Schneider,
Jens,
Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert
(= Publications du
Centre Luxembourgeois de Documentation et d'Études Médiévales [CLUDEM] 30). Böhlau, Köln 2010. 671 S., graph. Darst. Besprochen von
Thomas Vogtherr.
Die
vorliegende Paderborner Dissertation widmet sich einem Problem, das vor
fünfzehn Jahren bereits einmal behandelt und scheinbar beantwortet worden war:
der Frage nach der vermuteten Identität Lotharingiens im „lotharingischen
Jahrhundert“, der Zeit zwischen 855 und 969. Hatte 1995 Thomas Bauer in einer
schon damals zwiespältig aufgenommenen Arbeit das Axiom seiner Forschungen, das
Vorhandensein einer solchen Identität, aufgrund einer Reihe von Untersuchungen,
vor allem zu den für Lotharingien typischen Heiligen und ihrer Verehrung,
erwartungsgemäß bestätigt gefunden, so geht Jens Schneider nun einen anderen
Weg, der – das sei vorweggenommen – in der Anlage der Arbeit und der
Durchführung der einzelnen Themen eindrucksvoll gelungen scheint und zu einem
diametral von Bauer unterschiedenen Ergebnis führt. Es gab, so kann man es kurz
zusammenfassen, innerhalb des lotharingischen Zwischenreichs derart viele
Differenzen auf nahezu allen Gebieten, dass von einer Identität für den
gesamten Raum zu keinem Zeitpunkt die Rede sein kann.
Schneider
stellt den ersten Teil seiner voluminösen Arbeit unter die Leitfrage „Was ist
Lotharingien?“ (S. 33-280). Darin geht er, methodisch auf Erwägungen Frank
Göttmanns zur Rolle der Raumkategorie in der Regionalgeschichte gestützt, u. a.
folgende Themen an: den Umfang Lotharingiens und seine politischen Grenzen,
einschließlich der Frage, ob Burgund, das Elsass und Friesland eigentlich
dazugehörten, die Entwicklung politischer Institutionen einschließlich der
Entwicklung eines zunächst gesamtlotharingischen Herzogtums, die naturräumliche
Untergliederung Lotharingiens, ja geradezu die geographische Trennung einzelner
seiner Bestandteile voneinander, die Rolle der Umwelt, einschließlich der
wichtigen Frage nach dem Charakter der zahlreichen Waldungen, die christliche
Heiligenverehrung und die jüdische Tradition eines Landes „Lotir“, schließlich
die wirtschaftlichen Strukturen, einschließlich der Feststellung erheblicher
Entwicklungsunterschiede zwischen dem Norden und dem Süden Lotharingiens. Das
alles, sauber durchgeführt und anhand urkundlicher wie erzählender Quellen,
aufgrund der Analyse von Karten und Umweltdaten behandelt, ist hier im Detail
nicht zu referieren. Statt innerer Kohärenz eines geschlossenen Raumes sieht
Schneider in Lotharingien eher eine Übergangs- und Scharnierzone zwischen West
und Ost, im Inneren einen erheblichen Entwicklungsrückstand des Nordens
gegenüber dem Süden. Wie Sachsen stellt auch Lotharingien keine gentile Einheit
dar; anders als Sachsen erreicht es diese Einheit auch nicht über die
Ausprägung eines einheitlichen und hinreichend durchsetzungsfähigen Herzogtums.
„In letzter Konsequenz ist (...) Lotharingien als historischer Raum eine
Konstruktion:“ (S. 277)
In
einem zweiten Teil geht Schneider auf die bisher in diesem Zusammenhang nicht
systematisch analysierte volkssprachige Überlieferung ein (S. 281-427). Er
untersucht das Wirken Otfrids von Weißenburg (S. 298-342) und stellt dabei
gewissermaßen im Vorübergehen fest, dass Weißenburg selber zum Ostreich, also
nicht zu Lotharingien gehörte, und sodann das aus Saint-Amand überlieferte
Ludwigslied (S. 343-427), das im äußersten Westen Lotharingiens entstanden sein
mag, sich aber als rithmus teutonicus an ein Publikum im Ostreich
wandte. Diese Passagen verraten eine große Vertrautheit mit Fragen der
(althochdeutschen) Literaturgeschichte und stellen in ihrem interdisziplinären
Zugriff einen bedeutenden Gewinn für die Porträtierung Lotharingiens und seiner
Schriftkultur im 9./10. Jahrhundert dar.
Die
„Folgerungen“, wie der zusammenfassende Teil sympathisch zurückhaltend
überschrieben ist (S. 428-464), führen zu einer nachvollziehbar deutlichen
Ablehnung der Ergebnisse Bauers (1995) und werten die längst für obsolet
gehaltenen Arbeiten Franz Steinbachs aus den 1920er Jahren wieder auf.
Lotharingien blieb politisch eine Episode, behielt aber über die Jahrhunderte
hinweg „als europäischer Erinnerungsort“ (S. 458) seine Bedeutung zwischen
Frankreich und Deutschland.
Die
Arbeit wird durch umfangreiche Anhänge abgerundet, in denen das zugrunde
gelegte Material präzise nachgewiesen wird und die schon allein als
Nachschlagewerk zur hochmittelalterlichen Geschichte Loth(a)ring(i)ens ihren
Wert besitzen.
Insgesamt
liegt eine außerordentlich beeindruckende Arbeit vor, deren Ergebnisse
methodisch sauberer erarbeitet wurden als in früheren Arbeiten zum Thema und
die einmal mehr skeptisch macht gegenüber der undifferenzierten Behauptung und
Annahme einer „historischen Identität“ von Räumen bzw. Landschaften.
Osnabrück Thomas
Vogtherr