Schürer, Stefan, Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit. Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte. Chronos, Zürich 2009. 469 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Stefan
Schürer legt seiner Züricher Dissertation die These zugrunde, „dass im
schweizerischen Verfassungsrecht unmerklich eine Öffnung gegenüber der
Geschichte stattgefunden“ habe und die Idee historischer Gerechtigkeit zur
Richtlinie der Verfassungswirklichkeit geworden sei. Die Kritik derselben
reflektiere die Verrechtlichung der Vergangenheit und benenne die Grenzen
dieses Prozesses. „Momentaufnahme und Kritik der Verfassungswirklichkeit münden
schliesslich in einer verfassungsgemässen Theorie historischer Gerechtigkeit“.
Der
Autor stellt für die letzten zwei Jahrzehnte auch ausserhalb der Schweiz eine
zunehmende Tendenz zur Verrechtlichung der Vergangenheit fest. Dadurch soll
nach neuerer verfassungsrechtlicher Lehre Unrecht der Vergangenheit „in eine
zukunftsträchtige Identität transformiert werden“. Er erklärt diese Entwicklung
für die Rechtswissenschaft mit dem „Siegeszug der Menschenrechte“, für die Geschichtswissenschaft
mit der „Vermenschlichung der Vergangenheit“. Entscheidend ist nun aber auch,
dass die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten selbst zu einer
Erweiterung ihres Selbstverständnisses gefunden hat. Bis in die 1960er Jahre
gab es - jedenfalls im deutschsprachigen Wissenschaftsraum - kaum eine
zeithistorische Perspektive. Zuvor war eine historisch-kritische Reflexion von
Ereignissen innerhalb des eigenen Erinnerungshorizontes des Historikers kaum
denkbar gewesen. Wenn eine Darstellung ausnahmsweise bis in die Gegenwart
hineinreichte, erschien sie suspekt. Der Vorwurf mangelnder Distanz der
Betrachtung und subjektiver, ideologisierter Beeinflussung des Stoffes stand im
Raum. Wenn nun aber die Historiographie ihren Horizont in die Gegenwart hinein
öffnet, so ergibt sich zwangsläufig eine Schnittfläche mit dem gegenwartsbezogenen
Recht, sei dies hinsichtlich der auf das Recht in seiner Normativität
einwirkenden tatsächlichen und idealen Rahmenbedingungen, sei es mit Bezug auf
die vom Recht im Anwendungsfall zu beurteilenden Faktizitäten.
Für
die Schweiz ortet Schürer die Anfänge der Verwerfungen in der
Gedächtnistektonik bereits in der Diskussion des „Sonderfalls Schweiz“ während
des Kalten Krieges, insbesondere aber in der radikalen In-Fragestellung dieser
Sonderfallhypothese nach Ende desselben. So beförderte 1991 die von zahlreichen
Misstönen begleitete, mythologisch angereicherte, selbstgefällige 700 Jahrfeier
in der Schweiz die Kritik der Intellektuellen gegenüber dem eigenen Land. Die
Öffnung des Verfassungsrechts gegenüber der Geschichte erfolgt über die
Verschränkung von Opfergeschichten mit den Grundrechten. Das Problem einer so
angelegten Kommunikation von Verfassungsrecht und Geschichtswissenschaft liegt
in den durch die retrospektive verfassungsrechtliche Betrachtung der Opfergeschichte
erfolgenden Verzerrungen. Grundrechte befinden sich im Wandel. Der Jurist kann
die Geschichte nicht am gegenwärtigen Verfassungsrecht beurteilen. Dennoch wird
gerade eine historisch dynamisierte Perspektive die Verfassungsdiskussion
erheblich befruchten, weil historische Gerechtigkeit der modernen Verfassungs-
und Rechtsphilosophie mehrheitlich erstrebenswert erscheint.
Schürer
legt diese Entwicklung an zahlreichen Beispielen aus der jüngsten Geschichte
der Schweiz dar. So analysiert er die zeitgeschichtliche Aufarbeitung des „Hilfswerks
für die Kinder der Landstrasse“ der Pro Juventute, welches zwischen 1926 und
1973 über 600 Wegnahmen von Kindern vorwiegend aus jenischen Familien
organisierte, sowie die Wiedergutmachung dieser Aktion durch die Schweizer
Regierung aus verfassungsrechtlicher Sicht. Er gelangt zu einer „Dogmatik der
Wiedergutmachung“, welche auf der Unverjährbarkeit von grundrechtlichen
Kerngehaltsverletzungen beruht. Es folgen weitere ähnlich strukturierte
Analysen: So werden die Holocaust-Sonderfonds und die Beteiligung der
Schweizerischen Nationalbank im Rahmen der Wiedergutmachungsbemühungen der
Schweizer Regierung insbesondere bei der Bewältigung der
Weltkriegsvergangenheit durch die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter
Weltkrieg Ende der 1990er Jahre untersucht. Sodann wird die schweizerische
Asyl- und Ausschaffungspraxis während des Zweiten Weltkriegs am Beispiel von
Joseph Spring und Charles Sonabend aufgezeigt und der Umgang mit dem damit
verbundenen Unrecht analysiert. Es folgen weitere Beispiele.
Der
Verfasser gelangt zu folgenden Schlüssen: Die Grundrechte sind Einfallstore für
veränderte Gerechtigkeitsvorstellungen, welche die politische und
wissenschaftliche Verfassungsdiskussion in den Grenzen von relativem Rückwirkungsverbot
und Rechtssicherheit rezipiert, soweit die Praxis einen gewissen Druck ausübt.
Die letztlich moralisch empfundene Diskrepanz zwischen historischer Rechtmäßigkeit
und Ungerechtigkeit aus heutiger Sicht erzeugt verfassungsrechtlichen Anpassungsbedarf.
Durch die daraus resultierenden Modifikationen wird die Verfassung in die Lage
versetzt, historische Gerechtigkeit zu schaffen, indem die frühere normative
Sichtweise über den zeitlich bedingten Perspektivenwechsel und damit die
historische Erkenntnis im Sinne einer Weiterentwicklung korrigiert werden kann.
Das heutige Gemeinwesen wird mit Taten konfrontiert, welche zwar zu seinem
historischen Erbe gehören, für die es aber nicht als Urheber rechtlich zur
Verantwortung gezogen werden kann. Die Frage nach monetärer Entschädigung der
Opfer im Sinne einer Haftpflicht des Staates ist für Schürer sekundär. Im
Vordergrund steht die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit
dem Unrecht und dessen Anerkennung, welches die Bereitschaft zu einer gemeinsamen
Erinnerung von Opfer und Gemeinwesen erfordert. Daraus resultiert im Idealfall
historische Gerechtigkeit, auf deren Basis nicht nur der Verfassungsdiskurs zu
führen ist, sondern auch die Identität des Gemeinwesens sich weiter entfaltet.
Der Autor ist sich indessen der Grenzen historischer Gerechtigkeit bewusst. Er
behandelt die Problematik der Autorität und Ausschlusswirkung offizieller
Geschichte und die Instrumentalisierung derselben im Rahmen der Vergangenheitspolitik.
Sodann vertieft er das „Gebot der staatlichen Nicht-Identifikation mit der
historischen Wahrheit“. Auch dazu folgen diverse gut recherchierte Beispiele.
Abschliessend
formuliert Schürer eine verfassungsgemäße Theorie historischer Gerechtigkeit:
Die Aufarbeitung der Vergangenheit nach den aktuellen Vorstellungen von Moral
und Gerechtigkeit dienen der Bewältigung der Gegenwart. Es geht nicht um die
historische Wahrheit, sondern um die Opfer, das Gemeinwesen als Täter, die
Erinnerung an das Unrecht, dessen späte ideelle und sekundär auch materielle
Wiedergutmachung und last not least um die Weiterentwicklung des
Verfassungsstaats im Sinne historischer Gerechtigkeit. Dadurch unterscheidet
sich diese Theorie grundlegend vom heutigen theoretischen Selbstverständnis der
Geschichtswissenschaft.
Schürer
legt ein literarisch breit abgestütztes, mit reichem Fallmaterial versehenes
Zeugnis eindrücklicher juristisch-zeitgeschichtlicher Reflexion vor. Die Studie
mag durch den Einbezug der zahlreichen praktischen Beispiele mitunter etwas
fragmentiert erscheinen, doch entspricht dieses Vorgehen exakt dem theoretischen
Konzept der Dissertation, die inhaltlich und argumentativ überzeugt, obgleich
die Interaktion von Faktizität und Normativität nur segmentär aus rechtstheoretischer
Sicht untersucht wird. Die historisch-kritische Perspektive dürfte auch in
umgekehrter Richtung angewendet für die Grundrechtsdiskussion befruchtend sein.
Ließe sich doch damit das im modernen Verfassungsrecht bisweilen weniger vom
Bedürfnis nach historischer Gerechtigkeit als vielmehr ahistorisch-begrifflich,
politisch-teleologisch geprägte Verständnis mancher Grundrechte - etwa der
Religionsfreiheit - im Kerngehalt klarer erfassen. Eine gewisse Beklommenheit
hinterlässt Schürers radikale Erledigung der Idee einer historischen Wahrheit.
Letztlich ist jeder hoheitliche Rechtsanwendungsakt der Wahrheit verpflichtet,
wobei Wahrheit weitgehend auf die objektiv wahrnehmbare Wirklichkeit des zu
beurteilenden Rechtsakts reduziert wird. Jeder hoheitliche Rechtsanwendungsakt
ist jedoch vergangenheitsbezogen. Je länger der zu beurteilende Sachverhalt
zeitlich zurückreicht, desto deutlicher wird dies. So stellt sich die Frage,
weshalb eine von der historischen Wahrheit losgelöste historische Gerechtigkeit
Triebfeder des grundrechtlichen Verfassungsdiskurses sein soll. Gerechtigkeit
ohne Wahrheit ist blind.
Abschließend
darf auch danach gefragt werden, wer denn dieser Theorie historischer Gerechtigkeit
im Sinne Schürers zum Durchbruch verhelfen soll. Vermutlich braucht es dazu einen
institutionalisierten, diskursiven Austausch zwischen Historikern und
juristisch-zeitgeschichtlich geschulten Verfassungsrechtlern. Letztere sind
rar.
St.
Gallen Lukas
Gschwend