Ruault, Franco, Tödliche Maskeraden. Julius Streicher und die „Lösung der Judenfrage“. Lang, Frankfurt am Main 2009. 411 S., 60 Abb. Besprochen von Martin Moll

 

Kürzlich wurde an dieser Stelle der erste, 2006 unter dem Titel „Neuschöpfer des deutschen Volkes“ erschienene Band von Franco Ruaults umfangreicher Studie über den NS-Gauleiter und Hauptproponenten der antisemitischen Hetze, Julius Streicher, besprochen. Dort war die Publikation des zweiten Teils dieser ursprünglich als geisteswissenschaftliche Dissertation an der Universität Innsbruck entstandenen Arbeit angekündigt worden. „Tödliche Maskeraden“, im selben Verlag publiziert, scheint diesen zweiten Teil darzustellen, wenngleich Vorwort, Klappentext usw. nun jede Bezugnahme auf die im ersten Band noch erwähnte Dissertation und deren akademische Betreuer vermissen lassen. Die Parallelität von Untertiteln und Inhalten erweist den Zusammenhang beider Bände jedoch eindeutig.

 

Im Wesentlichen wird die Argumentation von „Neuschöpfer des deutschen Volkes“ hier erneut aufgenommen, aber wenigstens teilweise in neue Richtungen fortentwickelt. In Summe bleiben derlei Innovationen jedoch sehr begrenzt, geht es doch in beiden Bänden einerseits um die von Streicher betriebene Judenhetze mit ihrer spezifischen, auf den perhorreszierten Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden und die daraus angeblich folgende „Rassenschande“ konzentrierten Perspektive und, andererseits, um die Ableitung dieser selbst für NS-Begriffe singulären Agitation aus den (laut Ruault) Gefährdungen des Patriarchats. In die Krise gekommene deutsche Patriarchen erblickten in den – wie man ergänzen muss: männlichen – Juden gefährliche Konkurrenten um die Herrschaft über deutsche Frauen und bekämpften sie deshalb so erbittert. Folgerichtig stimmen Vorwort und Einleitung von „Tödliche Maskeraden“ auf weiten Strecken mit dem ersten Band überein; Ruault hat bestenfalls seine Philippika gegen das Patriarchat, für ihn die Quelle aller Übel der Weltgeschichte, noch gesteigert.

 

Um Wiederholungen der ersten Rezension zu vermeiden, sei hier außer Acht gelassen, dass sämtliche von Ruault im ersten Band weitschweifig ausgebreiteten, mythologischen Ableitungen des modernen Antisemitismus aus angeblichen oder wirklichen Geschehnissen in einer grauen, nicht näher spezifizierten Vorzeit des Menschen hier erneut auftauchen: getötete und/oder „abgewertete“ Göttinnen, Totenhochzeiten und Totenbräute, die gewaltsame Ablösung des Matriarchats durch das „Kriegssystem“ Patriarchat und anderes mehr: Alle diese schon bestens bekannten Argumentationsfiguren sind auch im zweiten Teil auf nahezu jeder Seite präsent.

 

Wie der Titel ankündigt, führt der Verfasser als neues Analyseelement die von ihm so bezeichneten „Maskeraden“ Streichers und seiner Gefolgsleute ein. Er versteht darunter primär die vor allem bei Faschingsumzügen zwischen 1933 und 1939 manifest gewordenen Bestrebungen des NS-Regimes, (männliche) „jüdische Typen“ bzw. das, was das Regime dafür hielt, in allerlei Verkleidungen dem öffentlichen Spott preiszugeben. Die langatmigen tiefenpsychologischen Erklärungen des Autors zu diesem Phänomen verwirren allerdings den Leser mehr, als dass sie den Sachverhalt aufklären. Überhaupt hat Ruault die Neigung, stets die komplizierteste Interpretation zu bevorzugen: Streichers 1945 auf der Flucht vor den Alliierten angelegte Masken, darunter ein Vollbart, lassen sich gewiss auch durch ganz simple, pragmatische Überlegungen verstehen.

 

Ein neues Thema greifen ferner jene Passagen auf, die Streichers wortgewaltig beschworene Naturverbundenheit nicht etwa nur als Teil von dessen politischer Biographie auslegen, sondern als konstitutives Moment für die Herausbildung des Streicher‘schen Antisemitismus. Dem Verfasser ist zuzustimmen, dass die komplexen Beziehungen zwischen NS-Bewegung und völkischer bzw. NS-Ideologie einerseits, Jugendbewegung, Lebensreform, Landschaftsbewahrern, FKK-Fetischisten etc. andererseits noch der systematischen Durchdringung harren – Ruault liefert hierzu bestenfalls Ansätze, zumal er zwar oberflächige (etwa personelle) Parallelen darlegt, aber keinen Nachweis eines kausalen Zusammenhangs erbringt, was schwer möglich sein dürfte, entwickelten sich doch zahlreiche prominente Vertreter der besagten Natur-Bewegungen gerade nicht zu mörderischen Antisemiten.

 

Wie schon beim ersten Band konstatiert, macht es der Verfasser der Leserschaft nahezu unmöglich, seinen passagenweise bedenkenswerten Gedanken durch seine ebenso manierierten wie häufig grammatikalisch falschen Satzungetüme zu folgen. Ein Beispiel unter vielen mag für den sprachlichen Stil dieses Buches stehen: „Ein angemessenes Verständnis seines (i. e. Streichers, MM) Wirkens bleibt somit in einem ersten Schritt an die Auslotung jenes diffusen Bereichs gebunden, welcher sich im Zusammenwirken zwischen jenen versammlungsfähigen Massen, die sich Eintritt in den öffentlichen Raum verschafft hatten, und Streicher als ihren multidimensionalen ‚Attraktor‘ und ebenbürtigen Sprecher zu akzeptieren bereit schienen“ (S. 218 f.).

 

Darüber hinaus muss sich der Leser mit Ruaults Neigung, ständig buchstäblich vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, herumschlagen. Neben bis an die Unlesbarkeit des Textes heranführenden, sprachlichen Stilblüten sind die ständigen Themensprünge und Wiederholungen bereits bekannter Behauptungen das zweite gravierende Ärgernis dieser Arbeit. Ein roter Faden fehlt ebenso wie man sich häufig fragt, nach welchen Kriterien der Verfasser seine Beispiele ausgewählt hat, wenn es ihm schon an der Fähigkeit mangelt, den – nimmt man beide Bände zusammen – rund 900seitigen Text durch sinnvolle bzw. aussagekräftige Zwischenüberschriften und Kapiteleinteilungen zu gliedern. Übergangslos springt Ruault beispielsweise in Kapitel 6.2 von einer Frühgeschichte von Streichers antisemitischer Wochenschrift „Der Stürmer“ in den 1920er Jahren zu den Wirkungen dieser Art von Judenhetze im Ausland nach 1933. Zielsicher wählt Ruault für solche Nachahmungstäter das wohl unbedeutendste Beispiel aus: Liechtenstein.

 

Dem Rezensenten sind in vielen Jahren nur wenige derart sperrige Bücher untergekommen, bei denen der Fleiß der Materialsammlung und die Fähigkeit ihrer Verfasser, die gesammelten Quellen halbwegs leserlich und anschaulich auszubreiten, derart krass auseinanderklaffen wie bei den Streicher-Bänden Ruaults. Vielleicht können künftige Streicher-Biographen wenigstens aus dem hier ausgebreiteten Quellenmaterial Nutzen ziehen.

 

Graz                                                                                       Martin Moll