Sauter,
Marianne, Hexenprozess und Folter. Die
strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Tübingen im 17. und
beginnenden 18. Jahrhundert (= Hexenforschung 13). Verlag für Regionalgeschichte,
Bielefeld 2010. 306 S., graph. Darst., CD. Besprochen von Harald Maihold.
Hexenprozess und Folter sind einer landläufigen Ansicht zufolge eng miteinander verbunden, ja die Folter wurde gelegentlich sogar als die „eigentliche Seele“ des Verfahrens gegen die Hexen bezeichnet. Bisher wurde jedoch noch nicht systematisch untersucht, inwiefern die Folter im Hexenprozess im Vergleich zur Anwendung in anderen Strafprozessen eine Sonderrolle gespielt hat. Diesem Forschungsdesiderat widmet sich das Buch Marianne Sauters, das aus dem Forschungsprojekt „Recht und Verhalten in der Hexenverfolgung: Hexengesetzgebung und Hexenprozess“ hervorgegangen ist. Aus dem gleichen Projekt stammt auch die bereits vor drei Jahren veröffentlichte Arbeit von Robert Zagolla,[1] der anhand der Rostocker Spruchpraxis zeigen konnte, dass die Anwendung der Folter im Hexenprozess sich nicht grundsätzlich von derjenigen in anderen Verfahren wegen schwerer Straftaten unterschied.
Für die Überprüfung der These von der Sonderrolle der Folter im Hexenprozess wählt Sauter, wie schon Zagolla, als Quellenbasis die Spruchakten einer juristischen Fakultät, die sich als „Schnittstelle zwischen gelehrter Jurisprudenz und Gerichtspraxis“ (S. 16) besonders gut für Einblicke in die Prozesspraxis eignen. Die Gutachten der Tübinger Juristenfakultät, mit denen sich Sauter beschäftigt, sind zudem seit 1602 fast lückenlos erhalten. Daher ist Sauters Ansatz, die rechtshistorische Fragestellung mit quantitativen Methoden der historischen Kriminalitätsforschung zu untersuchen, vielversprechend. Dem solchen Arbeiten oft gemachtem Vorwurf, die qualitative Analyse des statistischen Materials zu vernachlässigen, begegnet Sauter wirkungsvoll mit einem eigenen diesen Fragen gewidmeten Teil.
Zunächst wird aber im ersten Teil (S. 19-113) dem Leser die Fragestellung näher gebracht und dabei umfassend in den rechtshistorischen Kontext eingebettet. Ausführlich und aktuell recherchiert und doch in notwendiger Kürze werden zunächst die allgemeine Entwicklung des frühneuzeitlichen Strafprozesses skizziert und das Institut der Aktenversendung vorgestellt, das vom 16. bis 18. Jahrhundert zur Ausbildung einer Spruchtätigkeit der juristischen Fakultäten geführt hat. Anschließend werden die Rolle der Folter, das Hexereidelikt und die Strafrechtspflege in Württemberg untersucht, wobei der Blick stets sicher zwischen den Rechtsnormen, der gelehrten Strafrechtsliteratur und der Gerichtspraxis hin und her wandert.
Der zweite Teil ist der quantitativen Auswertung der Spruchakten aus Tübingen gewidmet (S. 114-183). Hier werden zunächst die Konsulenten und die Vergleichskriterien vorgestellt, um anschließend die Folteranwendung und die Endurteile bei den jeweiligen Deliktsgruppen zu vergleichen. Sauter widmet sich auch den in den Gutachten zitierten Rechtsquellen und den Preisen, die für ein Gutachten zu zahlen waren. Der Text wird durch zahlreiche Tabellen und übersichtliche farbige Grafiken ergänzt, von denen nur die wichtigsten im Druck Aufnahme gefunden haben. Der Rest liegt in Form von Word-Dateien auf einer CD bei, die aber nur der Entlastung des Drucks zu dienen scheint, das interaktive Potential des Mediums bleibt ungenutzt.
Der dritte Teil enthält eine umfassende qualitative Analyse der Begründungen, mit denen die Tübinger Juristen die Folteranwendung in den Zwischenurteilen erlaubten oder untersagten (S. 184-278). Im Zentrum steht eine Darstellung der verschiedenen Indizien, die von den allgemeinen corpora delicti über die in der Carolina genannten Indizien bis hin zu den besonderen Hexenproben reicht. Diese Darstellung nach Sachkriterien wird durch eine personelle Übersicht zur Haltung der einzelnen Konsulenten gegenüber den Hexenprozessen ergänzt, wobei etwa die Ausführungen zu Christoph Besold zeigen (S. 256-259), dass diese Haltung durchaus ambivalent ausfallen konnte.
Im Hinblick auf die eingangs erwähnte These kommt Sauter für die Tübinger Spruchpraxis zu einem differenzierenden Ergebnis. Der enge Zusammenhang zwischen Folter und Hexenprozess wird durch die Tübinger Gutachten nur bedingt bestätigt. Die Lehre vom crimen exceptum oder atrocissimum, wonach bei besonders schweren Verbrechen im Interesse einer effektiven Verbrechensbekämpfung vom ordentlichen Verfahren abgesehen werden konnte, findet sich zwar häufig in den gelehrten Hexereitraktaten des späten 16. Jahrhunderts, doch zum einen war die Hexerei (etwa bei Carpzov) nur eines von fünfzehn Delikten, die als crimina atrocissima galten, zum anderen wird in den Tübinger Gutachten ein Abweichen vom Verfahren der Carolina nur selten zugelassen. Sauters Arbeit bestätigt die in der jüngeren Hexenforschung schon häufiger formulierte These, dass die gelehrten Juristen auf die Folterpraxis in den Hexenprozessen einen eher mäßigenden Einfluss genommen haben. Die häufigen Anfragen nach Folterungen in Hexenprozessen durch die lokalen Gerichte und die zum Teil scharfe Kritik der Tübinger Juristen am bisherigen Verfahrensablauf lassen hingegen eine deutliche Sonderbehandlung des Hexereidelikts durch die unmittelbar mit dem Fall betrauten lokalen Gerichtsinstanzen erkennen. Hier fallen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit weit auseinander.
Die Arbeit überzeugt sowohl mit ihrem methodisch bewussten Vorgehen als auch mit ihren differenzierenden inhaltlichen Ergebnissen, die hervorragend in die bisherige Forschung eingeordnet werden. Sauters Buch ist nicht zuletzt deshalb eine große Bereicherung, weil es die Hexenforschung wieder mit der Strafrechtsgeschichte und der historischen Kriminalitätsforschung verbindet. Während die Hexenprozesse in der Forschung bisher oft isoliert betrachtet wurden, ordnet sie Marianne Sauter als Bestandteil der frühneuzeitlichen Strafrechtspflege in einen größeren Kontext ein, der dem Verständnis der Zusammenhänge weit besser gerecht wird.
Basel Harald Maihold
[1] Robert Zagolla, Folter und Hexenprozess. Die strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Rostock im 17. Jahrhundert, Bielefeld 2007.