Nolte, Hans-Heinrich, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Böhlau, Wien 2009. 444 S., Ill., graph. Darst. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Je geringer die zeitliche Distanz eines Forschers zu seinem Forschungsgegenstand ist, desto schwieriger ist naturgemäß auch die verlässliche Einschätzung der beobachteten Phänomene und Interdependenzen. Wer sich – wie Hans-Heinrich Nolte - an einer Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts versucht und diese bis in die jüngste Gegenwart fortschreibt, ist mit dieser methodischen Herausforderung in besonderem Ausmaß konfrontiert.

 

Der Ansatz, den der in Hannover wirkende Emeritus für osteuropäische Geschichte wählt, ist zudem ein universalhistorischer. Seit den 1990er-Jahren bemüht sich Nolte zäh und mit wechselndem Erfolg, diese in den Vereinigten Staaten von Amerika früh entwickelte und dort gut etablierte Forschungsrichtung auch auf deutschem Boden zu institutionalisieren; als Herausgeber der „Zeitschrift für Weltgeschichte“ (ZWG) verleiht er seinem Anliegen auch publizistisch Gewicht. Die Grundidee ist, den lange dominierenden, aber überlebten Eurozentrismus zu überwinden und durch eine multifokale Geschichtswissenschaft mit globaler Perspektive zu ersetzen.

 

In logischer Konsequenz lautet der erste Satz des Vorwortes: „Die hier vorgelegte Weltgeschichte geht davon aus, dass Europa als eine der Provinzen der Welt gesehen werden sollte“ (S. 9), was erfordere, auch „nichteuropäische Menschen im Rahmen ihrer Religionen, Kulturen, Techniken, Staaten und nichtstaatlichen Organisationen als Akteure in eigenen Kontexten darzustellen“.  Alle Großregionen seien im 19. und 20. Jahrhundert aber „von der Zugehörigkeit zum Weltsystem geprägt“, die „in der Regel durch Eroberung“ hergestellt worden sei; aus Interaktionen und Widersprüchen gingen entsprechende Spannungen hervor (S. 14).

 

Das Konzept des Weltsystems, das der Autor von Immanuel Wallerstein (1974) übernommen hat, teilt die globalisierte Welt räumlich in vier Großregionen ein, die als Zentrum, Halbperipherie (ökonomisch von Kapital aus dem Zentrum erschlossen, politisch unabhängig), Peripherie (ökonomisch und politisch abhängig) und Außenwelt bezeichnet werden und die sich nach den inneren Merkmalen Konkurrenz, Kompetenzakkumulation, Expansion und Hierarchie differenzieren.

 

Beeindruckend ist die Fülle der Themen, die in 24 Kapiteln auf der Basis dieses Modells expliziert werden: Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems; Ende der Expansionen und Verlust des Gleichgewichts; Nationsbildungen und Unionen; Fundamentalistische Angriffe; Sozialismusversuche; Globale Nation und Kalter Krieg; Neue Weltordnung?; Der Wiederaufstieg Süd- und Ostasiens; Islam, Afrika und Lateinamerika; Uniformierung und Differenz: Unsichere Identitäten; Beschleunigung und technischer Wandel; Vorangehende und nachholende Industrialisierungen; Vermehrung weltweiter Arbeitsteilung; Wohlstand für alle? Das Weltsystem; Ende der Ressourcen und Umweltkrise; Gewalt und Gewaltlosigkeit; Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus; Exklusionen und Genozide; Migrationen und Vertreibungen; Emanzipationen und Unterdrückungen; Bürokratisierung und Bewegungen. Demokratisierung der Welt?; Freiheit und Zwang; Moral und Religionen; Der Kampf um eine globale Ordnung.

 

In seinem letzten Kapitel zur Weltordnung kommt Nolte auch auf rechtliche Fragen und auf die Notwendigkeit eines übergreifenden Konsenses zu sprechen. Als „Mindestforderung der Toleranz“ schlägt er – orientiert am Westfälischen Frieden - „ein Abzugsrecht für Angehörige abweichender Moralvorstellungen“ vor, verbunden mit einer Verpflichtung anderer Staaten, solchen Menschen Asyl zu gewähren (S. 397). Er referiert kurz die Entwicklung der Menschenrechte und ortet das Problem, „dass keine Institution geschaffen wurde, um die Implementierung zu gewährleisten – ein Insasse des Bagdader Gefängnisses Abu Ghraib, der seine Menschenrechte durch Folter verletzt sieht, kann nicht an einen internationalen Gerichtshof appellieren, sondern nur an die nationalen Gerichte der USA“ (S. 392). Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich im internationalen Recht, wo die Genozidkonvention von 1948 nur mit von den Großmächten reklamierten Einschränkungen in Kraft treten konnte und die Institutionalisierung von Kriegsverbrechertribunalen überhaupt erst ein halbes Jahrhundert später langsam umgesetzt worden ist. Kritisch zu sehen seien vor allem auch die zunehmenden Interventionen, für die der Autor fordert, dass sie „angemessen nur durch die Vereinten Nationen beschlossen werden“ dürften, wobei die jetzigen Veto-Mächte auf dieses Recht verzichten müssten. Anlass des Einschreitens dürften weder entwicklungspolitische Gründe noch umstrittene Wahlen sein, sondern allein Gründe, „die durch internationales Recht definiert sind, wie der Genozidvorwurf“ (S. 396).

 

Dass derart komplexe Fragestellungen nicht auf durchschnittlich jeweils 17 Seiten erschöpfend abgehandelt, geschweige denn in verbindlicher Form befriedigend beantwortet werden können, ist dem Autor natürlich bewusst, der sich auch freimütig zu „sehr große(n) Lücken“ (S. 16) bekennt. Es ist aber Noltes unzweifelhaftes Verdienst, vielfältige Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart bemüht, daran die richtigen aktuellen Fragen geknüpft und die jeweils umfangreichen Verflechtungen und Implikationen umrissen zu haben.

 

Sein abschließendes Resümee über das 20. Jahrhundert verpackt der Autor in zwölf Thesen. Die ökonomische Weltherrschaft europäischer Mächte sei durch Autarkieversuche und innereuropäische Kriege geschwunden, an der Wende zum 21. Jahrhundert hätten sich eine Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika und der Wiederaufstieg ostasiatischer Mächte etabliert. Mit dem Internet sei der Wechsel zwischen dem globalen Prozess und den einzelnen Ereignissen unmittelbar und zwingend geworden, ein neues Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem sei zu beobachten. Der Verbrauch von Natur sei - wie auch andere Prozesse - zunehmend von Beschleunigung gekennzeichnet. Eine steigende Dichte staatlichen Zugriffs sei ebenfalls zu beobachten. Während Säkularisierung und Atheismus lange prägend gewesen seien, stehe man nun vor einem Wiederaufstieg, aber auch vor einer Differenzierung von Religionen. Die Konkurrenz der Nationen sei nicht aufgehoben, sondern werde durch neue, einzubindende Nationalbewegungen vervielfältigt, das Weltsystem habe zudem durch seine ökonomischen Sachzwänge die Kluft zwischen arm und reich vergrößert. Im Jahrhundert der Genozide habe auch die Vernichtungskapazität des militärischen Potenzials erstmals die Möglichkeit der Auslöschung der gesamten Menschheit erreicht und überschritten. Eine globale demokratische Zentralgewalt fehle trotz Demokratisierungen und Emanzipationen weiterhin, die Beschleunigung der Informationen begünstige auch die Möglichkeit von Irrtümern und der Marginalisierung abweichender Ansichten. Und: Das weltweit expandierende Konkurrenzsystem habe keine allgemein verbindliche Moral, die Staaten verführen weiterhin nach egoistischer Staatsräson und nicht nach globalen Bedürfnissen.

 

Dieser Thesenkatalog, der sich wie eine Zielvorgabe an die Politik liest, zeigt, dass es dem Autor gelungen ist, die vielfältigen, schwer überschaubaren Themenfelder gut in den Griff zu bekommen und zu synchronisieren. Er sollte als Anregung und Ermutigung zu weiteren Detailforschungen verstanden werden, um die gewonnenen Erkenntnisse abzusichern und auszubauen. Zur Bewältigung der brennenden Probleme bietet der Autor auch selbst unkonventionelle visionäre Lösungen an. So plädiert er mehrfach für die weltweite Einführung des islamischen Zakat, einer Vermögensteuer von 2,5 Prozent als Abgabe der Reichen zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten (S. 259, 397 und 402).

 

Das Buch, das sich durch einen angenehm zu lesenden Stil auszeichnet und durch ein Stichwortregister gut erschlossen ist, sollte eine Pflichtlektüre für all jene sein, die gewillt sind, sich mit den Herausforderungen unserer Zeit aktiv und verstehend auseinanderzusetzen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic