Rechtswissenschaft in Osteuropa - Studien zum 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Pokravac, Zoran (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 248 = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 5). Klostermann, Frankfurt am Main 2010. IX, 436 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Band 5 der Reihe „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Rechtstransfers“ geht zurück auf die Tagung dieses Forschungsprojekts im November 2005 im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Die Beiträge beruhen auf dem Stand von 2007. Der Band wird eröffnet mit dem Beitrag V. O. Abaschniks (Charkow) über die „Rechtswissenschaft und Juristenausbildung in der Ukraine am Beispiel der Universität Charkow (1804-1820)“ (S. 1-46). An der 1804 gegründeten Universität lehrten zunächst auch deutsche, stark naturrechtlich ausgerichtete Professoren wie Schad, Jakob, Schweikart und Lang. Im Einzelnen befasst sich Abaschnik schwerpunktmäßig mit der Fakultätsgeschichte und der Juristenausbildung. A. Rudokvas und A. Kartsov (St. Petersburg) geben einen guten Überblick über die Entwicklung der russischen Rechtswissenschaft unter dem Aspekt des Rechtstransfers zwischen 1800 und 1917 (S. 291ff.). Nach einer Übersicht über die Anfänge der modernen russischen Rechtslehre, die von Anfang an stark beeinflusst war von den jeweiligen Entwicklungen in Deutschland, beschreiben sie die Entwicklung der Zivilrechtslehre seit den Reformen von 1864, die auf den Ideen Savignys (Auszüge aus der Besprechung der Übersetzung von Savignys Obligationenrecht durch Tabašnikov [S. 310ff.]) und den Lehrbüchern zum Pandektenrecht beruhte. Auf große Sympathien stieß das Werk  Rudolf von Jherings insbesondere bei Muromcev und Petražickij, die in Abkehr von einer rein rechtsdogmatisch ausgerichteten Wissenschaft verstärkt rechtspolitische Ziele („Civilpolitik“) verfolgten. Der Einfluss der russischen Rechtslehre war auf die obersten Gerichte beschränkt, die allerdings in ihren Urteilen auch deutsche Autoren wie Endemann, Riesser und Windscheid zitierten (S. 323, 330). – M. Luts-Sootak (Tartu) stellt in ihrem Beitrag: „Die baltische Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zwischen deutscher Rechtswissenschaft und russischer Politik“ (S. 165ff.) nach den Anfängen der baltischen Rechtswissenschaft zunächst deren Aufschwung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts dar. Maßgebend hierfür war das Programm Dabelows zur Verwissenschaftlichung des lokalen Rechts. 1831 veröffentlichte v. Himmelstiern seinen Beitrag zu einem bürgerlichen Recht der Ostseeprovinzen, in dem er das entscheidende Gewicht auf die Rechtspraxis legen wollte. In den 40er Jahren erschienen in der baltischen Rechtszeitschrift: „Theoretisch-practische Erörterungen aus den in Est-, Liv- und Kurland geltenden Rechten“ zahlreiche rechtsdogmatische Abhandlungen. Nach Rückschlägen für die Privatrechtswissenschaft nach 1842 – Bunge verlor seinen Lehrstuhl; sein Mitstreiter Madai kehrte nach Deutschland zurück – trat 1864 die von Bunge verfasste Kodifikation „Liv-, Est- und Curlaendisches Privatrecht“ in Kraft. Eine am Pandektenrecht ausgerichtete systematische Bearbeitung dieser Kodifikation veröffentlichte zwischen 1889 und 1894 Karl Eduard Erdmann. Wie der Beitrag Luts-Sootaks zeigt, ist die Beschäftigung mit der deutschsprachigen baltischen Rechtswissenschaft insbesondere des 19. Jahrhunderts auch für die deutsche Rechtsgeschichte ein lohnendes Forschungsgebiet.

Relativ knapp behandeln A. Bereza, G. Smyk und W. P. Tekely die polnische Rechtswissenschaft in den Teilungsgebieten (S. 47ff.). Hervorgehoben wird die große Bedeutung der 1808 begründeten Warschauer Rechtsschule für die Beschäftigung mit dem französischen Recht. Zentren der polnischen Rechtswissenschaft waren Warschau und Krakau, später noch Lemberg, jedoch studierten zahlreiche polnische Juristen an den Universitäten der jeweiligen Teilungsgebiete. Die Autoren kennzeichnen lediglich die Haupttrends der polnischen Rechtswissenschaft, der Rechtsphilosophie, der Rechtsgeschichte, des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts. – A. Zięba (Bochnia) stellt das Leben und das Werk des Krakauer und später des Lemberger Romanisten Jozefat Zielonacki unter der Überschrift: „Ein polnischer Gelehrter des 19. Jahrhunderts und sein Rang in der romanistischen Rechtslehre“ heraus. Promoviert in Berlin und habilitiert in Breslau, war Zielonacki von 1850-1852 Professor an der Universität Krakau. Nach seiner Entlassung wohl aus politischen Gründen kam er nach zwei Zwischenstationen 1857 nach Lemberg, wo er im Wintersemester 1866/67 erstmals seine Vorlesungen in polnischer Sprache hielt. 1862/63 hatte er nach mehreren Arbeiten zum römischen Besitz- und Servitutenrecht das auf den Grundsätzen des deutschen Pandektenrechts beruhende Werk: „Pandekten oder Auslegung des römischen Privatrechts inwieweit es die Grundlage der neueren Gesetzgebung ist“ vorgelegt, ein Werk, das grundlegend war für die moderne polnische Romanistik. Über die Originalität und Eigenständigkeit des gleichzeitig mit Windscheids Pandektenrecht erschienenen Lehrbuchs hätte man gerne noch mehr erfahren. In dem Beitrag von P. Skřejpková und J. Souša (Prag) geht es um die Herausbildung der tschechischsprachigen Rechtswissenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt seit 1861 und seit 1887 (Teilung der Prager Universität). Eine Schlüsselfigur dieser Zeit war der tschechisch und deutsch schreibende Rechtswissenschaftler Antonin (Anton) Randa (gest. 1914), der die Führungspersönlichkeit der Prager neohistorischen Rechtsschule war. Über das Verhältnis der tschechischsprachigen und der deutschsprachigen Literatur zum tschechisch-österreichischen Recht und den Kodifikationsbestrebungen der Zwischenkriegszeit fehlen nähere Ausführungen.

In ihrem Beitrag: „Charakteristika und Tendenzen der ungarischen Rechtswissenschaft im ,langen’ 19. Jahrhundert“ (S. 117ff.) zeigt Katalin Gönczi zunächst auf, dass mit der Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften 1825 eine erhebliche Förderung der ungarischsprachigen rechtswissenschaftlichen Literatur verbunden war. Bereits unter dem Neoabsolutismus und dann fast vollständig im Zeitalter des Dualismus (1857-1918) setzte sich eine eigenständige ungarische Rechtswissenschaft auf allen Rechtsgebieten durch. Sie war bestimmt durch einen umfangreichen Wissenstransfer aus Deutschland und Österreich sowie in der Rechtsphilosophie auch aus England (Maine; Spencer). Es ist zu wünschen, dass dieser Transfer bei einzelnen Autoren eine noch detailliertere Darstellung findet, als dies in dem Überblicksaufsatz Gönczis möglich war. – József Szabadfalvi (Debrecen) befasst sich mit dem bedeutenden ungarischen Rechtsphilosophen Bódog Somló (1873-1920), zunächst Professor in Klausenburg, ab 1818 in Budapest, der 1917 sein vom Neukantianismus und von John Austin beeinflusstes Hauptwerk: „Juristische Grundlehre“ veröffentlichte. – D. Čepulo (Zagreb) befasst sich mit den Kontakten von Baltazar Bogišič mit den Vertretern der englischen rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Schule H. S. Maine, F. Pollock und P. Vinogradoff (S. 71ff.). Bogišič (geb. 1834 in der Nähe von Dubrovnik; gest. 1908 in Fiume) war zunächst an der Hofbibliothek in Wien beschäftigt und erlangte 1869 eine Professur für slawisches Recht in Odessa, die er de facto bis 1872, de iure jedoch bis 1889 inne hatte. International bekannt geworden war Bogišič durch seine Arbeiten zum slawischen Gewohnheitsrecht über die zadruga (Hausgemeinschaften bzw. Hausgenossenschaften) und mit dem von ihm ausgearbeiteten Allgemeinen Gesetzbuch über das Vermögen für das Fürstentum Montenegro (hierzu F. Vilfan, in: H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neuen europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III 5, 1988, S. 410ff.). Der Beitrag gibt einen guten Einblick in die „scientific channels of communication between European legal scientists in the second half of the 19th century“ (S. 116) am Beispiel der Kontakte von Bogišič mit den genannten drei englischen Juristen aus Oxford, denen dieser detaillierte Kenntnisse über das altslawische Recht vermittelte. – Für die rumänische Rechtswissenschaft beschreibt D.C. Mâţă (Jany) das wissenschaftliche Werk einer Vielzahl rumänischer Wissenschaftler aus der Zeit zwischen 1814 und 1940, die schon wegen der Nähe der rumänischen Kodifikation zum Code civil stark nach Frankreich ausgerichtet war.

Wie der Untertitel des Bandes zeigt, kann es sich bei den Beiträgen nur um „Studien“, nicht um erschöpfende Darstellungen der jeweiligen Thematik handelt. Einige Beiträge hätten stärker auf die großen Linien der Gesamtentwicklung eingehen können, wie dies in den Beiträgen für Russland und für die baltischen Staaten der Fall ist. Im Übrigen setzt die Behandlung von Fragen des Rechtstransfers im Bereich der Rechtswissenschaft auch detailliertere Kenntnisse über die Wissenschaftsströmungen in den jeweiligen Transferländern voraus, was man z. B. in dem im Übrigen sehr detaillierten Beitrag über Rumänien vermisst. Wie die meisten Beiträge verdeutlichen, konnte sich kaum ein osteuropäisches Land – ausgenommen Rumänien und teilweise auch Polen – der Methodik und weitgehend auch den Inhalten der deutschen Pandektenrechtslehre sowie den Lehren Jherings ganz entziehen. Insoweit wäre eine rechtsvergleichende Gesamtdarstellung dieses Rechtstransfers wünschenswert. Auch bleibt zu hoffen, dass die bisher vorliegenden Beiträge in der Reihe „Rechtskulturen des modernen Osteuropa“ zu der einen oder anderen Gesamtdarstellung der Geschichte der Rechtskultur in den einzelnen Ländern führen.

 

Kiel

Werner Schubert