Seferovic,
Goran, Das Schweizerische Bundesgericht 1848-1874.
Die Bundesgerichtsbarkeit im frühen Bundesstaat (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte
62). Schulthess, Zürich 2010. XXXVII, 366 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Das
Schweizerische Bundesgericht wird in der aktuellen juristischen Lehrbuchliteratur
als Einrichtung der Bundesverfassung von 1874 wahrgenommen. Dies wird bestätigt
durch die übliche Zitierung der Bände nach Nummern, deren erster Jahrgang auf
das Jahr 1875 fällt. Tatsächlich sah jedoch bereits die erste Verfassung des
Schweizerischen Bundesstaates von 1848 die Einrichtung eines Bundesgerichts
vor, das in der Folge auch ordentlich eingesetzt wurde und mit insgesamt gut 1.100
Fällen zwischen 1850 und 1874 durchaus eine nennenswerte Geschäftslast zu
bewältigen hatte. Weshalb aber ist dieses erste Bundesgericht der
Schweizerischen Eidgenossenschaft bis heute weitgehend unbekannt? Das
Bundesgericht selbst feierte 1975 sein hundertjähriges Jubiläum und dessen damaliger
Präsident mochte dem ersten Bundesgericht keine nennenswerte Bedeutung
zubilligen.
Goran
Seferovic liefert in seiner Darstellung und Analyse der Geschichte dieses
wissenschaftlich bisher nie systematisch untersuchten Gerichts plausible Gründe
und relativiert zugleich die Berechtigung der vorherrschenden Geringschätzung
des ersten Bundesgerichts des schweizerischen Bundesstaates. Entsprechend dem
von der Verfassung von 1848 eingeräumten, noch relativ engen Kompetenzbereich
des Bundesrechts besteht vor 1874 nur sehr beschränkt justizieller
Anwendungsraum für ein Bundesgericht. Noch liegt die Rechtshoheit zum größten
Teil bei den Kantonen, die sich als weitgehend souveräne Staaten verstehen. Das
erste Bundesgericht ist kein ständiges Gericht. Es setzt sich zusammen aus
insgesamt 22 Mitgliedern - damals zählte die Eidgenossenschaft insgesamt 22
Kantone. Die Bundesrichter verstanden sich als Kantonsvertreter und wurden nach
politischen Kriterien gewählt. Zwar verfügten sie meist über eine juristische
Universitätsausbildung. Die gelehrte Fachkompetenz hatte indessen gegenüber der
Fähigkeit, juristische Probleme pragmatisch und politisch plausibel zu lösen,
zurückzutreten, bestanden doch sowohl in der Bevölkerung als auch bei den
Politikern große Vorbehalte bzw. Vorurteile gegenüber dem Typus des gelehrten
Richters, der durch komplexe juristische Argumentation einen demokratisch
zustande gekommenen Entscheid bzw. eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene
Rechtsanschauung in Frage stellt. Der Autor streicht einen gewichtigen
Unterschied zu den Verhältnissen an deutschen Gerichten hervor, wo im
Untersuchungszeitraum Kenntnisse des römischen Rechts wenigstens im Sinne der
zeitgenössischen Pandektenliteratur eine wesentliche Voraussetzung der Eignung
für das Richteramt bildeten. Eine Gewaltenteilung im modernen Sinn war im
frühen Schweizer Bundesstaat weder institutionell noch personell vorgesehen.
Die einzige Unvereinbarkeitsbestimmung beschränkte sich auf das Verbot der Wahl
von Geistlichen ins Bundesgericht.
Das
Bundesgericht beurteilte als Zivilgericht Streitigkeiten nicht staatsrechtlicher
Natur zwischen Kantonen unter sich oder zwischen dem Bund und einem Kanton,
Kooperationen oder Privaten, sofern der Streitwert mindestens 3000 Franken
betrug. Sodann konnte das Bundesgericht als prorogierter Gerichtsstand in
schuldrechtlicher Angelegenheit angerufen werden, wenn der Streitwert mindestens
3000 Franken betrug. Als Strafgericht war es in Ermangelung eines
Schweizerischen Strafgesetzbuches nur zuständig für Delikte eidgenössischer
Beamter sowie als Schwurgericht über Hochverrat, Aufruhr und Gewalt gegen
Bundesbehörden, Verbrechen und Vergehen gegen das Völkerrecht sowie über
politische Verbrechen und Vergehen bei Unruhen, welche eine eidgenössische
Intervention veranlasst hatten. Insgesamt wurden nur 22 Straffälle behandelt.
Als höchstes Gericht für staatsrechtliche Streitigkeiten bei Verletzung verfassungsmässiger
Rechte wurde das Bundesgericht nur einmal angerufen. Neben diesen drei
klassischen Rechtsgebieten war das Bundesgericht Rechtsmittelinstanz bei der
Anwendung mehrerer Bundesgesetze. So sah das Bundesgesetz über die Organisation
der Bundesrechtspflege von 1849 vor, dass bürgerliche Streitfälle durch die
Gesetzgebung eines Kantons im Einverständnis mit der Bundesversammlung, dem
Bundesgericht übertragen werden konnten, was allerdings selten vorkam. Weit
mehr als die Hälfte aller Fälle betreffen Klagen und Beschwerden im
Zusammenhang mit Enteignungen in Anwendung des Bundesgesetzes betreffend die
Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten von 1850. Darin widerspiegelt
sich der große Landbedarf der durch die Transportrevolution ausgelösten
Eisenbahnprojekte. Ebenfalls quantitativ von erheblicher Bedeutung in den
frühen 1850er Jahren sind die
Heimatlosenfälle. Mit der Gründung des Bundesstaates musste das Problem
heimatloser Inländer gelöst werden. Das Bundesgesetz die Heimatlosigkeit
betreffend von 1850 regelte die Voraussetzung. Bei Streitfällen unter den
Kantonen war das Bundesgericht auf Prozesseinleitung durch den Bundesrat hin
zuständig. Das Bundesgericht konnte ferner angerufen werden, wenn in Anwendung
des Bundesgesetzes von 1850 über Verantwortlichkeit der eidgenössischen
Behörden und Beamten diese auf Schadenersatz eingeklagt werden sollten, sofern
die Bundesversammlung beschloss, der Klage statt zu geben. 1852 kamen mit dem
Bundesgesetz über den Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der
Eidgenossenschaft und dem Bundesbeschluss betreffend die Verteilung des
Reinertrages des Postregals an die Kantone zwei weitere, eher marginale
Zuständigkeitsbereiche hinzu. So konnten Streitigkeiten zwischen den
Eisenbahnverwaltungen und den Betreibern von Telegraphenlinien durch
Übereinkunft der Parteien vom Bundesgericht beurteilt werden, wenn der
Streitwert mindestens 3000 Franken betrug. Durch die Aufnahme des Postregals in
die Bundeskompetenz mit der Verfassung von 1848 verloren die Kantone eine
Einnahmequelle, wofür sie der Bund zu entschädigen hatte. War der zu
entschädigende Kanton mit der von der Bundesversammlung festzulegenden
Entschädigung nicht einverstanden, konnte er den Entscheid vor Bundesgericht
anfechten, wovon allerdings nur Neuenburg Gebrauch machte. Mit dem
Nachtragsgesetz betreffend die gemischten Ehen von 1862 erhielt das
Bundesgericht eine in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzende Rechtsprechungskompetenz
in familienrechtlichen Belangen. Da das Eherecht kantonal geregelt war und in
den traditionell katholischen Kantone die Ehe nach kanonischem Recht als
unscheidbar galt, kam dem Gerichtsstand und dem anwendbaren Recht in
Ehescheidungssachen fundamentale Bedeutung zu. Dies galt insbesondere auch für
konfessionell gemischte Ehen, die in den katholischen Kantonen meist für
unscheidbar angesehen wurden. Hatte der Ehemann sein Domizil in einem solchen
Kanton, war die Klage einer protestantischen Ehegattin in ihrem Herkunftskanton
ausgeschlossen und die Ehe damit faktisch unscheidbar, was gerade auch im
Hinblick auf das meist von Rechts wegen vom Ehemann verwaltete Eigengut der
Ehefrau einschneidende Konsequenzen hatte. Das Bundesgericht ermöglichte durch
seine Rechtsprechung die Scheidung solcher Ehen.
Zwar
handelte es sich beim ersten Bundesgericht nicht um ein im modernen Sinne
unabhängiges Gericht, das im Rahmen der Gewaltenteilung ein gleichberechtigtes
und wirkungsmächtiges Gegengewicht zu Legislative und Exekutive zu bilden
vermochte; auch wirkte es bisweilen mehr als Schiedsgericht denn als
ordentliches Gericht. Sein Zuständigkeitsbereich war relativ eng abgesteckt und
die Richter versahen ihre Funktion im Nebenamt. Dennoch hat dieses Bundesgericht
nicht nur den Weg für die Akzeptanz eines modernen höchstinstanzlichen Gerichts
auf Bundesebene bereitet, sondern auch an der Rechtsentwicklung, welche zur
Verfassungsreform von 1874 führte, wesentlich durch seine Rechtsprechung
beigetragen.
Goran
Seferovic beschränkt sich keineswegs auf die Darstellung und Analyse der
normativen Konstruktionen dieses ersten Bundesgerichts der Schweiz. Er bemüht
sich vielmehr um eine kontextualisierte Erklärung der Institution im Rahmen der
gesamtgeschichtlichen Gemengelage. Der Text wird durch die Aufnahme
verschiedener aktenmäßig dargelegter und gut erklärter Fallgeschichten
besonders lebendig und offen für interdisziplinäre Anknüpfung. Dadurch gelingt
es ihm, modern verstandene Rechtsgeschichte in sehr anregender und aussagekräftiger
Weise zu entwickeln. Der Autor hat die Studie mit einer vollständigen
Transkription des Registraturbandes ergänzt, was der weiterführenden Forschung
dienlich sein wird, sind doch die gut 1.100 Fälle nun direkt nach Namen,
Rechtsbetreff und Jahrgang erschlossen. Damit ist ein wichtiger Stein im Bauwerk
der Justizgeschichte der Schweiz des 19. Jahrhunderts gelegt worden. Mögen
weitere Arbeiten auf dieser grundlegenden Studie aufbauen.
St.
Gallen Lukas
Gschwend