Rohrkamp, René, „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen-SS 1933-1945. Organisation - Personal - Sozialstrukturen (= Krieg in der Geschichte 61). Schöningh, Paderborn 2010. 656 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Um die Waffen-SS, den militärischen Arm der Schutzstaffel (SS) der NSDAP, rankten sich schon während des Zweiten Weltkrieges und erst recht danach zahllose Mythen, die bis heute fortleben: Feuerwehr des Führers, Soldaten wie andere auch, vierter Wehrmachtsteil, Hitlers politische Soldaten sind nur die gebräuchlichsten Schlagworte (und Buchtitel), die den Elitecharakter der Waffen-SS betonen oder, im Gegensatz dazu, deren Status als reguläre Truppe gleich den Soldaten des deutschen Heeres. Die meisten dieser Legenden, wenn auch nicht alle, können durch die jetzt gedruckte Dissertation Rohrkamps als erledigt gelten. Die erwähnte Einschränkung stellt zugleich das einzige Manko dieser Arbeit dar, denn sie behandelt nicht die Gesamtheit der bei Kriegsende 38 Divisionen umfassenden Waffen-SS, sondern nur jene Großverbände, die aus reichsdeutschem Personal bestanden. Ausgeklammert bleiben die aus sogenannten Volksdeutschen und ausländischen Freiwilligen rekrutierten Einheiten, in denen aber rund die Hälfte der ca. 900.000 in die Waffen-SS eingetretenen Männer diente. Diese Beschränkung ist bedauerlich, denn dadurch geht ein wesentliches Merkmal der mitunter als europäische Armee apostrophierten Waffen-SS verloren.

 

Rohrkamps Fokus auf SS-Soldaten mit deutscher Staatsbürgerschaft ergibt sich aus seinen Quellen: Er hat rund 2.500 Personalakten von Mannschaftssoldaten und Unteroffizieren der Waffen-SS ausgewertet. Dieses dem SS-Oberabschnitt West bzw. dem Wehrkreis VI (Münster) entstammende Sample wird mit einer etwa 9.900 Köpfe zählenden Gruppe von im Dienstgrad vergleichbaren Soldaten des Heeres verglichen. Mit Staunen folgt der Leser dem Verfasser, wenn er die Vielzahl dieser Personalakten (Wehrstammrolle, Soldbuch, Personalakt, Wehrstammbuch u. a.) sowie die Spezifika ihrer Anlegung und Führung erläutert. Versteht man diese – abgesehen von der letzten, chaotischen Kriegsphase – penibel geführten Dokumente zu lesen und dringt man anhand der zeitgenössischen Vorschriften zur Führung dieser Akten in die Innenwelt einer militärischen Großorganisation ein, so winkt reicher Lohn. Man kann die Verdienste Rohrkamps gar nicht genug hervorheben, denn solche Knochenarbeit ist in der heutigen, von postmodern-diskursiven Trends geprägten Geschichtswissenschaft wahrlich nicht en vogue.

 

Der Autor behandelt im Wesentlichen drei große Themen: Er schildert zum einen die organisatorische Entwicklung bewaffneter, stehender SS-Verbände von kleinsten Anfängen bis zu den SS-Armeen und SS-Korps 1944/45. Zum zweiten geht es ihm um SS-Personalrekrutierung und -ersatz in Konkurrenz zur Wehrmacht; hier behandelt Rohrkamp die Ergänzungsstellen der Waffen-SS und deren keineswegs nur auf Freiwilligkeit bauende Werbestrategien. Zum dritten seziert der Verfasser das angeworbene und/oder zwangsrekrutierte Personal, das nach einer Vielzahl von Parametern (Alter, soziale Zusammensetzung, Konfession, Todes- und Verwundungsraten, Orden und Auszeichnungen, gerichtliche Verurteilungen bis hin zur Schuhnummer und Helmgröße) analysiert und der Vergleichsgruppe des Heeres gegenübergestellt wird.

 

Von den Resultaten, in 41 Diagrammen und 131 Tabellen ausgebreitet, kann nur das Wesentliche referiert werden: Vereinfacht gesagt, bestand die Waffen-SS aus einem kleinen, bis 1940 angeworbenen Kern NS-naher (echter) Freiwilliger, dem ab der zweiten Jahreshälfte 1941 zur Abdeckung immer größerer Verluste an der Ostfront Ersatz durch 17- und 18jährige Rekruten zugeführt wurde, denn die Waffen-SS durfte stets nur unter den jüngsten wehrpflichtigen Jahrgängen werben. Diese Jugendlichen waren ab 1933 in NS-Institutionen (HJ, Schule, Reicharbeitsdienst) indoktriniert worden; in Verbindung mit den überlebenden Veteranen stellten sie jene weltanschaulich gefestigten Kämpfer, die der Buchtitel anspricht. Daraus erklärt Rohrkamp plausibel sowohl die Standfestigkeit der Waffen-SS-Divisionen im Gefecht als auch deren vergleichsweise häufige Verwicklung in Kriegsverbrechen.

 

Eine leichte Lektüre stellt dieser rund 500 Textseiten plus 80 Seiten Diagramme und Tabellen umfassende Band nicht dar; allzu detailreich ist die manchmal etwas sprunghafte Darstellung, da sie die beiden Samples in immer neue, kleinteilige Untergruppen zerlegt und nach gelegentlich drittrangigen Parametern analysiert. Dies mindert aber nicht den Wert dieser Pionierstudie, die nicht bloß unser Wissen über die Waffen-SS als Institution enorm erweitert, sondern das Individuum nie aus dem Blick verliert. Zahlreiche Fallbeispiele füllen die analytischen Passagen mit Leben und illustrieren, von welchen Zufällen die Schicksale, ja das Überleben oder Sterben rangniederer Soldaten abhingen. Auf der Basis von Rohrkamps Befunden können Behauptungen (wie von Günter Grass), jemand sei ohne eigenes Zutun bei der Waffen-SS gelandet, nicht mehr als Ausreden abgetan werden. Das Geburtsjahr, der Wohnort, der Dienstantritt beim Arbeitsdienst in Verbindung mit zeitgleichen Werbeaktionen der SS prädestinierten militärische Laufbahnen in hohem Maß.

 

Der Rechtshistoriker wird dieser quellengesättigten Studie vor allem entnehmen, dass Wehrrecht im Zweiten Weltkrieg nicht zum Geringsten den Zugriff konkurrierender militärischer Instanzen auf den begrenzten Pool potenzieller Rekruten bedeutete. Rohrkamp liefert eine Antwort auf die nur scheinbar banale Frage, unter welchen rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen das deutsche Wehrersatzwesen in einem mörderischen, extrem verlustreichen Mehrfrontenkrieg funktionierte.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll