Padoa Schioppa, Antonio, Storia del diritto in Europa. Dal medioevo all’ età contemporanea. Il Mulino, Bologna 2007.780 S. Besprochen von Knut Wolfgang Nörr.

 

Es ist dem Rezensenten anzulasten, dass erst jetzt das Buch Padoa Schioppas in dieser Zeitschrift vorgestellt wird. Aber der Schaden ist nicht groß, handelt es sich doch nicht um ein ephemeres, den Ereignissen des Tages gewidmetes oder sich den Modeströmungen unserer Zeit aussetzendes Werk: um ein Werk vielmehr, das manches Jahrzehnt, manche Generation überdauern und zu den Marksteinen einer bleibenden europäischen Rechtskultur selbst gehören wird.

 

Vier oder fünf Jahre vor der Publikation des vorzustellenden Buchs hatte Padoa Schioppa mehrere Abhandlungen aus seiner Feder zu einem Band mit dem Titel “Italia ed Europa nella storia del diritto” vereinigt. Der Titel war vermutlich von dem an erster Stelle des Sammelbands abgedruckten Aufsatz “Una identità problematica” angeregt, der sich mit der Frage nach der italianità des italienischen Rechtssystems beschäftigte. In der Antwort auf diese Frage wurden zunächst die großen Perioden der Rechtsentwicklung auf der Peninsula unterschieden, um dann unter vielem anderen das ius commune oder ius utrumque als wahrhaft europäisches Phänomen herauszustellen unbeschadet der zahlreichen Besonderheiten, die in der Rechtsentwicklung in Italien festzustellen sind. Folgt man dieser Beobachtung, der Vergleichbares für die Neuzeit zur Seite gestellt wurde, so können wir ein ius municipale und (um einen modernen Ausdruck wenn auch in anderer Bedeutung zu verwenden) ein ius Europaeum unterscheiden, haben aber zugleich beides aufeinander zu beziehen; beides hat sich im Laufe der Jahrhunderte auf vielfache Weise ineinander verwoben. Diese Sicht der Dinge, so kann man ergänzen, gilt natürlich nicht nur für Italien, sondern auch für die Rechtsentwicklung in anderen Ländern des europäischen Kontinents (für Frankreich beispielsweise vorbildlich bestätigt durch Yves Mausen in seinem Buch über den Zeugenbeweis), ja sogar, in freilich weit geringerem Umfang, für England. Wer also eine deutsche oder französische oder spanische oder sonstige „nationale“ Rechtsgeschichte zu verfassen sich anschickt, ist gut beraten, nach dem Muster Padoa Schioppas die Konjunktion „und“ zu verwenden und so die nationalen mit den europäischen Entwicklungen zu verknüpfen.

 

Den Sammelband von 2003 kann man als eine Art Vorboten des nun zu betrachtenden Buchs – mit seiner sechsfachen Periodisierung von der Spätantike bis zum 20. Jahrhundert – bezeichnen. Wiederum wird unser Blick auf den Titel gelenkt: “Storia del diritto in Europa”. Dieses Mal geht es nicht um eine Konjunktion, sondern um eine Präposition, die Präposition „in“: Wenn wir uns nicht irren, so kann auf vierfache Weise die Wendung „in Europa“ verstanden, können vier Varianten unterschieden werden, die sämtlich in unserem Buch auftreten und an den einschlägigen Stellen zur Sprache kommen. Diese vier Varianten überschneiden sich (wie üblich bei Kategorisierungen dieser Art), doch sind sie geeignet, als ein Leitfaden durch das Dickicht der geschichtlichen Erscheinungen zu dienen.

 

Zum ersten kann mit Rechtsgeschichte in Europa eine Synopse der rechtsgeschichtlichen Entwicklungen in den einzelnen Staaten und Regionen Europas gemeint sein. So finden wir in dem Buch mehrere Abschnitte über signifikante Entwicklungsphasen in Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland usw., auch England wurde nicht übergangen. Italien: Die Ära der comuni und des Statutarrechts; in der Neuzeit große Figuren wie beispielsweise Giovanni Battista De Luca; zur Periode der Aufklärung berühmte Namen wie Beccaria oder Filangieri; das 19. Jahrhundert teilte sich natürlich in einen prä- und einen postunitarischen Abschnitt. Frankreich: der grundlegende Dualismus des droit écrit im Süden und droit coutumier im Norden; der entscheidende mit der Universität von Bourges verknüpfte Beitrag zum juristischen Humanismus; dem folgend die Periode der ordonnances und arrêts; die Aufklärung, vertreten durch Montesquieu, Rousseau, Voltaire und vielen anderen; dann natürlich die Revolution von 1789 und die Ära Napoleons; im 20. Jahrhundert unter anderem der Einfluss französischer Vorstellungen auf die Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (der Beitrag anderer Mitgliedstaaten der EWG kam hier allerdings zu kurz). Würde man die Abschnitte über Italien oder Frankreich aneinanderreihen, so käme beinahe eine Rechtsgeschichte Italiens oder Frankreich “in a nutshell” zustande, und dasselbe würde für andere Länder gelten, selbst für England, zögen wir die beiden informativen Kapitel in Betracht, die diesem Land gewidmet sind.

 

Wenn wir die innereuropäischen Grenzen überschreiten, dann gelangen wir, zweitens, zu jener eindrucksvollen circulazione di consuetudini, di leggi, die uomini e di libri, wie es treffend im Buch bezeichnet wird, oder, im Zeitalter des Nationalstaats, zur gegenseitigen Beeinflussung der nationalen Rechtssysteme. Für das Mittelalter sei an das vorwiegend von Bologna ausgehende Modell der Juristenausbildung in den Formen des Mündlichen und Schriftlichen erinnert, an die Lehr- und Prüfungsmethoden, an die verschiedenen, jeweils eigenen Zwecken dienenden Literaturgattungen: das alles ist diesseits und jenseits der Berge mehr oder weniger übernommen worden. Oder denken wir an das Rüstzeug der für Handel und Gewerbe unentbehrlich gewordenen Instrumente und Institutionen, die sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich ihren Ausgang im Unternehmergeist der norditalienischen Städte genommen hatten und sich von dort über ganz Europa verbreiteten. In der Neuzeit stellen in unserem Zusammenhang das beste Beispiel einer grenzüberschreitenden Ausstrahlung wohl die französischen Verfassungen und Kodifikationen dar, allen voran der Code civil. Später haben Historische Rechtsschule, Pandektistik, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 Wirkungen ausgeübt, die sich nicht auf die deutschsprachigen Rechtssysteme beschränkten. Das Buch ist reich an Beispielen dieser Art, reich an Beweisstücken für das Geben und Nehmen zwischen den Ländern Europas.

 

Die Wendung „in Europa“ weist, drittens, auf den gemeinsamen Vorrat an Regeln und Institutionen hin, die sich im Mittelalter in Form des ius commune mit seinen legistischen und kanonistischen Zweigen herausgebildet haben unter Anwendung der überall geübten Methode des textbezogenen Interpretierens und Argumentierens, wie sie seit den Glossatoren und Dekretisten im Gleichlauf mit der scholastischen Wissenschaft entwickelt worden ist. So kamen in unserem Buch die Abschnitte il metodo didattico, il metodo scientifico, le distinzioni zustande, jeweils von aufhellenden Details und Beispielen begleitet, ein vorbildlicher Zug übrigens des ganzen Buches. In einem weiteren Sinn hat sich ein gemeinsamer Vorrat an Grundsätzen und Konzeptionen gebildet, sobald es darum ging, bestimmte politische oder soziale oder wirtschaftliche Strukturen in rechtliche Maßstäbe einzufangen, auch wenn dann die konkrete Normierung nicht in allen Einzelheiten übereinstimmte. Ein Beispiel hierfür stellt natürlich das Lehenswesen dar, geprägt von seiner Vertragsnatur, geprägt aber auch von kritischen Weichenstellungen wie die Vererblichkeit des Lehens. Ein anderes Beispiel bilden die arti oder Korporationen, die seit ihren Anfängen in den aufblühenden Städten des Mittelalters einer strengen Regulierung unterlagen, die dann über Jahrhunderte hinweg bis in das Zeitalter des Merkantilismus und mancherorts weit in das 19. Jahrhundert hinein Wirkung entfaltet hat.

 

Schließlich sind, viertens, die großen übergreifenden Stadien der Rechtsentwicklung „in Europa“ in Betracht zu ziehen. Einige Stichworte – nicht unbekannt – mögen genügen: in Spätantike und Frühmittelalter das Gewebe von Resten des römischen Erbes und den Rechtsvorstellungen der aufkommenden Nachfolgestaaten der Völkerwanderungszeit. In derselben Periode und darüber hinaus die gewissermaßen fermentierende Wirkung der Lehren der Kirche in Recht und Moral. Seit dem hohen Mittelalter die – teilweise – Verwandlung einer ländlichen auf Subsistenz beruhenden in eine städtische von Handel und Gewerbe gekennzeichnete Wirtschaftsform, woraus sich neue rechtliche Normen und Institutionen ergaben. Die Verwissenschaftlichung des Rechts und des Juristen Hand in Hand mit der Professionalisierung eines Juristenstands. Die ersten Anfänge einer Historisierung und Relativierung der „heiligen Texte“ in der Periode des juristischen Humanismus. Der Prozess der Staatsbildung mit den tragenden Säulen des Militär-, Finanz-, Religions- und, uns betreffend, des Justizwesens. Die Adoption moraltheologischer und sozialphilosophischer Lehren aus der Schule von Salamanca und der sich säkularisierenden Naturrechtsbewegung. Der umfassende Einfluss der Aufklärung mit ihrem Vertrauen in die Vernünftigkeit, aber auch Transformierbarkeit von Mensch und Gesellschaft, ein Vertrauen, das in neue corpora von Texten wie Verfassungsurkunden und Kodifikationen mündete. Die Ausdifferenzierung neuer Disziplinen etwa im Fall des Völkerrechts im Zeitalter der Religions- und Kolonialkriege oder, Jahrhunderte später, im Fall des Arbeitsrecht im Gefolge der Industrialisierung. Diese und mannigfach andere Erscheinungen haben zur unverwechselbar „europäischen“ Gestalt der nationalen Rechtssysteme, zu ihrer Identität in diesem Sinne mit beigetragen.

 

Alles, was wir erwähnt haben, und vieles mehr, ist in unserem Buch behandelt und reflektiert worden. Man wendet sich gern einem Werk zu, das die Masse der geschichtlichen Erscheinungen auf souveräne Weise beherrscht und in eine proportionierte Balance bringt; das von Erfahrung im Umgang mit den Quellen und von klugem Urteil in der Auswahl der behandelten Gegenstände Zeugnis ablegt; und das nicht zuletzt durch klare Gliederung und ebenso klaren Stil dem Leser zu einem leichten Zugang und einer angenehmen Lektüre verhilft.

 

Tübingen                                                                                  Knut Wolfgang Nörr