Oberkofler, Gerhard, Nikolaus Grass - einige wissenschaftshistorische Miniaturen aus Briefen und seine Korrespondenz mit dem Prager Juden Guido Kisch. Studien-Verlag Innsbruck 2008. 528 S., Ill. Besprochen von Wilhelm Brauneder.

 

Der Untertitel kennzeichnet die Zweiteilung des Werkes. Im ersten Teil „Wissenschaftshistorische Miniaturen in Briefen“ sind solche, auszugsweise oder nahezu zur Gänze, in eine Darstellung des Verfassers eingebunden (bis zu Seite 273), Teil II „Korrespondenz mit dem Prager Juden Guido Kisch“ (ab S. 275) besteht in einer Edition von genau zweihundert Dokumenten (ab S. 310), der Einleitendes vorangestellt ist. Die Hervorhebung Kischs als „Prager Juden“ versteht sich als eine Art Entgegensetzung zum Briefpartner Grass, den Oberkofler kurz als „Tiroler Erzkatholiken und Antisemiten“ einstuft (10).

 

Vor allem Teil I) bietet, nüchtern, aber nur ungenügend charakterisiert, rechtliche Zeitgeschichte. Die „Zeit“ dieser Geschichte ist kaum noch verklungene Gegenwart, die Personen stehen in frischer Erinnerung, viele leben noch, lebendig sind auch die Institutionen vor allem von Fakultät, Universität und Wissenschaftsakademie. So haben jüngere Leser, beispielsweise von Grass nur um ein oder zwei Generationen getrennt, das Geschilderte miterlebt, wenngleich an anderen Orten und aus anderer Perspektive und natürlich ohne Wissen um die nun zu Tage liegenden Hintergründe. „Solche Dinge sollen nur nicht der Nachwelt entgehen …“ schrieb Grass 1974 an den ihm befreundeten Schweizer Rechtshistoriker Louis Carlen (10) – das Buch liegt wohl so ganz im Interesse von Nikolaus Grass, was auch seine entsprechenden mündlichen Äußerungen, mitgeteilt oder miterlebt, stützen.

 

Trotz der zeitlichen Nähe taucht der Leser oftmals in eine nahezu fremdgewordene Welt ein. Dies trifft begreiflicherweise auf das von Kisch beschriebene Prag der Zwischenkriegszeit zu: „Eine geistig regsame Stadt“, die Tschechen „geistig und wirtschaftlich die Elite der slawischen Nation Österreichs“, „die kleine deutsche Minderheit“, die „zum großen Teil aus Juden bestand“, so wie diese „hoch kultiviert“ (301). Eher verblasst ist auch das Schüler-Lehrer-Verhältnis: Einerseits hofft man, dass jener von diesem nicht zu sehr beeinflusst sein möge (428), andererseits imponiert eine Promotion bei Heinrich Mitteis (273). Wie selbstverständlich gibt es „große Universitäten“, einer solchen zugehörig die „Wiener Juristenfakultät in ihren Ansprüchen“ (428), wozu Grass aber meint, dass jene „bisweilen ausgesprochene Mittelmäßigkeiten“ – er verschweigt den Namen nicht – „berufen“ und so scheint ihm „doch ein wenig der Glanz der ‚großen’ Universitäten eher im Verblassen zu sein“ (263). Zur verklungenen Welt zählt wohl auch die Professorensgattin. Sie ist beispielsweise „auch Dr. der Rechte“, aber „leider durch Hauswesen, Garten und musikalische Bindungen außerstande gesetzt“, dem Gatten auch nur als Schreibkraft zu helfen (58). Die von Untertitel und Inhalt verheißenen „Miniaturen“ sind teils Personen, Institutionen und Wissenschaftsfragen gewidmet, wobei, verständlich durch den sich zwischen Personen abspielenden Briefaustausch, diese dominieren. An derartigen Miniaturen gibt es, um Beispiele zu nennen, „Sympathien zum demokratisch gesinnten Rechtstheoretiker und bürgerlichen Individualisten Adolf Merkl“, „Professorenkonkurrenz mit dem Rechtshistoriker Hans Hermann Lentze vom Prämonstratenser Chorherrenstift Wilten“, „Mit dem Historikerfürsten Leo Santifaller in den Realien des Universitätslebens“, dann natürlich „Im Universitätsalltag“, „Die Akademie als Mysterium“, „Nichts als Gfrett mit Kollegen an der Universität und in der Akademie“ und dazwischen etwa „Arbeit ohne Splendor – Edition der tirolischen Weistümer“, „Studien über Nikolaus von Kues“.

 

Die besondere wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung liegt abgesehen vom Biographischen in den Berichten und Bemerkungen über Berufungsverfahren und Aufnahmepolitik der Akademie der Wissenschaften zu Wien. Wegen des dazu immer wieder Ausgeführten hätte wohl die vormärzliche Zensur Oberkoflers Buch mit jenem höchsten Zensurvermerk bedacht, der nur Wissenschaftern gegen Revers die Benützung des Buches erlaubt hätte. Die ausgebreiteten Details muss man – Gottlob von Zensur befreit – einfach selbst lesen. Klischees werden durch Fakten reichlich bedient. Eine Berufungsliste verstehe sich daher, dass der Fachordinarius „in seiner Monopolstellung nicht beeinträchtigt (werde) durch jemanden, der eine größere Forschungsleistung aufweist“ (243). Ein anderer Ordinarius wolle einen „Extraordinarius für seine Fächer“ nicht neben sich zu haben, „so lange er gesund ist“ und arbeite lieber mehr, „als wie sich dann dauernd eventuell mit so einem engsten Fachkollegen zu ärgern“ (75): Er bekam dann aber einen zweiten Ordinarius zugeteilt. Wir lesen auch davon, dass „Grass intervenierte mit kartellbrüderlichem ‚Du’ bei dem für Rechtsfakultäten zuständigen Wiener Ministerialrat“, dass er just jenen Kollegen, auf den er keine großen Stücke hielt, als „eine ausgezeichnete Lösung“ bezeichnete, dies aber im Wissen, jener werde nicht kommen (272). Grass ist, über seine Faktenmitteilungen und natürlich seine persönliche Sicht der Dinge hinaus zweierlei zugute zu halten: das Fehlen persönlicher Anwürfe und sein Bemühen um wissenschaftlich möglichst objektive Einschätzungen. Trotz seiner zum Teil neidgetränkten Konkurrenz zu dem aus Innsbruck nach Wien berufenen Hans Lentze notierte er zu dessen Tod in sein Tagebuch, er nähme „ein großes und vielseitiges Wissen mit ins Grab“ (81), was der Rezensent als Lentze-Schüler gleichfalls bedauert hat. Als höchst produktiver Wissenschafter lässt Grass übrigens generell über „Ein-Buch-Männer/Professoren“ immer wieder seinen Spott los, besonders dann, wenn sie ihm in irgendeiner Funktion vorgezogen wurden (d. ö.). In der Akademie musste Grass 1975 erleben, dass er zwar in der Philosophisch-historischen Klasse mit einer Stimme vor einem Konkurrenten zu liegen kam, aber für diesen sich die Naturwissenschafter aussprachen, obwohl er bis dahin nur ein einziges Buch geschrieben hatte (182), und Grass somit – vorerst – durchgefallen war. Doch nahm er „die Sache absolut nicht tragisch“, denn, so tröstete er sich, man sehe „wie schlecht es sogar auch auf wissenschaftspolitischem Gebiet um den Föderalismus und um die Länderrechte bestellt ist und wie sehr die Wiener alles, was ihnen nicht paßt, niederstimmen können“ (268). Zur Akademiemitgliedschaft des Rechtshistorikers Hans Thieme meinte Grass, es hätte diese „der große Bonner Rechtshistoriker (Hermann) Conrad unendlich mehr verdient“ (76), was das Fortleben von Conrads Werken heute bestätigt. Eine Parallele zu Conrad bildet beispielsweise auch Adolf Merkl, der es wenigstens zum Korrespondierenden Mitglied gebracht hatte, wenngleich nicht zum Ordentlichen, was Grass, zurecht, gerade angesichts von Akademiemitgliedern des Öffentlichen Rechts bedauerte (z. B. 57). Dass man Merkl seine NS-Gegnerschaft in diesem Zusammenhang „sehr übel“ genommen habe, ist aber doch wohl eher fraglich wie auch ähnliche an die Adresse der Akademie zu Wien gerichteten Vermutungen (z. B. 255). Bei manchen Äußerungen drängt sich übrigens der Verdacht eines gewissen Fachprovinzialismus auf, beispielsweise im Lob, ein Kollege sei „Spezialist für bairisch-österreichische Rechtsgeschichte und vor allem auch mit der Rechtsgeschichte von Tirol und Vorarlberg vertraut“ (273).

 

Neben den vielen staunenswerten Mitteilungen wird man auch belustigt. Dies etwa mit dem Grass aus der Wiener Juristenfakultät hinterbrachten Argument, man habe ihn bei der Nachfolge nach Lentze nicht auf die Dreierliste gesetzt, da man sich „einfach nicht entschließen (konnte), in Innsbruck eine Lücke aufzureißen“ (86), oder bei der Ablehnung Tiroler Auszeichnungen für Grass mit dem Argument, „es sei nur die Wahl in die Akademie eine für (Grass) geeignete Auszeichnung“ (240). Aber es gibt einfach auch nüchterne Einsichten in den Wissenschaftsbetrieb wie etwa zum sorgfältigen Zusammenstellen einer Festschrift (74) oder die Warnung davor, dass „Rechtshistoriker selbst“ ihr Fach „teilweise lediglich als einen Bestandteil der Geschichtswissenschaft ansehen würden“, obwohl bei der Prüfung doch die Beurteilung wichtig sei, „in wieweit die Kandidaten juristisch denken können“ (73).

 

Eine Ergänzung zum angezeigten Werk bietet Oberkofler übrigens in seinem Beitrag „Begegnungen zwischen Hans Lentze und Nikolaus Grass. Notizen zur Kommunikation in der österreichischen Rechtswissenschaft nach 1945“ (in: G. Kohl - Ch. Neschwara - Th. Simon, Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag, Wien 2008).

 

Oberkofler hat nicht nur ein mutiges Buch vorgelegt, weil es frei ist von Schönfärbereien, sondern hat mit Grass einen gleichfalls mutigen und jedenfalls kritischen Beobachter der Wissenschaftsszene zu Wort kommen lassen, was alles von hohem Nutzen für den Wissenschaftsbetrieb und die Wissenschaftsgeschichte ist. Der schlichte Buchtitel „Nikolaus Grass“ rechtfertigt sich so in schöner Weise damit, dass ein kritischer Betrachter der Wissenschaftsszene sein Publikum erhält.

 

Wien                                                                          Wilhelm Brauneder