Pilch, Martin, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Böhlau, Wien 2009. 600 S. Besprochen von Bernd Kannowski.
Die rechtshistorische Mediävistik kann ihr unglaubliches Glück gar nicht fassen: Die Rechtstheorie soll von der Rechtsgeschichte lernen, und zwar von der mittelalterlichen. Das nämlich meint Martin Pilch. Was er in seinem auf hohem Niveau angelegten Werk in Angriff nimmt ist – der Untertitel bringt es unmissverständlich zum Ausdruck – eine grundsätzliche Kritik am Normensystemdenken. Der Horizont des mit modernem Material arbeitenden Rechtstheoretikers soll sich weiten, indem er rechtshistorische Überlegungen zum mittelalterlichen Rechtsbegriff zu Rate zieht. Und auch der Rechtshistoriker soll lernen. Die rechtstheoretische Reflektion auch auf diesem Gebiet bedeutsamer Wissenschaftler ließe nämlich – so Pilch – das eine oder andere zu wünschen übrig.
Schon allein aus diesen Gründen muss Pilchs äußerst lesenswertes Buch das Interesse eines jeden am mittelalterlichen Rechtsbegriff Interessierten auf sich ziehen. Was wir hier vor uns haben, ist eine wirklich interdisziplinäre Arbeit. Zwar handelt es sich bei Rechtshistorie und Rechtstheorie gleichermaßen um juristische Grundlagenfächer, doch ist ihre Anknüpfung an Nachbarwissenschaften in beiden Fällen stärker ausgeprägt als bei den so genannten dogmatischen Fächern, und diese Verbindungen gehen in unterschiedliche Richtungen. Während die Rechtsgeschichte der Geschichtswissenschaft zugewandt ist, ist die Rechtstheorie mit der Philosophie verbunden. Ein großes Verdienst des Pilchschen Werkes steht hiermit in Zusammenhang: Nur wenige haben das erforderliche Hintergrundwissen, um hier einen Brückenschlag zu ermöglichen. Das bringt mit sich, dass Pilchs Darlegungen Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten voraussetzen, über die in dieser Tiefe nur wenige verfügen werden. Ein Problem dieses Buches könnte darin liegen, dass in einem noch größeren Umfang als sonst üblich jeweils nur ein bestimmter Teil davon gelesen und rezipiert wird. Aber selbst wenn dem so sein sollte, Pilch hat einen wertvollen Versuch zur Förderung eines Dialogs zwischen juristischen Grundlagenfächern unternommen und damit das Feld für neue Diskussionen geöffnet. Pilch glänzt durch wahrlich beeindruckende Kenntnisse der historischen wie der rechtshistorischen Fachliteratur. Immer wieder bezieht er – auch in Fußnoten – unmissverständlich und geistvoll Stellung zu ihren Werken.
Bücher haben bekanntlich ihre Geschichte, und so auch dieses. Es handelt sich um eine juristische Dissertation, aber in der Tat um keine gewöhnliche. Lange Jahre hat ihr Autor daran gearbeitet, neben Berufstätigkeit außerhalb der Wissenschaft. Eingereicht wurde die (für die Veröffentlichung überarbeitete und wesentlich erweiterte) Arbeit bei Peter Koller (Graz). Es handelt sich also von der Zielrichtung her in erster Linie um eine rechtstheoretische Arbeit.
Rechtsgeschichte und Rechtstheorie sind beide juristische Grundlagenfächer. Beide haben damit den Zweck, ein tieferes und besseres Verständnis des geltenden Rechts zu ermöglichen. Pilch stellt die Rechtstheorie auf eine neue Ebene. Bei ihm ist sie nicht mehr Wissenschaftstheorie der aktuellen Rechtswissenschaft. Sie wird zu einer Metaebene für eines ihrer Grundlagenfächer. Gegenstand der Analyse ist jedenfalls nicht in erster Linie der Rechtsbegriff von heute, sondern einer der weit über 1000 Jahre alt ist.
Wahrscheinlich hätte man sich die rechtstheoretische Leistung (Kritik am Normsystemdenken) auch ganz ohne den Mittelalterteil denken können. Dieser kommt über eine Art Umweg in den rechtstheoretischen Teil hinein. Das Frühe Mittelalter ist Fallstudie oder ein Spektrum von Fallstudien für eine Epoche, deren normatives Denken sich mit Termini des Normsystemdenkens nicht fassen lässt. Ob das für Rechtstheoretiker, die sich mit gegenwärtigem Recht und dessen Logik beschäftigen, eine Rolle spielt und was ein Recht nach dem Staat von einem Recht vor dem Staat lernen kann, könnte Thema einer Besprechung in einer rechtstheoretischen Zeitschrift sein. Ich will Pilch das Mittelalter bestimmt nicht ausreden.
Ausgangspunkt von Pilchs Forschungsinteresse war nicht das Interesse an Recht, sondern – die Anlehnung der Formulierung an Carl Schmitt gleich zu Beginn (11) ist vielleicht nicht zufällig gewählt – am Begriff des Politischen. Pilch ist ein Kenner der Lehren Schmitts, mit denen Pilch sich im Rahmen einer vorherigen Monographie beschäftigt hat.[1] Bei seinen Analysen und Lösungsvorschlägen kommt Pilch immer wieder auf Schmitt’sches Gedankengut zu sprechen.[2] Pilch stellte fest, dass die Frage nach dem Begriff des Politischen sich nicht klären lässt, ohne sich eingehend mit der damit untrennbar verklammerten Frage nach dem Recht auseinander zu setzen. Dieser Aspekt spielt bei der Diskussion um den mittelalterlichen Rechtsbegriff in der Tat eine wichtige Rolle. So geht Jürgen Weitzel davon aus, Recht sei etwas dem Einflussbereich der Mächtigen Entzogenes und von der Herrscherpolitik Abgrenzbares, während Gerd Althoff meint, Beratungen in rechtlichen und in politischen Angelegenheiten seien im Mittelalter nicht zu trennen gewesen.[3] Der „Begriff des Politischen“ – wenn man das so nennen will – bzw. seine Abgrenzung zum Rechtlichen ist also ein zentraler Punkt in der Debatte um den mittelalterlichen Rechtsbegriff. Pilchs Ausgangspunkt ist mithin nachvollziehbar gewählt.
Pilch liefert ein faszinierendes Wechselspiel von Rechtstheorie und Rechtsgeschichte. Wie Pilch dabei vorgeht und was er eigentlich tut, skizziert er in seiner Einleitung (12 ff.). Diese erleichtert die Orientierung in diesem umfang- und facettenreichen Buch, in dem Pilch philosophisch, historisch, sprachlich und manchmal auch mathematisch alle möglichen Register zieht. Bei aller Freude, welche die Lektüre bereitet, ist das jedenfalls in toto kein Buch, das sich leicht und schnell erschließen würde. So sage ich ganz ehrlich – und da bin ich zumindest unter den Rechtshistorikern vielleicht nicht der Einzige – über einige Passagen von Pilchs Buch in Anlehnung an seine Formulierung, dass mir „Zeit und Kompetenz [fehlt]“ (530), um sie en detail nachvollziehen zu können. So ist mir nicht klar, was es bedeutet, dass eine vollständige Norm „in Analogie zur Diagonalisierung von Matrizen in der linearen Algebra als Eigenwertproblem verstanden werden [kann]“ (106). Ebenso erschließt sich mir nicht ohne Weiteres, was unter einer „quasitranszendentalen Synthesis des Mannigfaltigen des normativen Materials der Rechtsvorschriften“ (109) zu verstehen ist. Auch werden mir Formeln wie „p → Oq ≡ O(p → q)“ (127), eine „Transformationsrelation Dk = Tkj(Dj)“ oder auch die Aussage „gilt also Cn(Dk) = Cn(Dj), bedeutet das, wenn Dk ≠ Dj, lediglich einen Wechsel der Darstellung“ (134) in ihrer Bedeutung für das bessere Verständnis mittelalterlichen Rechts vielleicht für immer verschlossen bleiben. Auch finde ich die Bemerkung, Weinfurters Begriff von „Funktion“ weise mathematische Züge – im Sinne von f(x) – auf (523), eher verwirrend als dem besseren Zugang dienlich. Um sie wirklich nachvollziehen zu können ist ein naturwissenschaftliches Studium erforderlich, wie P. es vor seinem juristischen absolviert hat.
Was mich – auch im Rahmen einer Rezension für diese Zeitschrift – allerdings mehr interessiert als diese kristallin-mathematische Darstellungsweise und die in meinen Augen für Pilchs Thesen keineswegs zentralen Ausführungen über die Geschichte des juristischen Systembegriffs (20ff.), sind die Ausführungen zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte (135ff.). Dabei legt Pilch ohne weitere Begründung – was in Anbetracht der sonst so ausführlichen Argumentation überrascht – einen „Versuch einer Definition des Rechts“ Peter Kollers zugrunde. In diesem Abschnitt zeigt Pilch (wie überall) große Belesenheit und klare kritische Positionen zu dem Gelesenen. Diese macht Pilch durch längere Zitate in den Fußnoten – wie sie über das ganze Werk zu beobachten sind – plausibel und anschaulich. Seine Kenntnisse in diesem Bereich sind wirklich beachtlich, zumal Pilch jedenfalls von Hause aus mit der Rechtsgeschichte des Frühmittelalters nichts zu tun hat. In diesem Abschnitt des Buches wird die von Pilch bereits in der Einleitung (15) angesprochene „wesentliche Fragmentierung des Rechts im Frühmittelalter“ deutlich. Dabei ist die aufgegriffene Trias „recht – Gebot – Willkür“ – wie Pilch natürlich weiß – nicht neu (181). Pilch betont nun, dass es sich aus der Sicht des Frühen Mittelalters um kategorial so verschiedene Erscheinungen handelt, dass eine darüber gelegte Klammer mit dem Namen „Recht“ als Anachronismus erscheint (182).[4] Eine solche Verallgemeinerung („Recht“) sei erst entstanden, als obrigkeitliche Rechtssetzung ihren Siegeszug antrat und nach und nach einen Anspruch auf Absolutheit erhob. Eine Einheit der angeführten Schichten ergäbe erst ein mitunter trügerischer Blick aus einer Rechtswissenschaft der zeitlichen Distanz. Bei der Vermutung einer Kontinuität sei Vorsicht geboten, und auch der im Ansatz zutreffende Gesichtspunkt des Rechtszwanges könne ob seiner eigenen Mannigfaltigkeit nur bedingt als Bindeglied taugen (208).
Auf S. 273ff. setzt Pilch sich dann mit dem Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte auseinander. Dabei dürfte seine kritische Stellungnahme zu drei wichtigen Positionen aus der Diskussion um den mittelalterlichen Rechtsbegriff für mediävistische Rechtshistoriker von besonderem Interesse sein. Ausgangspunkt ist das in dem vorherigen Kapitel erzielte Ergebnis, viel spreche dafür, dass es nicht möglich sei, Recht im Früh- und Hochmittelalter als ein System von Normen zu beschreiben. Pilch würdigt nun eingehend aus rechtstheoretischer Sicht kritisch die Rechtsbegriffe dreier Rechtshistoriker, wobei auch bemerkenswert ist, mit welcher Präzision er ihre zum Teil in verschiedenen über einen längeren Zeitraum entstandenen Arbeiten dargestellten Standpunkte referiert: Zunächst wendet Pilch sich der Auffassung Karl Kroeschells zu (279ff.), dann spricht er über den Rechtsbegriff Gerhard Dilchers (291ff.), zuletzt über den Jürgen Weitzels (312ff.). Die rechtstheoretischer Durchleuchtung und Gegenüberstellung dieser drei wichtigen Positionen ist eine Pionierleistung, von der zu hoffen ist, dass sie der Diskussion um den mittelalterlichen Rechtsbegriff frischen Wind zu geben vermag. Obwohl Pilch sich zu den Auffassungen der drei Rechtshistoriker zum Teil recht kritisch äußert, nimmt Pilch im weiteren Verlauf seines Buches auf deren Ergebnisse immer wieder Bezug.
Zu Karl Kroeschells Rechtsbegriff meint Pilch, dieser basiere weitgehend auf Negationen und sei letztlich inhaltsleer. Pilch betont, dass Kroeschell dem mittelalterlichen Recht gar keine materielle Qualität, sondern allein eine formale, vom Verfahren her zu bestimmende, zugestehen will. Dies illustriert Pilch anhand der irritierenden Kroeschell’schen Formulierung vom „nichtnormativen Recht“ (287).
Als Nächstes stellt Pilch den Rechtsbegriff Gerhard Dilchers vor. Pilch befürwortet, dass der Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das innovative Element der Stadt und die Frage nach dem Rechtszwang eine zentrale Rolle für Dilchers Konzeption spielen. Pilch bemängelt allerdings, dass auch Dilcher den Normbegriff nicht hinreichend reflektiert habe, wie Pilch es einfordert. So habe auch Dilcher nicht vollständig erfasst, worin genau die andersartige Qualität des von ihm beschriebenen Rechts eigentlich liege. Dilchers Vorwurf an Weitzel, die Auswirkungen von Oralität nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, treffe somit auch Dilcher selbst.
Dann kommt Pilch auf den Rechtsbegriff Jürgen Weitzels zu sprechen. Diesen findet Pilch deshalb besonders problematisch, weil Weitzel – anders als Kroeschell und Dilcher – eine rechtstheoretisch fundierte Lösung erstrebe. So ist Pilch der Auffassung, dass der sich wie ein roter Faden durch Weitzels Arbeiten ziehende Rechtsbegriff Husserls für die meisten der von Weitzel beschriebenen Phänomene keine Verwendung finden könne. Zentraler Kritikpunkt ist hier – in der Linie des Pilch’schen Buches – wiederum Weitzels Normbegriff. Weitzels Arbeiten kennzeichne „der unbefangene – fast naiv anmutende – Einsatz des zumeist zum System gesteigerten Normgedankens“ (332). Auch findet Pilch Weitzels Vorstellung, das Recht sei nur in der gerichtlichen Entscheidung präsent, nicht überzeugend. Das gleiche gilt für Weitzels Vorstellung, Recht existiere allein im Konsens mit der Konsequenz, dass es nicht mehr existiere, sobald der Konsens darüber verloren sei. Pilch hält es für eine eigenartige Vorstellung, dass das Recht genau dann, wenn es gebraucht wird (im Streit), in sich zusammenbrechen soll. Alles in allem äußert Pilch zu der scharf profilierten Auffassung Weitzels die meiste Kritik, was aber auch heißt, dass er sich mit ihr am ausführlichsten auseinandersetzt.
Nach Ausführungen zu auf Ronald Dworkin gestützte Kritik am Rechtspositivismus (356ff.) geht P. auf Ideen eines „im Zusammenhang mit dem Werk Ronald Dworkins etwas unerwartet hereintretenden Antezessors“ (363) ein, nämlich auf Carl Schmitt. Dessen Begriff eines konkreten Ordnungsdenkens will Pilch „als Modell für einen mittelalterlichen Rechtsbegriff“ aufgreifen und fruchtbar machen (370). Dabei stellt Pilch heraus, wie stark Schmitts Überlegungen im Hinblick auf „Ordnungs- und Gestaltungsdenken“ aus dem Jahr 1934 von damaligen politischen Kontroversen gekennzeichnet war („für oder gegen Weimar“, 398). Das wirft die Frage auf, ob die Schmitt’schen „konkreten Ordnungen“ überhaupt für das Verständnis des frühen Mittelalters von Nutzen sein können, zumal „allein der Begriff des Ordnungsdenkens“ hier von Bedeutung sein soll (399). Pilch betont den (vor ihm schon von anderen hervorgehobenen) juristischen Umbruch des 12. Jahrhunderts mit seiner Idee von Rechtserneuerung. In seinen Begriffen konkreten Ordnungsdenkens ist bei Pilch von einem Übergang „von der gewachsenen zur gestaltbaren Ordnung“ (403ff.) die Rede.
Als Theorieangebot für die Rechtsgeschichte spricht Pilch sich ferner für den von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter entwickelten Begriff der „Ordnungskonfigurationen“ aus (418, 479ff.). Diesen möchte er in noch zu erörternder Weise mit der Schmitt’schen Idee der konkreten Ordnungen verbinden. Das theoretische Konzept der Ordnungskonfigurationen behandeln unterschiedliche Disziplinen im 64. Band des Konstanzer Arbeitskreises. Grundlage war eine Tagung von 2003, bei der das Thema „Recht“ keineswegs im Mittelpunkt stand und im engeren Sinne erst in einem später eingeworbenen[5] Beitrag von Christoph H. F. Meyer behandelt wird. Im Rahmen dieser Rezension kann ich nicht im Einzelnen nachzeichnen, was mit dem interdisziplinären Konzept der Ordnungsvorstellungen, das eine „Wechselbeziehung von Wertevorstellungen und politischen und sozialen Ordnungsfiguren“[6] erfassen soll, gemeint ist. Wichtig ist aber, dass Meyer in seinem ausführlichen und analytisch gut durchdachten Beitrag von Folgendem ausgeht: „Das autochthone Recht scheidet schon wegen der über weite Strecken schlechten Quellenlage aus.“[7]. Für eine Untersuchung unter dem Aspekt der Ordnungskonfigurationen blieben mithin allein die gelehrten Rechte übrig. Wenn Meyer mit dieser Feststellung Recht hat, kann Pilchs Plädoyer für die Ordnungskonfigurationen im Hinblick auf die von ihm ins Auge gefasste Zeit und ihre Quellen nicht überzeugen.
Pilch ist wichtig, dass der moderne Begriff von „Norm“ untauglich für das Mittelalter sei. Das rechtliche Sollen werde „durch einen weitumfassenden Kontext definiert, gerade nicht durch einen einzelnen Satz“, wie es bei einer Norm der Fall sei. Der „Kontext als die gesamte Ordnung selbst“ stehe hier im Vordergrund. Bei der Norm hingegen spiele dieser erst dann eine Rolle, wenn die Norm im Verhältnis zu anderen, mit denen sie zu einem System gehöre, zu interpretieren sei. Da es solche Einzelnormen im Frühmittelalter nicht gegeben habe, sei der Normbegriff „das rechtswissenschaftlich falsch gewählte Paradigma“ (417). Vorzugswürdig sei es mit „konkreten Ordnungen“ zu operieren, wie Carl Schmitt sie in seinem Werk über „Die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens“ von 1934 entwickelt hat. Pilch fordert also nicht nur – was ja auch nichts Neues wäre –, den Begriff eines „Systems von Normen“ für das frühe Mittelalter fallen zu lassen (531). Pilch verlangt darüber hinaus – und das ist neu –, auch den Begriff der „Norm“ zu vermeiden. Der Begriff „Norm“ sei – jedenfalls nach dem modernen Normensystemdenken, das Pilch im ersten Teil seines Buches (unter I., 19-134) ausführlich dargestellt hat und um dessen Kritik es ihm ja geht – dergestalt aufzufassen, dass der Kontext für das Verständnis einer Norm erst dann eine Rolle spielt, wenn die Norm mit anderen zu einem System zusammengefasst wird. Solche Einzelnormen aber existierten im frühen Mittelalter nicht.
Um es klar zu sagen: Pilch behauptet keineswegs, es gäbe im Frühen Mittelalter keine normativen Vorstellungen. Es geht ihm um den Begriff „Norm“. Und dass dieser keineswegs so unproblematisch ist, wie Rechtshistoriker möglicherweise glauben, ist von Seiten der Rechtstheorie ein wichtiger Hinweis. Mit der Warnung vor einer unreflektierten Benutzung beugt Pilch Anachronismen vor, wenn diese auch vielleicht häufig im Kopf des Begriffsverwenders der Sache nach gar nicht bestehen und es somit primär um die Gefahr von Missverständnissen geht. Damit will ich sagen, ich glaube nicht, dass die von Pilch kritisch beleuchteten Rechtshistoriker den komplexen theoretischen Hintergrund, den Pilch im ersten Teil seines Buches darlegt, vor Augen haben, wenn sie an eine „Norm“ denken (bzw. dachten).
Pilch will auf den Begriff der „Norm“ zugunsten des Begriffs der „konkreten Ordnung“ (C. Schmitt) verzichten. Diesen möchte Pilch ferner vom Begriff der „Ordnungskonfigurationen“ (s. o.) trennen. Während „konkrete Ordnungen“ in der von Pilch in seinem hier besprochenen Werk weiterentwickelten Form „in eng gefaßter Stoßrichtung auf einen Rechtsbegriff zielt“ (528), sei „Ordnungskonfiguration“ in einem weiteren Sinne zu verstehen. Es handele sich um „so etwas wie die Bedingung der Möglichkeit für die Ausbildung solcher Letztinterpretationen des Rechtlichen“ (529), das heißt für eine Einordnung in Idealtypen von Recht, wie sie in Carl Schmitts Werk über die drei Ordnungen (Norm, Dezision, konkrete Ordnung) dargelegt sind. „Konkretes Ordnungsdenken tritt so gesehen methodisch nicht in Konkurrenz zum Ansatz der Ordnungskonfigurationen, sondern wäre eine Präzisierung im Hinblick auf die Rekonstruktion von Rechtsbegriff und Rechtsverständnis innerhalb von Ordnungskonfigurationen.“ (529).
Die von Pilch formulierten Schlussfolgerungen wirken im Verhältnis zu seinem innovativen Ansatz erstaunlich konventionell. So beginnt die Conclusio (530ff.) mit einem Zitat Dietmar Willoweits das besagt, der positivistische Rechtsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts dürfe nicht auf das Mittelalter übertragen werden, ergänzt um eine ähnliche Feststellung Karl Kroeschells. Pilch hebt hervor, dass seine Arbeit nicht mehr als ein Zwischenergebnis liefere und auf dieser Grundlage die Forschungen und die Gespräche zwischen den Disziplinen weitergehen oder sich erst entwickeln müssten (533). Damit schätzt er den Stellenwert seines mutig Terra incognita betretenden Werkes zutreffend ein.
Schon oben im Zusammenhang mit Christoph H. Meyer klang es an: Nur selten richtet Pilch seinen Blick auf mittelalterliche Quellen. Das ist aber auch nicht das Metier des Rechtstheoretikers. Dieser müsste auf einer oberhalb der Quellen liegenden Abstraktionsebene für den Rechtshistoriker weiterführende Begrifflichkeiten entwickeln. In dieser Hinsicht bleibt Pilchs Werk in meinen Augen weitgehend ein Desiderat. Die von Pilch ins Feld geführten Ordnungskonfigurationen in Kombination mit den konkreten Ordnungen bleiben nach meinem Dafürhalten zu vage. Die Beispiele mit Gregor VII. und Heinrich III. (529) vermögen mich vom Erkenntniswert des Pilch’schen Konzepts nicht zu überzeugen.
In anderer Hinsicht hingegen erfüllt Pilch durchaus die Anforderungen, die eine Wissenschaftspraxis (hier: die Rechtsgeschichte) an ihre Wissenschaftstheorie stellt: Durch eine Analyse der von Rechtshistorikern verwendeten Begriffe sorgt er für Klarheit. Dieser Blick auf die Rechtsgeschichte aus einer Außenperspektive ist ein wahrlich seltenes Glück. Selbst wenn das den Rechtshistorikern nur zeigt, dass sie aneinander vorbeireden oder wichtige Erkenntnisse von außerhalb ihres Horizonts nicht wahrnehmen, ist damit schon viel gewonnen. Ein für die Rechtsgeschichte wichtiger Wert dieses Buches liegt darin, dass ihre Begriffsentwicklung von rechtstheoretischer Seite kompetent kritisch durchleuchtet und damit ernst genommen wird.
Aber bis zum Ziel ist es noch ein langer Weg. Vielleicht verspürt auch Pilch ein gewisses Unbehagen mit seinen Ergebnissen. Das Urteil darüber, ob das von ihm vorgeschlagene Konzept im rechtshistorischen Laboratorium zu neuen Erkenntnissen führen kann, überlässt er bewusst anderen: „In der Auseinandersetzung mit den Quellen und in den Quellen selbst wären die kleinen und großen Ordnungen in concreto auszumachen und vor dem Hintergrund dieser Argumentation mit und im Recht als in die Ordnungen eingebettete Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit Gewalt zu rekonstruieren – ohne Bezug auf Norm, System und Funktion“ (530). Möge dieser Appell reiche Gefolgschaft finden.
Freiburg Bernd Kannowski
[1] Martin Pilch, System des transcendentalen Etatismus. Staat und Verfassung bei Carl Schmitt, Wien – Leipzig 1994.
[2] Über den Wert Schmitt’scher Gedanken als Methode für
die Rechtsgeschichte bereits Wolfgang Schild, Das konkrete Ordnungsdenken als
Methode der Rechtshistorie. In: Marcel Senn / Claudio Soliva (Hg.),
Rechtsgeschichte Interdisziplinarität, Festschrift für Clausdieter Schott zum
65. Geburtstag, Berlin – Frankfurt a. M. 2001, 143-154
[3] Dazu Bernd
[4] So bereits Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (VuF 12), Sigmaringen 1968, 309-335 (318).
[5] Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hg.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006, 12.
[6] Schneidmüller / Weinfurter (Hg.), Ordnungskonfigurationen (wie Fn. 5), 9.
[7] Christoph H. F. Meyer, Ordnung durch Ordnen. Die Erfassung und Gestaltung des hochmittelalterlichen Kirchrechts im Spiegel von Texten, Begriffen und Institutionen, in: Schneidmüller / Weinfurter (Hg.), Ordnungskonfigurationen (wie Anm. 5), 303-411 (313).