Scheibe, Mark Andreas, Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796-1803 - unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler genannt Schinderhannes, 1802/03. Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815, Kelkheim 2009. 323 S. + Kt.-Beil. (1 Bl.). Beprochen von Werner Schubert.

 

Die Mainzer, von Jan Zopfs betreute strafrechtsgeschichtliche Dissertation befasst sich mit der regionalen Justiz am Rhein um 1800 unter besonderer Berücksichtigung der Zentren Mainz und Frankfurt am Main. Bereits in dem Werk „Schinderhannes. ,Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?’“, 4. Aufl., Kelkheim 2008 (1. Aufl. 2004) hatte sich Scheibe mit der Biographie von Johannes Bückler (Schinderhannes) ausführlich befasst. Im vorliegenden Werk bringt Scheibe zunächst eine kurze Biographie und einen Überblick über die Straftaten des Schinderhannes; er weist 130 von diesem begangene Straftaten (meist Diebstähle und Raubüberfälle links und rechts des Rheins) nach und erfasst weiterhin 93 Mittäter namentlich (S. 254ff.). Der Mythos „Schinderhannes“ hatte sich bereits vor der Hinrichtung Bücklers, zu der 30.000 bis 40.000 Personen in Mainz erschienen waren, herausgebildet. Die französische Regierung hatte in ihm „eine Gefahr für die politische Stabilität am Rhein“ (S. 233) gesehen, die jedoch nicht der Wirklichkeit entsprach, da es an einer „so landläufig bekannten ,Schinder-Bande’ fehlte“ (S. 88). Bevor Scheibe auf das Strafrecht im Untersuchungsgebiet eingeht, beschreibt er die „Gesellschaft“ in Frankfurt/Main und in den linksrheinischen Gebieten (S. 47ff., 66ff.). Als Gegenpol zu der vom Staat kontrollierten Gesellschaft gab es auch „staatliche Freiräume oder Nebengesellschaften, zu denen es dem Staat an Eingriffsmöglichkeiten fehlte“ (S. 96). Der dritte Abschnitt umfasst die Darstellung des Strafrechts in Frankfurt/Main (einschließlich des gesamtdeutschen Strafrechts nach der Carolina) und das linksrheinische französische Straf- und Strafprozessrecht (S. 156ff.) sowie die jeweilige Gerichtspraxis in Frankfurt/Main und in Mainz, die anhand der reichhaltig überlieferten Straf- und Polizeiakten (vgl. S. 4) sowie der annähernd vollständig erhalten gebliebenen Strafakten des Schinderhannes-Prozesses beschrieben wird. Die Darstellung wird begleitet von mehreren Übersichten, welche die Kriminalgerichtsinstitutionen in Frankfurt/Main und eines linksrheinischen Departements, den Ablauf eines Strafverfahrens sowie die Zeit der jeweils abgeurteilten Delikte und die im Einzelnen verhängten Strafen betreffen. In dem Abschnitt „Zusammenfassung und Bewertung“ (S. 191ff.) vergleicht Scheibe das formelle und materielle Strafrecht sowie die Strafrechtspraxis in Frankfurt und Mainz miteinander, wozu er wiederum mehrere Tabellen bringt (S. 211, 217, 224, 229, 232).

 

Während in Mainz fünf Strafgerichte existierten (tribunal de police, tribunal correctionnel, tribunal criminel, conseil de guerre und tribunal criminel spécial), war die Strafgerichtsbarkeit in Frankfurt beim Peinlichen Criminal- oder Verhöramt konzentriert. Das Verfahren gegen den Schinderhannes und dessen Mittäter fand 1803 unter dem Vorsitz von Rebmann vor dem Mainzer Spezialgerichtshof statt, der aufgrund des Gesetzes vom 1. 10. 1801 über die tribuneau spéciaux errichtet worden war und dessen Besonderheiten gegenüber dem ordentlichen Strafverfahren Scheibe im Einzelnen darstellt (fehlende Jury, Erlass eines vom Kassationshof zu überprüfenden Kompetenzurteils, Versagung von Rechtsmitteln; hierzu jetzt Miriam Kaucher, Die französische Spezialgerichtsbarkeit unter Napoleon Bonaparte, Hamburg 2010; Rez. S.      ). Der Spezialgerichtshof war insbesondere zuständig für Diebstähle und Raubüberfälle (vornehmlich von Landstreichern und Vagabunden) und war außer mit zwei Berufsrichtern und drei Militärpersonen mit zwei von Napoleon bestimmten Bürgern mit Richterqualifikation besetzt. Nach den von Scheibe ausgewerteten Strafakten lagen die Schwerpunkte der Frankfurter Strafjustiz beim Diebstahl, beim Betrug und bei der Körperverletzung; die Schwerpunkte der Mainzer Strafjustiz betrafen Diebstahl, Hehlerei, Totschlag/Mord, Kindstötung, Schmuggel, Beleidigungen und Nötigungen (S. 176). Während in Frankfurt die Todesstrafe im Untersuchungszeitraum nur einmal verhängt wurde, wurde diese in Mainz in 25 Fällen (davon 20 Todesurteile des Spezialtribunals) ausgesprochen. Bezeichnend für das französische Strafverfahren war die Trennung der Ermittlungen (Anklage) von dem mündlichen und öffentlichen Strafverfahren getrennt, während das Frankfurter Strafverfahren im Wesentlichen noch auf dem gemeinen geheimen Inquisitionsprozess beruhte, der eine derartige Trennung nicht kannte.

 

Der Schinderhannes-Prozess bildet keinen eigenen Abschnitt der Darstellung, sondern wird im Rahmen der Abschnitte über die Strafjustiz in Mainz behandelt. Im Hinblick darauf, dass Scheibe die Strafakte Schinderhannes einer vollständigen Bearbeitung unterzogen hat, wäre insgesamt eine etwas detailliertere Darstellung des Schinderhannes-Prozesses nützlich gewesen (vgl. hierzu die Übersicht S. 314-316). Im Anhang bringt Scheibe einen Überblick über die am Schinderhannes-Prozess beteiligten Personen und die Liste der Verurteilten (S. 254ff.). Die Untersuchungen Scheibes beruhen auf einer umfangreichen Auswertung der einschlägigen deutschen und französischen archivalischen Überlieferungen, die Scheibe leider im Einzelnen nicht in einem Quellenverzeichnis nachweist. Die breite Darstellung der Strafrechtspraxis hätte noch an Anschaulichkeit gewonnen, wenn Scheibe zumindest ein typisches Strafurteil aus Frankfurt und aus Mainz im Original wiedergegeben hätte. Mit dem Werk Scheibes liegt insgesamt ein wichtiges Werk zur gemeinrechtlich orientierten Strafgerichtspraxis der Stadt Frankfurt am Main und zur Praxis der linksrheinischen französischrechtlichen Strafgerichte in der Stadt Mainz zwischen 1796 und 1803 vor. Weitere Darstellungen der Strafrechtspraxis in den vier französischen Departements insbesondere für die napoleonische Zeit seit 1803 wären erwünscht.

 

Kiel

Werner Schubert