Ruault,
Franco, „Neuschöpfer des deutschen Volkes“. Julius
Streicher im Kampf gegen „Rassenschande“ (= Beiträge zur Dissidenz 18). Lang,
Frankfurt am Main 2006. 565 S., 55 Abb. Besprochen von Martin Moll.
Obwohl mehr als 550 engbedruckte
Seiten, davon rund 140 Seiten Endnoten, stark, handelt es sich bei dem hier
vorzustellenden Werk lediglich um den ersten Teil einer
geisteswissenschaftlichen Innsbrucker Dissertation (S. 9). Der zweite, etwas
kürzere Teil wurde mittlerweile ebenfalls publiziert und bleibt einer
gesonderten Besprechung vorbehalten.
Anders als der Buchtitel
anzudeuten scheint, handelt es sich nicht um eine Biographie des 1946 in
Nürnberg hingerichteten NS-Gauleiters von Franken, Julius Streicher, der im
Bewusstsein der Nachwelt in erster Linie als langjähriger Herausgeber der üblen
antisemtischen Wochenschrift „Der Stürmer“ in Erinnerung geblieben ist. Wie man
die Arbeit – wenn sie denn keine Biographie ist und dies auch nicht sein will –
zu klassifizieren hat, stellt den Rezensenten vor eine gewisse Verlegenheit,
zumal Ruaults Ansatz keiner der klassischen Kategorien entspricht; am
ehesten könnte man von einer geistes- oder ideengeschichtlichen Studie mit
einigen biographischen Einschlägen sprechen.
Streicher und die von ihm
über viele Jahre hinweg betriebene Judenhetze stehen für eine selbst für den
Nationalsozialismus eigenwillige Spielart des Antisemitismus: Diesem ging es
weniger um die angeblich unangemessene Stellung von Juden in der deutschen
Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, sondern um die „Gefährdung des deutschen
Blutes durch ,Rassenschande’“, also den einmaligen oder wiederholten
Geschlechtsverkehr von Juden oder Jüdinnen mit Deutschen. Wohl war Streichers
Forderung, diesen Verkehr mit welchen Mitteln auch immer zu unterbinden,
innerhalb des NS-Regimes durchaus konsensfähig und wurde dann im September 1935
durch Erlass der „Nürnberger Rassegesetze“ auch umgesetzt. Streicher ging
jedoch noch einen Schritt weiter und vertrat die Auffassung, selbst ein
einmaliger Verkehr einer deutschen Frau mit einem Juden mache diese für immer
unfähig, später ein von einem deutschblütigen Mann gezeugtes, arisches Kind zu
gebären. Diese sogenannte Imprägnierungstheorie stand nicht allein im offenen
Widerspruch zum damaligen wie heutigen medizinischen Kenntnisstand, sie wurde
selbst von maßgebenden NS-Kreisen als absurd bezeichnet und daher abgelehnt.
Weder dies noch seine nach Korruptionsskandalen unvermeidliche Amtsenthebung
als Gauleiter von Franken 1940 hielt Streicher freilich davon ab, im bis
Kriegsende erscheinenden „Stürmer“ weiter mit den bekannten Argumenten gegen
Juden zu hetzen.
Die so kläglich beendete
politische Karriere Streichers interessiert den Verfasser nur am Rande,
immerhin erfährt man einiges über Streichers politische Anfänge im Nürnberg der
frühen 1920er Jahre. Ruault geht es vielmehr um eine geistes- oder auch
motivgeschichtliche Ableitung von Streichers Lieblingsthema, der stark sexuell
konnotierten „Rassenschande“. Hierzu holt der Verfasser weit, sehr weit aus:
Ins Spiel gebracht werden allerhand antike Mythen von gefallenen oder getöteten
Göttinnen, Totenhochzeiten und Totenbräuten, das zwischen Matriarchat und
Patriarchat oszillierende Geschlechterverhältnis, die Exklusion von Juden aus
der national, wenn nicht rassisch definierten Gemeinschaft seit dem 19.
Jahrhundert und ähnliche Elemente. Ein zweiter Argumentationsstrang wirkt vor
dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Zwischenkriegszeit näherliegend und
daher plausibler: Juden wurden für die deutsche Niederlage 1918 verantwortlich
gemacht und der Wiederaufstieg des gedemütigten Reiches an die Bedingung der
Entfernung der angeblichen jüdischen „Volksfeinde“ geknüpft. Als Klammer dienen
Ruault zwei Übergangsphänomene, die deutschen Kolonialerfahrungen
(insbesondere im Umgang mit „eingeborenen“ Frauen) sowie die
Frauenemanzipationsbewegung ab ca. 1900, die – wenig verwunderlich – als
Bedrohung der männlichen Vorherrschaft über Frauen, und hier in erster Linie
über deren Körper, wahrgenommen wurde.
Wenn der Rezensent richtig
verstanden hat, speiste sich der Judenhass Streichers und seiner zunehmenden
Anhängerschaft in erster Linie aus dem Konkurrenzdenken deutscher Männer
gegenüber Juden. Um die eigene Vormachtstellung aufrechtzuerhalten, mussten
Juden – und sekundär auch ihre „gefallenen“ deutschen Partnerinnen –
stigmatisiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden; ein Vorgang, der
abschreckend wirken sollte, wie die hierzu angewandten und vom Verfasser
ausführlich behandelten Methoden der öffentlichen Anprangerung
unmissverständlich unter Beweis stellen. Seltsam und die Kernthese des Buches in
Frage stellend ist freilich der Umstand, dass – von Ruault völlig
ausgeklammert – „Rassenschande“ vor und nach den Nürnberger Gesetzen auch den
Verkehr deutscher Männer mit jüdischen Frauen pönalisierte. Man muss daraus
schließen, dass es hier offenbar eine genuin rassistische Komponente gab, die
mit der bloßen Sicherung maskuliner Dominanz über Frauen nicht erklärt werden
kann.
Aber dies ist nicht der
Kern der Kritik an diesem Buch, dessen Lektüre zum Zähesten gehört, das dem
Rezensenten in vielen Jahren untergekommen ist. Auf einer sprachlichen Ebene
wirken die Sätze Ruaults durchgehend ebenso kompliziert-verschachtelt,
wirr und manieriert wie sie des Öfteren grammatikalisch falsch sind. Der
Verfasser konfrontiert den Leser mit ständigen, ermüdenden Wiederholungen
seiner Kernthesen, was er möglicherweise für erforderlich hält, da ein roter
Faden durch das Buch kaum erkennbar ist. Ganz im Gegenteil springt die
Darstellung permanent zwischen theoretisch-ideengeschichtlichen und damit quasi
zeitlosen Passagen und solchen, die sich anhand von Primärquellen der
Rekonstruktion der politischen Verhältnisse im Nürnberg der Zwischenkriegszeit
oder der Reaktionen der Zeitgenossen auf Streichers Propaganda widmen, hin und
her.
Zu konstatieren bleiben
abschließend sowohl zahlreiche sprachlich-handwerkliche Fehler (wie z. B. die
nur ganz vagen Beschriftungen der vielen Abbildungen) als auch die für eine
Dissertation viel zu breit angelegte, ja ausufernde Themenstellung, die
versucht, buchstäblich die gesamte abendländische Geistesgeschichte in
irgendeinen Konnex zu Streicher und der von ihm bekämpften „Rassenschande“ zu
bringen. Kein Wunder, dass sich lange Kapitel vollkommen von Streicher
entfernen, der dort gar nicht mehr vorkommt (beispielsweise Kapitel 6). Trotz
einiger origineller Thesen und manchen empirisch fundierten Abschnitten ist Ruault
an der selbst gewählten Aufgabe gescheitert, das von ihm mit großem Fließ zusammengetragene,
riesige Material für den Leser halbwegs anschaulich und nachvollziehbar
darzustellen. Dem zweiten Band dieser schon im Ansatz fehlkonzipierten, von
keinem der Betreuer in die rechten Bahnen gelenkten Dissertation sieht man
daher mit etwas Beklemmung entgegen.
Graz Martin
Moll