Schober, Richard, Tirol zwischen den beiden Weltkriegen. Teil 2 Politik, Parteien und Gesellschaft (= Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 18). Wagner, Innsbruck 2009. 541 S., 18 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Mit diesem voluminösen Werk setzt Richard Schober, pensionierter Direktor des Tiroler Landesarchivs, seine Gesamtdarstellung Tirols in der Zwischenkriegszeit fort, deren erster, der Wirtschaft gewidmeter Teil bereits 2005 erschienen ist. Merkwürdig ist, dass bei beiden Bänden die Titel auf dem Cover (… zwischen den Weltkriegen) vom Deckblatt abweichen (… zwischen den beiden Weltkriegen). Wie das äußerst knappe Vorwort des Bandes zur Politik dargelegt, hat der Verfasser frühere Aufsätze mit neuen Forschungen zu einem Gesamtbild der Tiroler Politik 1918-1938 (im letztgenannten Jahr endet hier die Zwischenkriegszeit) zu verbinden gesucht und in der Tat nennt die umfangreiche, sehr nützliche Bibliographie nicht weniger als 22 einschlägige Arbeiten Schobers. In den Fußnoten zum Text tauchen zwar durchaus neuere Darstellungen auf, doch wird er – abgesehen von den Archivalien – in einem heute ungewöhnlichen Maß von älteren, ja alten Arbeiten der 1950er, 60er und 70er Jahre getragen.

 

Der Band springt sofort in medias res, die Kriegsendphase 1918. Für Publikationen dieses Umfangs mehr als ungewöhnlich, wird nicht einmal ansatzweise mitgeteilt, mit welchen konzeptionell-methodischen Vorgaben der Autor an sein Werk herangegangen ist und welche Fragestellungen ihn geleitet haben. Schober ist von Theorien oder, bescheidener, von analytischen Ansprüchen vollkommen frei, er erzählt einfach, was passiert ist. Was ihm erzählenswert scheint, wird nicht näher begründet; Schober scheint anzunehmen, dies ergebe sich aus dem Gegenstand von selbst. Dieser Verzicht auf theoretische Erklärungsansätze, welche Politik- und Geschichtswissenschaft entwickelt haben, führt allerdings zu einer extremen Blickverengung, insbesondere zu einer Perspektive von oben, die Politik nahezu ausschließlich vom Standpunkt der leitenden Akteure aus dargelegt (mit deutlichem Übergewicht des christlich-konservativen Lagers). Im Grunde spielt sich Tiroler Politik für Schober auf einer organisatorisch-programmatischen Ebene ab: Ständig werden Parteien, Bünde, Fronten, Milizen, Verbände, Wehren und ähnliches gegründet, umstrukturiert, ausgebaut, bewaffnet und entwaffnet, fusioniert, abgespalten und deren leitende Positionen neu besetzt. Zum zweiten richten sich die Wortführer der antagonistischen Lager durch die Medien allerhand Martialisches aus.

 

All dies spielt sicher eine sehr wichtige Rolle, wird hier aber derart absolut gesetzt, dass der Leser in dieser Flut von Details den Überblick verliert. Die zahlreichen Wiederholungen, die gleichförmige, ja monotone Sprache mit ihren staubtrockenen Schilderungen immer neuer und sich doch häufig gleichender Begebenheiten – dies alles ermüdet den Leser, dem auch darüber hinaus nichts geschenkt wird: Keine einzige Landkarte, keine Skizze, Tabelle oder Graphik werden eingesetzt, um beispielsweise Wahlergebnisse, die Mitgliederentwicklung von Parteien usw. halbwegs anschaulich darzulegen, so dass man sich solche wichtigen Angaben – wenn der Band sie überhaupt bringt – aus 500 Seiten mühsam zusammensuchen muss. Aufgrund des vollkommenen Fehlens systematisch (etwa in einem Anhang) präsentierter Informationen (Liste der Mitglieder der Landesregierungen, der Parteiführer, Bezirkshauptleute, Zusammensetzung des Landtages etc.) kann der Band nicht als Handbuch genutzt werden, zumal ein Sachindex fehlt, dessen Absenz das Personen- und Ortsregister (letzteres überflüssigerweise unter Nennung des Stichworts „Tirol“) nicht kompensieren kann.

 

Schober gliedert den Band in sechs große chronologische Abschnitte, von denen „Ende und Neuanfang“ der erste und längste ist. In seinem Zentrum steht der Verlust Südtirols, sekundär die Anschluss-Frage, während der Machtwechsel im Herbst 1918 und noch mehr der hier deplatzierte Abschnitt über Antisemitismus in den 1920er Jahren etwas angehängt wirken. Die weiteren Großkapitel orientieren sich an den bekannten Zäsuren 1927, 1934 und 1938, sind in sich aber nach Parteien bzw. Verbänden gegliedert, was zahlreiche Wiederholungen und eine insgesamt unübersichtliche Struktur bedingt. Beispielsweise wird das österreichisch-deutsche Verhältnis zwischen 1934 und dem Anschluss großteils im Kapitel über das Volkspolitische Referat der Vaterländischen Front abgehandelt.

 

Die erwähnte Engführung von Politik als Haupt- und Staatsaktion bedingt etliche Leerstellen, von denen die im Buchtitel zwar erwähnte, faktisch aber nicht vorkommende Gesellschaft die schwerwiegendste ist. Dass Frauen, außer in wenigen marginalen Erwähnungen, ausgeblendet sind, liegt gewiss nicht allein am damaligen patriarchalischen Charakter der Tiroler Politik. Eine Gesellschaft außerhalb der Parteien und Verbände hat es ausweislich dieses Buches ebenso wenig gegeben wie eine Medienlandschaft im speziellen und einen öffentlichen Raum im allgemeinen, über die man abseits der sporadischen Nennung einiger Zeitungen nichts erfährt. Einen weiteren weißen Fleck bildet der nirgendwo systematisch behandelte politische Katholizismus, was daran liegen dürfte, dass der theorieferne Verfasser das fruchtbare Konzept politisch-sozialer Milieus nicht heranzieht. Für ihn existiert Politik nur in den Gremien der Parteien, alle paar Jahre bei Wahlgängen, vor allem jedoch in Form mehr oder minder gewaltsamer Zusammenstöße, denen gegenüber die weniger spektakuläre Politik in Landtag und Landesregierung eindeutig zu kurz kommt.

 

Soviel man auf der einen Seite vermisst, so aufgebläht und detailüberlastet wirken andere Passagen, insbesondere jene über bundespolitische Entwicklungen ohne Tirol-Bezug, die wesentlich hätten gestrafft werden können. Ist wirklich ein eigenes, beinahe 20seitiges Kapitel über die randständige legitimistische Bewegung erforderlich, während die 1933-1938 in die Illegalität gedrängten Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten zusammen mit 10 Seiten vorlieb nehmen müssen und der Abschnitt über den Anschluss in Tirol gar nur sechs Seiten umfasst? Hiermit endet der Band übrigens genauso abrupt wie er begonnen hat; eine Zusammenfassung gibt es ebenso wenig wie ein englisches (oder italienisches) Abstract.

 

Schober hat ein gelehrtes, ungemein materialreiches, auf umfassenden Studien in österreichischen und ausländischen Archiven beruhendes Werk geschrieben. Das profunde, aus jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Gegenstand herrührende Fachwissen des Verfassers übertrifft freilich bei weitem sein Talent, den komplexen Stoff für den adressierten weiteren Leserkreis – erst recht einen außerhalb Tirols – anschaulich aufzubereiten. Mit seiner Aneinanderreihung von Namen, Daten und Fakten läuft der dicke Band Gefahr, dass ihn nur Wenige zur Gänze lesen werden, wenngleich es einige spannende Passagen (etwa über den Tiroler Separatismus nach dem Ersten Weltkrieg oder das konfliktreiche Verhältnis zum Gesamtstaat) gibt. Vor 20, 30 Jahren hätte eine solche rein narrative Darstellung auf Grund ihres Materialreichtums und ihrer Quellenfülle als großer Wurf gegolten. Im 21. Jahrhundert wirkt sie wegen ihrer völligen Ausblendung moderner Forschungskonzepte, der Blickverengung auf Politik als Unternehmen von Eliten und der sperrigen, leser-unfreundlichen Art der Präsentation wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll