Pätzold, Julia, Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung: Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte in Kursachsen im 16. Jahrhundert (= Schriften zur Rechtsgeschichte 143). Duncker & Humblot, Berlin 2009. 1084 S., Taf., Kart. Abb. Besprochen von Marek Wejwoda.
Die Rezeption des gelehrten römisch-kanonischen Rechts im nordalpinen Bereich stellt an der Schwelle zur frühen Neuzeit den wohl wichtigsten Umbruch in der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt dar. Sie führte nicht nur zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Rechts, sondern strahlte auch weit in fast alle anderen gesellschaftlichen Bereiche aus. Aus diesem Grund ist die Rezeption nicht nur ein klassisches und oft behandeltes Thema der Rechtsgeschichte, sondern – in zunehmendem Maße – auch benachbarter historischer Disziplinen und Forschungsrichtungen, etwa der Verfassungs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Zwar ist die Literatur zu diesem Phänomen kaum noch überschaubar. Dennoch sind keineswegs alle Fragen geklärt. Insbesondere Einzelstudien, die unter Erschließung neuer Quellenbestände und mit lokalem oder regionalem Zugriff die tatsächlichen Formen des Eindringens des gelehrten Rechts und die Umgestaltung der überkommenen Rechtsordnung fokussieren – die Rezeption in statu nascendi gewissermaßen –, sind vielerorts durchaus noch ein Desiderat.
Die 2008 von der Leipziger Juristenfakultät angenommene und mit dem Preis der Dr.-Feldbausch-Stiftung ausgezeichnete Dissertation Julia Pätzolds ermöglicht nun neue Einblicke in den konkreten Vollzug des Rezeptionsprozesses in Kursachsen, und zwar vor allem mit der hier vorgelegten Edition einer in dieser Form wohl einzigartigen, jedenfalls sonst bisher nicht bekannt gewordenen Quelle. Es handelt sich um eine „Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung“ – wie sie Pätzold nennt – in der Handschrift M II 53 des Stiftskapitels St. Petri zu Bautzen, die nicht weniger als 1349 Stücke sehr verschiedenen Umfangs enthält, sämtlich aus dem 16. Jahrhundert (1509-1598), schwerpunktmäßig jedoch aus den Jahren 1545-1556 stammend. Davon entfallen 1238 Sentenzen auf die Leipziger Schöffen. Daneben finden sich jedoch auch Sprüche aus Magdeburg, Dohna und Halle, der Oberhofgerichte zu Leipzig und Wittenberg sowie etwa 70 Privatkonsilien rechtsgelehrter Leipziger Schöffen, ganz überwiegend – dies ist bereits ein Ergebnis der Untersuchung – aus der Feder des bekannten Ordinarius Ludwig Fachs (gest. 1554). Fachs selbst dürfte die Sammlung auch angelegt haben. Nach seinem Tod wurde sie offenkundig von anderen Leipziger Schöffen fortgesetzt, bis sie um 1600 die überlieferte Gestalt angenommen hatte.
Nun sind Sammlungen von Sprüchen der großen sächsischen Schöffenstühle (vor allem Magdeburg und Leipzig) in Spätmittelalter und beginnender früher Neuzeit keineswegs eine Rarität – man denkt etwa sofort an die von Guido Kisch aus einer Dresdner Handschrift edierte „Leipziger Schöffenspruchsammlung“, in der um 1523/1524 vornehmlich Leipziger und Magdeburger Sprüche vor allem des 15. Jahrhunderts kompiliert wurden. Die Besonderheit der von Pätzold publizierten Sammlung besteht aber darin, dass sie nicht – wie sonst – durchweg unbegründete Sprüche vereint. In der Bautzner Handschrift sind die Sentenzen der Leipziger Schöffen stattdessen zumeist mit einer mehr oder weniger ausführlichen, zumeist lateinischen Darlegung der Urteilsgründe versehen, wobei als Referenz Quellen und Literatur des römisch-kanonischen Jus commune, aber auch das gemeine Sachsenrecht herangezogen werden.
Die „Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung“ markiert damit eine fundamentale Akzentverschiebung gegenüber den „klassischen“ Schöffenspruchsammlungen: Sie ist bereits Ausdruck des Strukturwandels der Schöffenstühle, die traditionell mit ungelehrten, als „rechtskundig“ geltenden Honoratioren besetzt waren, in denen die Rechtsfindung unter den Bedingungen der Rezeption aber zunehmend – wie in Leipzig – an studierte Doctores juris überging. Wo dies – wie in Magdeburg – nicht geschah, verloren die Schöffen allmählich, aber dauerhaft ihre frühere Geltung.
Gleichzeitig enthüllt die „Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung“ schon in der bloßen Tatsache der rechtlichen Begründung der Sprüche auch eine grundsätzliche Veränderung im Rechtsverständnis: Es ist offenkundig, dass das hier gefundene Recht nicht mehr – als ungewisses „Orakel“[1], das keiner Rechtfertigung bedarf – vorrangig aus der persönlichen Autorität der Schöffen erwächst. Es erhält seine Geltung stattdessen aus der „ratio decidendi“, die man daher wenigstens für den eigenen Gebrauch schriftlich festzuhalten bestrebt ist, aus dem argumentativen Rückbezug auf geschriebenes Recht, und zwar sowohl auf Jus commune, als auch auf gemeines Sachsenrecht. Noch ohne Entscheidungen und Argumentationen im Einzelnen anzusehen, zeigt sich damit bereits, dass die Sammlung der Bautzner Handschrift ein einzigartiges und bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse des einflussreichen Leipziger Schöffenstuhls und auf die Eigenheiten und Fortschritte der Rezeption im Bereich des sächsischen Rechts im 16. Jahrhundert wirft.
Die Edition dieser wichtigen Bautzner Handschrift stellt dem Umfang nach den Hauptteil des Buches dar (Teil 2, S. 101-867). Julia Pätzold bietet hier eine einfache Transkription als Lesetext unter Auflösung der Allegationen, verzichtet aber weitestgehend auf einen Sachkommentar, was angesichts des Umfangs des Materials nachvollziehbar ist. Erschlossen wird die Edition durch die registerartigen „Anhänge“ (S. 871-1063), welche die Sprüche und Konsilien nach Spruchbehörden, erwähnten Personen und Orten, den verwendeten Rechtsquellen, Abfassungsdatum und beteiligten Schöffen verzeichnen.
Den reichen Inhalt der Schöffenspruchsammlung nutzt Pätzold dann, um in dem vorangestellten Teil 1 ihrer Arbeit „Die Tätigkeit Leipziger Professoren am Schöppenstuhl Leipzig im 16. Jahrhundert“ (S. 15-100) zu beschreiben. Hier skizziert die Autorin zunächst den historischen Kontext der Bautzner Kollektion, indem sie den gegenwärtigen Forschungsstand zur Geschichte des Leipziger Schöffenstuhls bis etwa 1600 resümiert und insbesondere den Wandel vom Honoratiorengremium zum professionalisierten Juristengericht erläutert, die Entstehung des Stuhls, das allmähliche Eindringen von Doktoren der Juristenfakultät seit dem späten 15. Jahrhundert, die Neugründung als landesherrliches Dikasterium im Jahre 1574, das Verhältnis zu weiteren Recht sprechenden Institutionen sowie Ansehen und Bedeutung des Gremiums. Dabei illustrieren die bisweilen groben Züge des von ihr entworfenen Bildes vor allem die teils beträchtlichen Forschungslücken auf diesem Gebiet.
Vor diesem Hintergrund widmet sich Pätzold im Anschluss an eine knappe kodikologische Beschreibung dem Inhalt der „Leipziger gelehrten Schöffenspruchsammlung“. Die Einordnung in „bisher bekannt gewordene Sammlungen Leipziger Sprüche“ (S. 43-46)[2] unterstreicht die Sonderstellung der Bautzner Handschrift, die – wie die Autorin auf den Seiten 70-73 überzeugend herausarbeitet – offenkundig als von Ludwig Fachs angelegte und später fortgesetzte private Ausstellersammlung auf Konzepte der Leipziger Schöffen zurückgeht und daher im Unterschied zu den Spruchkopialen des Stuhls und zu dem sonst häufig anzutreffenden Trend zur Anonymisierung nicht nur die schon erwähnten Begründungen, sondern auch oft noch Datumsangaben, Personen- und Ortsnamen sowie die Namen der beteiligten Schöffen bietet. Dies ermöglicht eine Untersuchung der – bereits geschilderten – zeitlichen Zusammensetzung der Sprüche ebenso wie der räumlichen Reichweite der Spruchtätigkeit des Stuhles, die sich stark auf Kursachsen konzentriert, aber mit Anfragen etwa aus Königsberg und Krakau, Magdeburg und Mainz, Pommern und Posen, Hamburg und Hameln punktuell auch weit darüber hinaus reicht. Verschiedene Funktionen des Schöffenstuhls behandelt Pätzold knapp, indem sie die Art der Anfragen analysiert und zwischen Rechtsbelehrungen für Privatpersonen und Amtspersonen außerhalb gerichtlicher Verfahren einerseits und Anfragen in anhängigen Verfahren andererseits unterscheidet. Die in 337 Fällen anzutreffende namentliche Nennung der an der Urteilsfindung beteiligten Schöffen versucht Pätzold zu nutzen, um deren jeweilige Autorität innerhalb des Spruchgremiums zu beschreiben (dazu auch S. 1044 bis 1046), verzichtet jedoch völlig darauf, die Aussagekraft der Sammlung in dieser Hinsicht kritisch zu reflektieren – schon im Hinblick auf Vollständigkeit und zeitliche Ballungen –, so dass die Ergebnisse m. E. fragwürdig bleiben (S. 58). Den neun verschiedenen Schöffen widmet Pätzold daraufhin Kurzbiographien (S. 58-68), die im Wesentlichen den gegenwärtigen Kenntnisstand bündeln, vereinzelt aber auch neue Informationen aufgrund archivalischer Überlieferung des Leipziger Stadtarchivs bieten.
In groben Zügen umreißt Pätzold schließlich die Themenbereiche, die Gegenstand der Sprüche sind, wobei man hier freilich nur erfährt, dass die Sammlung „vor allem Privat-, Prozess-, aber auch Strafrecht“ (S. 68) enthält, wobei Erb- und Lehenrecht dominieren, während strafrechtliche Sprüche selten sind, was im übrigen angesichts der starken zeitlichen Konzentration vor der funktionsverändernden Neugründung von 1574 keineswegs „verwundert“ (S. 68), denn nur fünf von 530 datierten Sprüchen sind 1574 oder später entstanden (vgl. S. 1041).
Etwas ausführlicher widmet sich Pätzold abschließend den 2780 von ihr erfassten Allegationen von Quellen und Literatur des Jus commune und des gemeinen Sachsenrechts in den Sprüchen der Sammlung (S. 74-85; Übersicht S. 85-100; Register der einzelnen Quellenstellen S. 965-1031). Das wesentlichste Ergebnis ist hier, dass zur Begründung zumeist das Jus commune (88 %) und hier vor allem das römische Recht, weit seltener jedoch sächsisches Recht und Reichsgesetzgebung (12 %) herangezogen werden, was Pätzold als zeittypische Erscheinung und unausweichliche Folge der juristischen Professionalisierung des Schöffenstuhls interpretiert. Auffällig ist dabei der an einzelnen Beispielen gewonnene und im Anschluss an einschlägige Beobachtungen Friedrich Ebels formulierte Befund, dass die rechtsgelehrten Leipziger Schöffen nicht nur gegenüber dem geschriebenen gemeinen Sachsenrecht, sondern auch gegenüber lokalen Statuten und Gewohnheiten ein vergleichsweise tolerantes Verhältnis hatten und sie unter dem üblichen Beweisvorbehalt gelten ließen – eine Haltung, die sich übrigens bereits in der praktischen Arbeit des berühmten Leipziger Ordinarius Dietrich von Bocksdorf in der Mitte des 15. Jahrhunderts erkennen lässt.[3]
Zwar wird man abschließend sagen müssen, dass der Auswertungsteil von Pätzolds Arbeit dem selbsterhobenen Anspruch, neben der Edition auch eine „Untersuchung“ der Tätigkeit von Doctores juris im Leipziger Schöffenstuhl zu bieten (S. 16), nicht völlig gerecht wird. Über erste, fast ausschließlich quantitativ-statistische Befunde kommt die Autorin hier nicht wesentlich hinaus. Die Gelegenheit, die äußere Geschichte des Strukturwandels des Leipziger Schöffenstuhls durch eine qualitativ-inhaltliche Untersuchung der Spruchtätigkeit unter dem Vorzeichen der Rezeption zu vervollständigen, bleibt auf diese Weise ungenutzt. Wie sich das Eindringen des gelehrten Jus commune konkret ausgewirkt hat, inwieweit beispielsweise die Rezeption von Grundsätzen und Begriffen römischen Rechts das traditionelle sächsische Recht tatsächlich veränderte, lässt sich nur aufgrund der Auszählung von Allegationen nicht wirklich nachvollziehen. Gerade auf diesem Gebiet bleibt für die Rechtsgeschichte noch einiges zu tun. Für eine Arbeit, die mit großer Sorgfalt die quellenkritische Bewertung, inhaltliche Erschließung und Edition umfangreichen und auch – wie man hervorheben muss – paläographisch schwierigen Materials leistet, ist dies jedoch kein Manko. Die angedeuteten Leerstellen des dicken Buches weisen im Gegenteil vor allem mit Nachdruck auf die sich hier ergebenden Perspektiven für qualitativ angelegte Studien zum Rezeptionsprozess hin. Für solche Arbeiten hat Julia Pätzold mit der Publikation eines einzigartigen Quellenfundus wertvolle Grundlagen gelegt.
Leipzig Marek Wejwoda
[1] Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. neubearb. Auflage Göttingen 1967, S. 114.
[2] Falsch ist allerdings die Angabe, die Pössnecker Schöffenspruchsammlung sei seit dem 2. Weltkrieg verschwunden (S. 44), vgl. dazu Gerhard Buchdas Bemerkung in: Ders., Die Schöffenspruchsammlung der Stadt Pössneck. Teil III: Die Bedeutung der Sammlung für die allgemeine Rechtsgeschichte, Weimar 1962, S. VIII. Unzutreffend ist auch, dass für diese Sammlung „nur eine indirekte Zeitbestimmung möglich“ sei, wie Pätzold ebd. meint: Sie weist stattdessen das präzise Datum 1474 auf (vgl. dazu: Reinhard Grosch / Karl Theodor Lauter / Willy Flach, Die Schöffenspruchsammlung der Stadt Pössneck. Teil I: Der Text der Sammlung, Weimar 1957, S. XI.
[3] Vgl. dazu künftig die Leipziger historische Dissertation des Rezensenten.