Prest, Wilfrid, William Blackstone. Law and Letters in the 18th Century. Oxford University Press, Oxford 2008. XVII, 355 S., 22 Abb. Besprochen von Hans-Christof Kraus.
Als Jeremy Bentham im Jahr 1776 unter dem Titel „A Fragment on Government“ seinen anonymen Erstling erscheinen ließ, beanspruchte er vermutlich, dem angesehenen „Kommentator“ des englischen Rechts, Sir William Blackstone, erstem Inhaber des angesehenen Stiftungslehrstuhls („Vinerian Chair“) für englisches Recht an der Universität Oxford, den wissenschaftlichen Todesstoß versetzt zu haben. Dem Verfasser der „Commentaries on the Laws of England“, in vier Bänden zwischen 1765 und 1769 erschienen, meinte der junge Philosoph zahlreiche Ungenauigkeiten, allzu viel Traditionsgläubigkeit, Irrationalitäten, vor allem aber Fehler in der Logik der Argumentation nachweisen zu können. Doch während Benthams Pamphlet jahrzehntelang weitgehend unbeachtet blieb, stieg der Ruhm des „Kommentators“ Blackstone unaufhaltsam weiter an, wurde das umfangreiche Werk in immer neuen Auflagen verbreitet: allein acht waren es zu Lebzeiten des Autors, und nach seinem Tod im Jahr 1780 wurden die „Commentaries“ in immer neuen Auflagen, auch mehreren Neubearbeitungen (sowie in Kurzfassungen wie „The Student’s Blackstone“ usw.) bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein aufgelegt. Später folgten mehrere Faksimiledrucke der frühen Ausgaben, und noch heute ist das Werk, ein Klassiker im besten Sinne des Begriffs, im Bücherschrank wohl fast jedes britischen und anglo-amerikanischen Juristen zu finden, der etwas auf sich hält.
Denn Blackstones überragende geistige Leistung hatte darin bestanden, in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine klare und überzeugende Synthese der ausgesprochen unübersichtlichen, zerklüfteten und auch für Kenner kaum überschaubaren Landschaft des damals gültigen englischen Rechts vorgelegt zu haben. In klarer, verständlicher Sprache, vorzüglicher Gliederung und mit einer nachgerade stupenden Kenntnis aller Bereiche des englischen Rechtslebens bis hin zu den Eigenarten des komplexen Verfassungsrechts der „checks and balances“ stellte er seinen Gegenstand übersichtlich dar, und die Schneisen, die er in das Dickicht vor allem des Common Law geschlagen hatte, entwickelten sich rasch zu breit ausgetretenen Trampelpfaden, die von den Rechtsstudenten des Inselreichs begangen wurden, um in die Probleme, manchmal auch in die Geheimnisse des heimatlichen Rechts einzudringen. Bis heute gilt das umfangreiche Werk als „the most important legal treatise ever written in the English language“ (Stanley N. Katz); sein Einfluss auf die Entwicklung des Rechts innerhalb des angelsächsischen Rechtskreises dürfte kaum zu überschätzen sein.
Über das Werk ist naturgemäß im Laufe von zweieinhalb Jahrhunderten sehr viel geschrieben worden, über dessen Verfasser allerdings wusste man bisher vergleichsweise wenig; einiges Material wurde vor mehr als sieben Jahrzehnten in den gleichzeitig erschienenen Blackstone-Biographien von David Alexander Lockmiller (Sir William Blackstone, Gloucester/Mass. 1938) und Lewis Christopher Warden (The Life of Blackstone, Charlottesville/Va. 1938) ausgebreitet. Wilfrid Prest, emeritierter Professor für englisches Recht an der südaustralischen Universität von Adelaide, hat in vieljähriger Arbeit jetzt eine neue Biographie vorgelegt, die vollständig aus den Quellen erarbeitet worden ist; ungedruckte Texte und Manuskripte aus nicht weniger als vierundvierzig Archiven und Bibliotheken sowie aus Privatsammlungen in zwei Erdteilen hat der Autor ausgewertet, so dass man wohl von einer weitgehend vollständigen Erfassung alles dessen, was von Blackstones Wirken neben seinen Schriften übrig geblieben ist, ausgehen kann.
Die Darstellung ist streng chronologisch aufgebaut, was bereits von manchen Kritikern moniert worden ist (so von Harry T. Dickinson im „Times Literary Supplement“, 13. 2. 2009, S. 10) – aber durchaus zu Unrecht, wie gesagt werden muss. Denn die persönliche und geistige Entwicklung eines der bedeutendsten Gelehrten des 18. Jahrhunderts kann hier Schritt für Schritt, Jahr für Jahr, ebenso nachvollzogen werden wie die Genese seines bahnbrechenden Werkes. Über die älteren Darstellungen Lockmillers und Wardens geht Prest tatsächlich weit hinaus (beide werden von ihm scharf bis vernichtend kritisiert), und erst recht räumt er mit manchen bis ins späte 20. Jahrhundert tradierten Blackstone-Klischees auf, z. B. mit der immer wieder vorgebrachten Behauptung, dass es sich beim „Kommentator“ um einen „undoubtedly … dull man“ (S. 3) gehandelt habe, darüber hinaus um einen reaktionären, vergangenheitsfixierten Tory, dessen starrer Konservatismus jede moderne Weiterentwicklung des englischen Rechts nachhaltig behindert habe. Davon ist kaum etwas wahr; im Gegenteil: Prest kann in seiner neuen, nicht selten auf erstmals erschlossene Quellen aufbauenden Untersuchung darlegen, dass William Blackstone ein überzeugter Reformer gewesen ist, dass er ebenso als ein Mann der Aufklärung wie als ein früher Wegbereiter der Menschen- und Bürgerrechte gelten darf.
Die insgesamt vierzehn Kapitel des Buches erschließen in allen Bereichen des Themas wissenschaftliches Neuland und präsentieren erstmals eine Fülle neuer Kenntnisse; sie betreffen zuerst seine Herkunft und seine frühe Biographie, über die bisher vergleichsweise wenige Informationen vorlagen. Die Kindheit und Jugend des bedeutenden Mannes werden hier erstmals wenigstens rudimentär rekonstruiert, und es wird klar, warum der hochbegabte junge William bereits im – selbst für damalige Zeiten ungewöhnlich frühen – Alter von erst fünfzehn Jahren die Universität Oxford beziehen konnte (S. 27). Über sein privates Leben ist freilich auch in Prests Buch wenig zu erfahren, denn die Quellen zu diesem Komplex scheinen unwiederbringlich versiegt zu sein; dazu mag der relativ frühe Tod Blackstones im Alter von erst 57 Jahren mit beigetragen haben. Immerhin können seine dienstlichen und amtlichen Tätigkeiten etwas aufgehellt werden; namentlich wird klarer als früher sichtbar, dass es der bald schon bekannte, ja berühmte Jurist verstanden hat, sich in den Bereichen der Universität, der Anwälte und Richter, endlich einiger politisch einflussreicher Persönlichkeiten ein eigenes Netz von wichtigen Kontakten zu knüpfen, das den Fortgang seiner Karriere wenigstens mit absicherte. Dies war durchaus nicht unwichtig für jemanden, der aus den vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen einer Londoner Handwerker- und Kaufmannsfamilie stammte.
Zu den besonderen Stärken des Buches gehört es, dass Prest in seiner Studie nicht nur erstmals das gesamte schriftstellerische Werk Blackstones (der zuweilen auch anonym publizierte) erschlossen und eingehend dargestellt, sondern dass er ebenfalls die bereits sehr früh ausgeprägten spezifisch rechtshistorischen Interessen und Aktivitäten Blackstones eruiert und eingehend vergegenwärtigt hat. Blackstone hat sich schon in seiner frühen Oxforder Zeit eingehend mit mittelalterlichen Manuskripten befasst; bekannt wurde er bereits Jahre vor der Veröffentlichung der „Commentaries“ mit einer kritischen und kommentierten Ausgabe der Magna Charta, publiziert unter dem Titel „The Great Charter and the Charter of the Forest, With Other Authentic Instruments“ (Oxford 1759). Völlig zu Recht betont Prest die Tatsache, dass Blackstone seine Darstellung des englischen Rechts auch als Rechtshistoriker, auf der Voraussetzung von ihm bereits früh unternommener breiter und eingehender rechtsgeschichtlicher Studien erarbeitet hat (S. 165ff.). Bekanntlich hat Blackstone in dem (im allgemeinen wenig beachteten) letzten Kapitel der „Commentaries“ (Book IV, Ch. XXXIII): „Of the Rise, Progress, and Gradual Improvements, of the Laws of England“ eine brillante, wenn auch nur relative knappe, 37 Druckseiten umfassende Geschichte der Entwicklung des englischen Rechts geschrieben, die zum Verständnis des Ganzen – auch und gerade seiner Deutung des englischen Verfassungsrechts – allerdings wesentlich ist! Vor diesem Hintergrund erscheint auch Blackstones bisher kaum bekanntes Interesse an der politischen Geschichte in anderem Licht: So hat er sich, von Prest ebenfalls ermittelt, um 1758/1759 intensiv mit dem Problem einer Fortsetzung der berühmten „History of the Great Rebellion“, der aus royalistischer Perspektive geschriebenen Revolutionsgeschichte des Edward Hyde, Earl of Clarendon befasst.
Manches Neue hat der Biograph auch dort zu bieten, wo es sich
um Blackstones politische Auffassungen und Interessen sowie ebenfalls um seine
Zeit als „Member of Parliament“ (1761-1770) handelt. Die ältere Auffassung, der
Rechtsgelehrte sei im Unterhaus kaum hervorgetreten und daher ohne wesentlichen
politischen Einfluss geblieben, weil er nur selten das Wort ergriffen habe,
kann Prest ebenfalls widerlegen. Als einer von insgesamt nur vierzig Juristen in
der zweiten Kammer des Parlaments (von etwa 550 Abgeordneten insgesamt) gehörte
er nämlich einer, wie es im Buch heißt, „important occupational sub-group“ (S.
201) des Hauses an, deren Einfluss auf viele Gesetzesvorhaben nicht zu
bestreiten ist – auch wenn manche der einflussreichsten Partei- und
Fraktionsführer dieser Zeit sich gerne in einer etwas undifferenzierten
Juristenschelte gefielen. Prest
resümiert: „Thus while Blackstone was by no means so tireless a parliamentary
orator as, say, Edmund Burke, George Grenville, or Lord North, he was plainly a
good deal more articulate than the average back-bencher, or even some leading
ministers“ (S. 237).
Blackstones politische Überzeugungen werden ebenfalls, soweit dies anhand der lückenhaften Überlieferung möglich ist, präzise rekonstruiert. Bereits in seiner frühen Oxforder Zeit exponierte er sich als entschiedener Gegner der jakobitischen Restaurationsbestrebungen und als überzeugter Anhänger der rechtmäßigen dynastischen Erbfolge des Hauses Hannover – durchaus im Gegensatz zu Teilen seiner damaligen Umgebung, denn in Oxford gab es aus alter Tradition eine besondere Anhänglichkeit an das 1688 vertriebene, in seinem protestantischen Zweig (Queen Anne) 1714 ausgestorbene Haus Stuart (S. 98ff.). Erwähnenswert ist ebenfalls, dass Blackstone in einer der großen Streitfragen der 1760er Jahre, betreffend den Ausschluss des ordnungsgemäß gewählten Londoner Abgeordneten und Radikalen John Wilkes aus dem Unterhaus – kraft damals rechtmäßig bestehender Entscheidungsgewalt der Parlamentarier –, auf der Seite der Gegner Wilkes‘ gestanden hat (S. 237ff.). Nicht zuletzt diese Tatsache hat zu dem späteren, eher negativen Blackstone-Bild der Historiker des 19. Jahrhunderts keineswegs unwesentlich beigetragen. Hinzu kommt ebenfalls noch Blackstones deutliche, freilich aus seiner Perspektive kaum verwunderliche Ablehnung der nordamerikanischen Revolution (292f.) – eine Tatsache, die es allerdings auch nach 1776 keineswegs verhindert hat, dass seine „Commentaries on the Laws of England“ eines der auch in politischer Hinsicht einflussreichsten Bücher jenseits des Atlantiks geworden sind. Blackstone wurde geradezu, wie es der österreichische Historiker Gerald Stourzh einmal formulierte, zum „Teacher of Revolution“, dem das amerikanische Verfassungsdenken nicht wenig zu verdanken hat.
Alle diese Facetten des Lebens und Wirkens, des wissenschaftlichen Arbeitens und der politischen Tätigkeit eines bedeutenden, wirkungsmächtigen Mannes, der seinerzeit auch außerhalb des angelsächsischen Kulturbereichs einige Beachtung gefunden hat (die „Commentaries“ wurden sehr bald nach ihrem Erscheinen erst im Auszug, später weitgehend vollständig ins Französische und ins Deutsche übersetzt; die umfangreichste deutsche Ausgabe erschien 1822/1823 in Schleswig), sind in der ausführlichen und überaus gründlichen Studie von Prest – mit ausgeprägter, aber durchaus nicht kritiklos argumentierender Sympathie für den Gegenstand, mit vorzüglicher Kenntnis der Geschichte des 18. Jahrhunderts und der englischen Aufklärung, dazu ebenfalls mit viel Sinn für das Detail und mit stupender Quellenkenntnis und Textkenntnis – rekonstruiert worden. Der Autor hat sich mit seinem Buch ein wirklich großes, bedeutendes Verdienst erworben; es stellt genau im Sinne dieses Begriffs eine abschließende Leistung dar. Weitere Beiträge zu Leben und Werk Sir William Blackstones werden künftig bestenfalls als Fußnoten zu Prest geliefert werden können.
Passau Hans-Christof Kraus