schlanke „Grundriss
der Strafrechtsgeschichte“ von Rüping/Jerouschek (5. Aufl. 2007), im
Wesentlichen auf Faktenvermittlung beschränken muss, verfolgt Vormbaum ehrgeizigere
methodische Ziele. Nach seinem Verständnis dienen Strafrechtswissenschaft und
Strafrechtsdogmatik nicht als Mittel der Effektivierung und Intensivierung
staatlichen Strafens, sondern als machtkritische „Strafbegrenzungswissenschaften“
(S. 273). Unter Zugrundelegung dieser Prämisse fällt der historische Rückblick
ernüchternd aus. Das Strafrecht sei, so der Befund, in den vergangenen zweihundert
Jahren zwar „moderner“, keinesfalls aber liberaler, humaner und milder geworden
(S. 269, bei einzelnen Ausnahmen in eng umgrenzten Bereichen). Nach Umschlagen
des kriminalpolitischen Klimas in der Mitte der 1970er Jahre dominiere heute
eine von Sicherheitsdenken und Bekämpfungsgesetzen geprägte „kriminalpolitische
Militanz“ (S. 247).
Leitmotiv des Gangs durch rund zwei Jahrhunderte
deutscher Strafrechtsgeschichte ist die Frage nach der Herkunft und den Kontinuitäten
der als „verhängnisvoll“ empfundenen Flexibilisierung, Materialisierung, Moralisierung
und Subjektivierung des Strafrechts (S. 273). An Anschauungsmaterial herrscht
kein Mangel. Auf der „Negativliste“ finden sich etwa das Effektivitäts- und Utilitätsdenken
der strafrechtlichen Aufklärung (S. 32ff.), die Lehre vom Rechtsgüterschutz,
welche die Expansion des Strafrechts befördert habe (S. 53ff., 120, 139, 157,
185, 188, 267), das keineswegs liberal-rechtsstaatliche Zweckdenken von
Liszts und der „modernen Schule“ (S. 123ff.), die Normativierung des
Schuldbegriffs (S. 141f.: „Ethisierung“), der Neukantianismus (S. 157: „Flexibilisierung“,
„Normativierung“) oder die finale Handlungslehre (Beförderung der
Subjektivierung und Ausdehnung des Strafrechts). Vormbaum trennt
hinsichtlich dogmatischer Neuerungen anschaulich zwischen den jeweiligen
dogmenhistorischen Gewinnen einerseits und den kriminalpolitischen (Spät-)Folgen
andererseits. Mit Blick auf die kontroverse Bewertung von Liszts, der
manchen weiterhin als „der bedeutendste deutsche Kriminalpolitiker“ gilt[1],
bezieht Vormbaum eindeutig Stellung. Bei aller Kritik, die der Rezensent
im Wesentlichen teilt, wäre gerade für studentische Leser eine zusammenfassende
Übersicht über die positiven Einflüsse der „modernen Schule“ hilfreich gewesen.
Gegenüber der von ihm eindringlich beschriebenen Funktionalisierung und Expansion
des Strafrechts will Vormbaum „autonome Rechtsideen“ zur Geltung
bringen. Die propagierte Ablösung „der reinen Zweckidee“ zu Gunsten der „Rechtsidee“
überrascht in zweifacher Hinsicht: Zum einen, weil die „Rechtsidee“ neben der
Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit auch den ansonsten vehement
kritisierten und zudem nicht weiter spezifizierten Gedanken der Zweckmäßigkeit
enthalten soll (S. 274). Zum anderen, weil sich der Leser in verblüffender
Weise an Eberhard Schmidt und seine epochale „Einführung in die
Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (1. Aufl. 1947, 2. Aufl. 1951, 3.
Aufl. 1965) erinnert fühlt. So kreist nach Schmidt „die ganze Geschichte
des Rechts (…) um den Gegensatz von Macht und Recht, von Zweckmäßigkeit und
Gerechtigkeit“, dargestellt wird bei ihm das „Ringen um die Rechtsidee, das
Reinhalten des Rechts von rechtsfremden Einflüssen“.[2]
Inhaltliche Ungenauigkeiten, die sich bei einem derart weitgefassten
Beobachtungszeitraum nahezu unvermeidbar einstellen, können in einer
Folgeauflage beseitigt werden. So figuriert Carpzov als nichts weniger
als der „Begründer der Wissenschaft des gemeinen Strafrechts“ (S. 25).
Regensburg, nicht Kempten, wird als Ort der letzten deutschen Hexenverbrennung
im Jahre 1775 benannt (S. 30). Entgegen einer verbreiteten Fehlannahme bestand
im frühneuzeitlichen Verfahren angesichts des Instituts der Aktenversendung gerade
keine Personenidentität zwischen urteilendem Richter und Ankläger (S. 93). Savigny
übernahm 1842 nicht das „Justizministerium“ (S. 80) sondern das hiervon zu
unterscheidende Gesetzgebungsministerium. Schließlich waren die Senate des
Volksgerichtshofs nicht mit drei Berufsrichtern und zwei Laien besetzt (S.
193), sondern umgekehrt mit zwei Berufsrichtern und drei Laien. Druckfehler finden
sich bei den Lebensdaten Feuerbachs und von Liszts (S. 44, 123)
sowie bei der Datierung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten
(S. 74).
Festzuhalten bleibt, dass Vormbaum mit seinem
spannend zu lesenden, um Portraits und wichtige Quellentexte angereicherten
Werk eine Lücke zu schließen vermag – die seinerzeit von Stolleis als
Buch vermisste moderne Strafrechtsgeschichte liegt nunmehr vor[3].
Augsburg Arnd
Koch
[1] So Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl.
2006, § 3 Rn. 12.
[2] Hierzu A. Koch,
Festschrift für Hinrich Rüping, 2008, 393, 407. Zu Eberhard Schmidts
Position im Dritten Reich, die von Vormbaum zu undifferenziert
dargestellt wird (S. 150, 271 Fn. 8), nunmehr ausführlich v. Hardenberg,
Eberhard Schmidt (1891- 1977), 2009, S. 109-341. Nicht übersehen werden sollte, dass die
Berufung auf die „Rechtsidee“ für Schmidt eine sichere
Argumentationsbasis gab, um „Verfahrensauflockerungen“ entgegenzutreten.
[3] Stolleis, Aufgaben der
neueren Rechtsgeschichte oder: Hic sunt leones, RJ 4, 1985, S. 251, 259.