Paulus van Husen (1891-1971). Erinnerungen eines Juristen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, bearb. und eingeleitet v. Hummel, Karl-Joseph unter Mitarbeit von Frings, Bernhard (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A Quellen, Band 53). Schöningh, Paderborn 2010. LVIII, 614 S. Besprochen von Gerold Neusser.

 

Die Memoirenliteratur unter Juristen ist nicht gerade umfangreich, umso begrüßenswerter ist dieser vorzüglich edierte Band aus der Feder eines profilierten Verwaltungsjuristen und Richters von hohem Rang, dessen Leben acht Jahrzehnte in einem Deutschland voller tiefgreifender Wandlungen umfasste. Dabei ist vor allem bemerkenswert, dass diese Wandlungen der deutschen Staatlichkeit ihm – bei all seiner strengen juristischen Denk- und Arbeitsweise – immer wieder wesentliche und markante Aufgaben gestellt haben, die über die üblichen Arbeiten im juristischen Beruf hinausgingen und ihn in Positionen gebracht haben, die in das Spannungsfeld zum Politischen führten. Geprägt hat ihn seine westfälische Heimat und sein tiefer katholischer Glaube, aus dieser Grundausrichtung „eines fast idealtypischen katholischen Bürgers, Juristen und Staatsdieners seiner Zeit“ (Hummel S. VII) hat er „so konsequent … [gehandelt] …, dass sein Leben gerade nicht typisch und repräsentativ verlaufen ist“. Kindheit und Jugend sowie die ersten juristischen Studienjahre (in Oxford, München und Genf) hat er in dem wilhelminisch-preußischen deutschen Kaiserreich verbracht, nach dem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg das Studium in Münster abgeschlossen, er wurde preußischer Regierungsreferendar mit der besonders zielgerichteten Ausbildung, die ihn in den Staatsdienst in Schlesien führte, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten dann Richter am Preußischen Oberverwaltungsgericht, nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er 1940 als Rittmeister der Reserve im Oberkommando der Wehrmacht mit Rechtsangelegenheiten betraut, kam dort auch mit kritischen Offizieren in Verbindung, die dem Widerstand gegen Hitler nahestanden, gehörte dann selbst dem sogenannten Kreisauer Kreis um Helmuth James von Moltke an und wurde  vom Volksgerichtshof noch in seiner letzten Verhandlung am 19. April 1945 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, aber wenige Tage danach von der Roten Armee befreit. Nach dem Krieg wurde er wieder Verwaltungsrichter, erhielt mehrfach Angebote auf hohe Stellen in der Staatsverwaltung, die er nicht annahm, und verbrachte die letzten Jahre seines Berufslebens als Präsident des Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster. Dieses Leben spiegelt sich in dem vor allem im Ruhestand in Münster in der klaren Sprache des Juristen verfassten und 1967 abgeschlossenen Manuskript der Lebenserinnerungen wider, das für die Druckfassung vom Herausgeber leicht gekürzt worden ist. Die Lektüre lässt den Menschen, eng verbunden mit Heimat und Natur, konservativ im besten Sinne, von tiefer Katholizität, humanistisch gebildet, breit interessiert und weltoffen, umfassend politisch denkend, immer wieder deutlich hervortreten. Bei aller Kontaktfreudigkeit bleibt er dennoch persönlich zurückhaltend und bescheiden, ist aber dann konsequent und kämpferisch in seinem Handeln, wenn eine übernommene Verantwortung – im familiären wie im beruflichen Bereich - es nach seiner Überzeugung erfordert. Natürlich ist auch das Denken und Handeln das des „guten“ Juristen, der ganzheitlich und die Gesamtmaterie überblickend, aber doch mit Schwerpunkten tätig ist. In seinem Berufsleben ist Paulus van Husen in drei historischen Zeitabschnitten in drei unterschiedlichen Arbeitsbereichen hervorgetreten: In der ersten Berufszeit wurde der damals – nach mehr als vier Jahren Kriegsdienst – gerade 30 Jahre alte „gute“ Regierungsassessor als Katholik von der protestantisch geprägten preußischen Regierung nach Oberschlesien geschickt, um dort im Lichte der zu erwartenden Abstimmung der überwiegend katholischen Bevölkerung über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen das katholische Element in der preußischen Verwaltung zu stärken. Er bewährte sich bald als stellvertretender Landrat und im Regierungspräsidium Oppeln als streng rechtlich denkender und handelnder Mann, war aber danach vier Jahre lang im Privatdienst tätig. Seine (damals nicht so häufige) Weltoffenheit und die Erfahrungen im Umgang mit nationalen Minderheiten führten dazu, dass er 1927 – als Nachfolger seines Freundes Hans Lukaschek und benannt durch die Zentrumspartei, der er angehörte - von der Reichsregierung zum Mitglied der vom Völkerbund eingesetzten Gemischten Kommission für Oberschlesien in Kattowitz bestellt wurde. 1934 wurde er freilich abberufen, da ihm aus seiner „grundsätzlichen inneren Einstellung heraus … nie auch nur der Gedanke („zu den Nationalsozialisten überzuwechseln“) gekommen ist“ (S. 201). Immerhin hat man die früher für diesen Fall gegebene Absicherungszusage eingehalten, und so wurde der frühere preußische Regierungsassessor sogleich zum Oberverwaltungsgerichtsrat beim Preußischen Oberverwaltungsgericht in Berlin ernannt. – In seiner Tätigkeit ab 1940 beim Wehrmachtführungsstab gewann Paulus van Husen 1940 über sein Aufgabengebiet der  Rechtsangelegenheiten hinaus vielerlei Einblicke und Kontakte. Die Wiederbegegnung mit dem ihm schon aus Schlesien bekannten Helmuth von Moltke, der als Zivilbeamter ebenfalls im Oberkommando der Wehrmacht in der Abteilung Abwehr tätig war, führte dazu, dass er zunächst in Berlin zu mancherlei Gesprächen über die Situation Deutschlands und das, was zu tun sei, sodann auch zu den größeren Runden in Kreisau eingeladen worden ist, die man später als „Kreisauer Kreis“ bezeichnet hat. Dort stand im Mittelpunkt die Erhaltung und Erneuerung Deutschlands nach dem Ende des Krieges, den alle Beteiligten bereits früh als verloren angesehen haben. Auf Grund seiner Erfahrungen hat er an den Planungen für die staatliche, rechtliche und verwaltungsmäßige Neugestaltung teilgenommen, vor allem aber auch – zusammen mit seinem Freund Lukaschek – als Exponent der katholischen Seite in dem vielgestaltigen Kreis; so haben die beiden auch für wichtige Kontakte zur katholischen Kirche und zu weiteren katholischen Kreisen gesorgt und ihre Grundauffassungen eingebracht, vor allem in Schul- und Religionsfragen, aber auch hinsichtlich des Umganges mit nationalen Minderheiten. Die Anwendung von Gewalt gegen die nationalsozialistischen Machthaber war nicht Thema der Beratungen, ja sogar – insbesondere von Helmuth von Moltke aus religiösen Gründen – abgelehnt. Nach dessen Verhaftung 1943, als der Kreis nurmehr in kleineren Gruppierungen zusammenkam, wurde dies anders, und unter dem Einfluss Stauffenbergs wurde von einigen auch das Attentat ins Auge gefasst. So wurde Paulus van Husen zwar nicht Mittäter, aber doch Mitwisser. Als solcher blieb er nach dem 20. Juli 1944 dank des Schweigens der anderen zunächst unentdeckt, wurde aber dann im Oktober 1944 doch verhaftet. Nach seinem Teilgeständnis wurde der Fall verschleppt, die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof mit der Verurteilung zu drei Jahren Zuchthaus fand in dessen letzter Sitzung am 19. April 1945 statt. Nach bangen Tagen, in denen noch viele Gegner umgebracht worden sind, kam am 25. April 1945 der Einmarsch der russischen Truppen mit allen bekannten Begleitumständen und Folgen. Diesen Zeitabschnitt hat Paulus van Husen trotz „Angst und Leid und so viel bitterem Tod“ als „die hohe Zeit meines Lebens“ bezeichnet (S. 385). - Der dritte Zeitabschnitt beginnt 1949 mit der Rückkehr nach Münster als Präsident des dort neu errichteten Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofes für das neue Land Nordrhein-Westfalen; er verdankte dieses Amt weniger seiner Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten oder gar der kaum noch bekannten Mitwirkung im Kreisauer Kreis, sondern dem politischen Einfluss der neuen Zentrumspartei gegenüber seiner neuen Partei, der Christlich Demokratischen Union. Deren Exponenten gegenüber, den Ministerpräsidenten Arnold und Meyers, hat er nachdrücklich – wenn auch meist ohne Erfolg – die Eigenständigkeit der Verwaltungs- und Verfassungsrechtspflege (die er einmal – 1952 - als ihre  „Entfesselung“ bezeichnete) gegenüber der Exekutive verfochten. Wesentlichen das neue Recht gestaltenden Einfluss hat er auf die Verfassung des Landes, das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof und auf die Verwaltungsgerichtsordnung des Bundes genommen. Die verschiedenen Angebote an ihn – als „Staatssekretär in der Bundeskanzlei“ unter Konrad Adenauer mit Blick auf das Auswärtige Amt, als Richter bzw. als Präsident des Bundesverfassungsgerichts, als Richter am Europäischen Gerichtshof – hat er entweder abgelehnt oder sie haben sich im politischen Feld zerschlagen. So ist er 1959 „körperlich und geistig noch voll leistungsfähig“ (S. 572) in den Ruhestand gegangen, den er als „Überführung in den Vorraum des Friedhofs und eine Beeinträchtigung der verbliebenen Lebenskraft“ (S. 572) empfunden hat.

 

Das umfangreiche Buch, in dem sich auch immer wieder eingestreute Altersweisheiten und berufliche Grunderfahrungen finden, gewährt tiefgreifende Einblicke in die verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereiche Paulus van Husens, der ein genauer und scharfer Beobachter ist, und damit in seine Lebenszeiten. Dabei tritt er selbst aber immer wieder zurück hinter der Sache, um die es ihm geht. Wer sich mit diesen Zeiten beschäftigt, wird von den Darstellungen einen Gewinn haben (auch dort, wo man den Beurteilungen des Verfassers nicht folgen kann) und die Lebensleistung dieses Mannes zu schätzen wissen, die er selbst aber stets auf Gott zurückgeführt hat. Dafür gebührt ihm Respekt.

 

Bremen                                                                                              Gerold Neusser